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30. März 2024

Frauen, Migration, FGM

Trauma und Flucht

Viele Frauen werden zwangsverheiratet, vergewaltigt, unterdrückt, verletzt und ausgebeutet. Sie fliehen vor Krieg, Hoffnungslosigkeit und sozialer Not. Ihnen Vertrautes und Verbundenes lassen sie zurück. Nach gelungener Flucht sehnen sich dann nach Sicherheit und Stabilität. Und erleben oft Beziehungslosigkeit, Unverständnis, Fremdheit und Isolation.

Glück nach der Flucht
Glück nach der Flucht. Bild: Schneider, portraits-aus-hamburg.de

Viele Migrantinnen stehen unter Dauer-Stress, der sich körperlich auswirkt. Ein relativ gesunder Eindruck bei Routine-Untersuchungen kann täuschen.

Denn psychisches Leid wird oft nicht erkannt. Viele Migrantinnen können ihr innere Not nicht zeigen. Sie ziehen sich in einen Schutz-Kokon zurück. Sie trauen sich nicht, enge Räume zu verlassen, die sie mehr einsperren, als schützen. Ihnen fehlen Kenntnisse, das für sie Unsagbare in Worte zu übersetzen, die in einer anderen Kultur verstanden werden.

Medizinische Beratungen werden oft im Zusammenhang von Kinderwunsch, Kontrazeption, Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett aufgesucht.

Von Reproduktion unabhängige somatische Krankheitssymptome werden häufig nicht vorgebracht. Fehlnde oder ungenügende Behandlungen verschlechtern aber die bestehenden Probleme weiter und führen zu chronischem Leiden. Zum Beispiel zu medikamentösem Missbrauch (Psychopharmaka-Abhängigkeit, Antibiotika-Resistenz u.v.a.).

Besonders wichtig für die Versorgung von Menschen mit Migrations-Hintergrund ist die Qualität Kultur-sensibler Kommunikation. Sie vermittelt Sicherheit und Vertrauen. Und verhindert Re-traumatisieung.

Messbare Befunde gleichen meist den Krankheitsbildern, die auch bei deutschen Frauen auftreten können: z.B. bei Blutarmut. Unterschiedlich sind aber die psychologischen, kulturellen und sozialen Ursachen, die an der Entstehung von Blutarmut beteiligt waren. Deshalb ist ein vertrauensvoller Erstkontakt besonders wichtig. Zum Beispiel bei einer Hebammen-Begleitung. Fachärztliche Interventionen sind erst im Fall gravierender Störungen erforderlich.

Bei der Erkennung körperlicher Störungen, muss die medizinische Qualität von Diagnostik, Beratung und ggf. Behandlung eingebettet sein in eine störungsfreie, non-verbale Kommunikation, die (nicht nur auf Fachwissen, sondern auch) auf einer menschlichen Kompetenz beruht.

Die wesentlichen Zusammenhänge des Lebens der Frau, die sich auf ein im Vordergrund stehendes Problem auswirken könnten, zeigen sich erst im Rahmen einer vertrauensvollen, empathischen Beziehung.

Dagegen können Missverständnisse gut-gemeinter Interventionen psychisch-körperliche Situationen verschlimmern.

Kommunizieren ist immer möglich


Tradition und Moderne. Bild: www.portraits-aus-hamburg.de

Kontaktaufnahme, Empathie, Beziehung, Verbindung, Verstehen und Vertrauen erfordern keine Sprachkenntnisse.

Unter biologischen Gesichtspunkten gleichen sich alle Menschen. Die körperlichen Unterschiede sind gering. Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett oder Krankheiten verlaufen bei Menschen nach gleichen Prinzipien.

Patientinnen anderer Kulturen können deshalb auch dann kompetent betreut werden, wenn Sprachkenntnisse fehlen.

Weit über neunzig Prozent des Informationsaustausches jeder direkten Kommunikation wird non-verbal vermittelt: unter vielem anderen durch Körperhaltung, Gestik, Mimik, kommunizierende Hände, Berührung und schließlich auch durch die Melodie, den Rhythmus und den Tonfall der Sprache.

