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20. Februar 2024

Psychologische Effekte („Placebo“)

Inhalt

  • Zusammenfassung
  • Ultimativer Placebo
  • Placebos als bessere Medizin?
  • Placebo: unnötig, täuschend, gefährlich
  • Placebologie mit dem Segen der Ärztekammer
  • Systemwirkungen & Coronoia

Links

Zusammenfassung

Alle Behandlungen lösen psychische Effekte aus

Der stärkste nicht-spezifische Effekt bei Menschen: Sicherheit und Beziehung (angesichts oder nach überstandener großer Gefahr). Bild: Jäger 2017

Medizinischen Interventionen lösen im Gehirn chemische Reaktionen aus. Völlig unabhängig von der Art der Inhaltsstoffe oder der zielgenauen Eingriffe. Der Glaube, dass etwas Heilsames geschehe, beruhigt unbewusst Hirnanteile und damit indirekt auch das Immunsystem. Diese psychologischen Wirkungen medizinischer Behandlungen beruhen auf den Ritualen ihrer Anwendung. Meist werden sie als „Placebo-Effekte“ bezeichnet. Der Begriff „Placebo“ unterstellt eine Täuschung: Ein „Nichts“ wirke, weil den Patient:innen etwas vorgegaukelt wird.

Die Irreführung der Patient:innen ist aber zur Auslösung der psychologischen Wirkungen unnötig, unethisch, manipulierend und schädlich.

Es wäre wissenschaftlich genauer (statt Placebo) von System- oder Kommunikations-Effekten im Rahmen von Versorgung und Behandlung zu sprechen. (s. Lit.).

Bei Reptilien gibt es keine Kommunikations-Effekte

Krokodilen und Schlangen fehlen Hirnstrukturen, die ihnen Emotionen vermitteln könnten. Auch ausgeklügelte Rituale lösen bei ihnen keine Effekte aus.

Säugetiere besitzen ein weiter entwickeltes „Mittelhirn“, mit dem sie äußere und innere Signale „für sich“ bewerten. Sie teilen sich ihren Artgenossen mit, gehen Beziehungen ein, beruhigen sich und andere. Ihre Fähigkeit Neugeborene zu „stillen“ („bonden“) wirkt auf jede Zelle ihrer Kinder. Herzschlag und Atmung normalisieren sich. Das Immunsystem wird sinnvoll gedämpft.

Bei großer Angst kann Sicherheit vermittelt werden: im Rahmen inniger Beziehung. Das gelingt zunächst der Mutter, später anderen vertrauten Personen der Familie und später schließlich den Heiler:innen. Diese „Expert:innen für Sicherheit“ besänftigen (über die Anregung zur Ausschüttung von Mittelhirn-Hormonen) alle Körper-Funktionen. Die Betroffenen können dann drohende äußere Belastungen besser bewältigen. Ihre Zellen agieren weniger aufgeregt und arbeiten effektiver.

Ablenkung, damit „sich die Natur selbst hilft“, oder um zu betrügen

Eine Mutter, die ihr Kind tröstet, kann – zusätzlich zu Kuscheln, Einreiben und Streicheln – auch von einer Fee erzählen, die den Bauchschmerz wegzaubern werde. Dieser „Schwindel“ ist nur Beiwerk. Wichtig ist, dass das Kind die Liebe und Sorge spürt, die seine Mutter ihm entgegenbringt.

Bei Erwachsenen können Ärzt:innen später den gleichen Beruhigungs-Effekt auslösen, in dem sie vorgaukeln, eine bunte Pille werde helfen (obwohl sie tatsächlich nichts enthält). „Täuschendes“ Rezept-Verschreiben (bei dem Handelnde selbst nicht an das glauben, was sie tun) ist meist kommerziell oder paternalistisch motiviert. Trotzdem muss zur Auslösung einer Wirkung zunächst Vertrauen erzeugt werden. Schaman:innen nutzen dafür seit Jahrtausenden Werbung:

  • Reklame (PR), die ein Qualität-Image erzeugt,
  • Angst-Verstärkung und Erlösungs-Verkündung (Erzählung von „Hölle & Paradies“),
  • Bedeutungsvolle Räume („die unsichtbaren Mächten nahe sind“),
  • Ausstattungsgegenstände (Kittel, Stethoskop, Titel-Namensschild …),
  • „Magische Heilmittel“.