Wichtig ist die Wahrnehmung kultureller Unterschiede. Es reicht nicht aus, sich über kulturell erworbene Sprachen (oder eine Übersetzer-App) verständigen zu können. Bedeutsamer sind

  • die Art des empathischen Erstkontaktes (der unbewusst gespiegelt und eingeprägt wird) und
  • der sich auf dieser Basis langsam und ruhig stabilisierenden Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung.

Emotional sprechen Menschen eindeutig: Gesten-reich, Körper-bewegt und klarer Mimik und Stimmklang. Ganz im Gegensatz zu Worten und Begriffen, die oft Quellen von Missverständnissen sind.

Eine fruchtbare Kommunikation beruht auf einer aufmerksamen, wohlmeinenden, respektvollen, interessierten Grundhaltung: Auf einer Einstellung zu einem Gegenüber, die Sicherheit und Verbundenheit vermittelt.

Mehr

Skript 2019

Grundrecht Unversehrtheit für alle Menschen

Weibliche Beschneidung (FGC), Verstümmelung (FGC) oder kosmetische Verschönerung (FGCS)?

Versorgung bei FGM

In Deutschland fehlen weiterhin Beratungsangebote für Migrantinnen, die genitale Traumatisierungen, Gewalt und Verstümmelungen erlitten. (Fritschen 2020) Die Rechts-Situation ist bzgl. des Rechtes auf Unversehrtheit nach §2.2. GG nicht eindeutig. Der vom BMFSJ am 05.02.2021 vorgestellte Schutzbrief gegen Genitalverstümmelung ist eine (wichtige) symbolische Verbesserung.

Genitalverstümmelungen sind in Deutschland nicht meldepflichtig.

Es ist unbekannt, wie viele Frauen in Deutschland von genitalen Verstümmelungen (FGM) betroffen sind. Nach einer Untersuchung sollen „in Deutschland knapp 50.000 Frauen leben, die Opfer einer Genitalverstümmelung geworden sind. Nach Schätzungen sind zwischen 1.500 und 5.700 Mädchen, die in Deutschland leben, davon bedroht.“ (BMFSFJ 2017). Durch die Zuwanderung sei die Zahl der Mädchen und Frauen aus Ländern, in denen Genitalverstümmelung weitverbreitet ist, von Ende 2014 bis Mitte 2016 um 40 Prozent gestiegen. Die Zahl der Betroffenen in Deutschland habe sich seit 2014 um rund 30 Prozent erhöht.

In England müssen Behandlungen, die auf einen Straftatbestand zurückgeführt werden, gemeldet werden. Dazu zählt FGM. Etwa 60.000 Frauen seien davon betroffen. Zwischen 2017 und 2018 seien 5.000 neue Fälle registriert worden. Mindestens 83 % FGM seien vor der Einreise erfolgt. Wie viele Mädchen in England verstümmelt werden, wisse man nicht (Creighton 2019).

Möglichkeiten operativer Rekonstruktion 

Frauen, die genital verletzt wurden, fällt es schwer, sich zu öffnen. Bei niedergelassenen Ärzt:innen können Sie ihre Sorgen häufig nicht thematisieren, weil diesen nicht nur Kultur-Sensibilität und Sprachkenntnisse fehlen, sondern oft auch Interesse, Empathie, Zeit und auch anatomische Kenntnisse.

Selbstbewusst
Selbstbewusstes Mädchen in Tansania 1981 (Bild: Jäger)

Im Prinzip kann bei jeder Frau, die genitale Verletzungen erfahren hat, unabhängig vom Schweregrad ein Rekonstruktions-Eingriff der Klitoris durchgeführt werden, falls sie das wünschen sollte. Bei traditionellen Verstümmelungen (FGM) oder bei Vergewaltigungs-Verletzungen als Kriegsfolge wird das Organ der Klitoris zwar oft schwer beschädigt, aber (sofern sie die Aggression überlebt hat) nicht entfernt. Andernfalls wäre sie verblutet. Folglich verfügt jede lebende Frau nach FGM über ein Klitoris-Restorgan, dessen Funktion durch eine Operation verbessert werden kann.

Die ersten Techniken der Klitoris-Rekonstruktion wurden von Dr. Foldès (s.u.) eingeführt, und hat vermutlich bisher die meisten Patientinnen operiert. Seine relative einfache Methode ist standardisiert und kann (nach einem Training in plastischer Chirurgie), auch in Ländern mit eingeschränkten Medizin-Niveaus durchgeführt werden, u.a. in West-Afrika, wo Fòldes ausbildet. In diesen Ländern sind auch genitale Fisteln nach Geburtsverletzungen häufig. Dr. Denis Mukwede (Friedensnobelpreisträger 2018) operiert nach technisch relativ einfachen Methoden, die am Addis Ababa Fistula Hospital entwickelt wurden.

Versorgungsmöglichkeiten in Deutschland

Die Kompetenz einer kultur- und sprachkompetenten Beratung vor einem Eingriff ist immer wichtiger als der Eingriff selbst. Medizinische Eingriffe können auch neues Trauma setzen kann oder zu Verschlimmbesserungen (Missempfindungen) führen. Die Betroffenen müssen über Vor- und Nachteile aller verfügbaren Möglichkeiten sach- und kultur-kompetent aufgeklärt werden, und in der Lage sein eine eigene selbstbestimmte Entscheidung zu treffen. Neutrale Patientenberatungen müssen begründen können, warum Empfehlungen ausgesprochen wurden und welche Alternativen sich dazu anbieten:.

  • Nicht-operieren.
    Weil die Frau nach guter Aufklärung über möglichen Nutzen und Risiken auf den Eingriff verzichtet.
  • Eröffnung der Scheide (sogenannte De-Infundibulation, Gültekin 2016).
    Viele von FGM betroffene Frauen wünschen keine Klitoris-Rekonstruktion zur Verbesserung des sexuellen Empfindens. Ihnen genügt Schmerzfreiheit beim Sex, die Möglichkeiten schwanger zu werden und ohne Kaiserschnitt zu gebären. Der relativ einfache Eingriff der De-Infundibulation kann im Prinzip (nach einer Ausbildung an einem Referenz-Zentrum) in jeder gynäkologischen Abteilung durchgeführt werden. Dabei darf kein Narbengewebe oberhalb des Klitorisstumpfes entfernt werden, da dies spätere Rekonstruktions-Eingriffe erschweren würde.
  • Klitoris-Rekonstruktion
    durch plastische Chirurgie, ggf. ergänzt durch Schwenklappenplastik zur Rekonstruktion von Weichteilen. (Sigurjonsson 2018, O’Dey 2017, von Fritschen 2019)

Die Ergebnisse systematischer Langzeitbeobachtungen zur allgemeinen und sexuellen Zufriedenheit nach einfachen und aufwendigen Rekonstruktions-Operation sind bisher bisher nicht eindeutig. (Berg 2017, Abdelcaire 2015) Sicher ist: „Women’s sexual function is multifactorial and depends on more than the genitals.“ (Abdulcadir 2015)

Leitlinie für rekonstruktive und kosmetische Eingriffe am weiblichen Genitale

Gemäß der Leitlinie AWMF 009-019 seien kosmetische, nicht medizinisch begründbare Eingriffe am Genitale von Kindern gerechtfertigt, wenn diese (von wem auch immer ausgelöstem) großem Leidensdruck stünden. Eingangs wird erwähnt, dass es sich bei „Kosmetischer Genitalchirurgie FGCS“ um ein wachsendes Geschäftsfeld handele.

Kosmetische Eingriffe am Genitale (female genital cosmetic surgery, FGCS), unterscheiden sich nicht grundsätzlich von Genitalverstümmelung (female genital mutilation, FGM) wenn sie bei nicht einwilligungsfähigen Personen durchgeführt werden. (Shahvisi A: Clinical Ethics 2017, 12(2)102-108). Im Leitlinien-Text fehlt der Hinweis auf Minderjährige, bei denen kosmetische Eingriffe (FGCS) medizinisch nicht indiziert wären. Stattdessen wird angedeutet, dass Mädchen unter einem erhöhten psychischen Leidensdruck stehen könnten. Daher könne ggf. „FGCS medizinisch indiziert“ sein. Bereits im 19 Jh. wurden Genital-Eingriffe aus „psychiatrischen Gründen“ vorgenommen. (Hulverscheid, Weibliche Genitalverstümmelung Mabuse 2000)

In den letzten Jahrzehnten stieg die Nachfrage nach Genital-Eingriffen im Rahmen von Störungen der geschlechtlichen Identitätsfindung in der Pubertät („Gender-Dysphorie“). Ein psychologisches, kulturelles und gesellschaftliches Phänomen, das wachsende Möglichkeiten für die Vermarktung (nebenwirkungsreicher) pharmakologischer und chirurgischer Interventionen bietet. (Lenzen-Schulte, DÄB, 02.12.2022)

FGM und Asylträge

Selbstbewusst
Selbstbewusstes Mädchen in Tansania 1981 (Bild: Jäger)

Nach der Asylaufnahmerichtlinie gelten Opfer genitaler Verstümmelungen oder Traumatisierungen als besonders schutzbedürftig. Der Staat ist auf der Basis des Grundgesetzes verpflichtet, Menschen die in Deutschland leben, eine angemessene Basisgesundheitsversorgung zu garantieren und sie vor Verstümmelung zu schützen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zwingt Frauen, die von genitalen Traumatisierungen betroffen sind, und die in Deutschland Asyl beantragen, zu rechtsmedizinischen Untersuchungen. Es solle geklärt werden, ob bei diesen Frauen eine Genitalverstümmelung (FGM) vorliege, und wenn ja welcher Grad.

Sie werden zu Frauenärzt:innen (oder in Bayern zu Rechtsmediziner:innen) geschickt, die gegen eine Gebühr ein „Gutachten“ für das BAMF erstellen sollen. Eine sachgerechte Beratung, wie diese Verletzungen versorgt und korrigiert werden könnten, erfolgt dabei nicht.

In einer Veröffentlichung von 153 Untersuchungen wurde behauptet, dass eine genitale Befunderhebung „möglicherweise“ zum Schutz von Mädchen vor Genitalverstümmelungen im Heimat beitragen könne, wenn „unverstümmelten Mädchen genau aufgrund dessen Asyl gewährt würde“ (Zinka 2018).

Dieses Argument rechtfertigt die Untersuchungen nicht. Denn zur Beurteilung, ob ein Asylgrund vorliegt oder nicht, hilft Stadien-Einteilung von Genitalbefunden (FGM 0-IV) nicht weiter:

  • Frauen, bei denen keine Vernarbungen sichtbar sind, können massive (insb. psychische) Traumatisierungen erlebt haben (Vergewaltigung, Missbrauch, Ritzungen).
  • Oder es kann ihnen eine Verstümmelung drohen (oder eine Vergewaltigung oder eine Zwangsverheiratung).
  • Und Frauen, bei denen eine genitale Verletzung stattgefunden hat, sind ggf. gefährdet, nochmals verstümmelt zu werden.

Wenn Ärzt:innen nicht zu kultursensibel-sexualkundlichen und gynäkologisch-fachlichen Beratungen in der Lage sind, werden die Frauen durch Zwangsuntersuchungen zur „Feststellung einer Genitalverstümmelung“ re-traumatisiert.

Die für die betroffenen Frauen belastende „rechtsmedizinische Untersuchungen“ ist sinnlos und sollten unterlassen werden. Stattdessen sollten die Frauen auf sachkundige und kulturkompetente Beratungsstellen, Hebammen und Praxen verwiesen werden.

Mehr

Beratungen & Hilfsangebote

Operative Versorgung in Deutschland

Literatur

FGM Daten

Recht und Ethik

Gesetze in Deutschland

Rechts-Auslegungen, Kommentare

Letzte Aktualisierung: 01.04.2024