In unserer Kultur ist es für Erwachsene hilfreich, dass ihnen das, was sie sehen, lesen oder hören scheinbar „rational“ erscheint, als wahr-wissenschaftlich-religiös-bedeutungsvoll. In Angst vor großer Bedrohung ist rationale Informationsverarbeitung schwierig oder unmöglich.

Im Marketing werden die „emotionalen“ Mittelhirnstrukturen des Limbisches Systems angesprochen. Durch wird ein „tiefes Experten-Vertrauen“ erzeugt. Im Gehirn steigt dann die Konzentration des Belohnungs-Hormons (Dopamin) an: noch bevor das eigentliche Ritual der Produktanwendung erfolgt. Wähnen sich Patient:innen dann wieder in Sicherheit, fällt der Dopaminspiegel rasch wieder ab.


Werbung für eine Impfung, die von deutschen Krankenkassen erstattet wird. Infektionsrisiko bei Reisenden: 1:10 Mill. Die Virus-Überträger können (nachts) etwa 200 m von einem Schwein zu einem Menschen fliegen, und dort stechen, wenn sie nicht durch Moskitonetz oder Klimaanlage behindert werden. Das Risiko des Eingriffes liegt bei Reisenden deutlich höher als eine (extrem seltene) Erkrankung. Die (kommerziell motivierte) Expertenempfehlung lautet: „Für Reisende, die maximalen Schutz wünschen“. 

Nach bedeutungsvollen, „täuschenden“ Ritualen scheint dann zwar alles „wieder gut“ zu sein. Aber nur so lange , bis man sich wieder krank fühlt – oder erneut bedroht. Kommerzielle „Placebo-Anwendungen“ lösen durch Konditionierungen nur reflexhafte Signal-Reaktionsmuster aus. Betroffene Person lernen aber nichts dabei.

Beispiel im Bild rechts:

Man könnte sich auf die Kunst des Reisens vorbereiten. Oder sich stattdessen („um ganz sicherzugehen“) eine Spritze verpassen lassen, die ein sicheres Gefühl verspricht.

Menschen können lernen

Eigentlich wären Erwachsene (im Gegensatz zu Neugeborenen) in der Lage, sich selbst zu beruhigen. Erstaunlicherweise tun sie das selten, und suchen stattdessen immer wieder Ersatz-Mütter, die sie ablenken, damit sie selber heilen können. Das Immunsystem, das für Heilungsprozesse beruhigt werden muss, ist dem Bewusstsein nicht zugänglich. Aber die (innere) Entstehung einer „heilsamen“ psychologischen Einstellung wird von außen nur angestoßen. Sie kann deshalb auch von den Betroffenen selbst ausgelöst werden. Durch eigene Rituale, die (im Gegensatz zu Gedanken oder Worten) vom persönlichen Zellsystem „verstanden“ werden.

Aus Studien zum „Placebo-Effekt“ ist bekannt, dass völlig inhalts-freie Pillen auch dann (oder sogar besonders star) psychologisch wirken, wenn den Betroffenen der Effekt der Hirnchemie genau und völlig transparent erklärt wird. Und sie dann an sich selbst ein striktes Ritual durchführen („erst A&B genau so tun … und dann dreimal täglich die Pille zu exakt genauen Uhrzeiten einnehmen“). Je klarer Patient:innen, das, was sie tun als sinnvoll erscheint, desto stärker wirkt das Ritual.

Es reicht völlig, wenn („gestresste“) Patient:innen bewusst genau so handelten, „als ob“ es etwas Äußeres gäbe, das die Wirkung in sich trage. Allein die Vorstellung, dass etwas „so sei“, verändert die innere Einstellung.

Das entspricht unserer Alltagserfahrung:

Im Gartenbau oder beim Segeln erzählt man sich, dass es eine Kugel gäbe, die im Himmel im Osten auf- und im Westen unterginge. Die Sonne ist allerdings weder eine Kugel, noch geht sie irgendwohin. Für die praktische Nutzung ist es aber völlig ausreichend, zu glauben, dass es „so sei“. Auch für Physiker, die an technischen Geräten basteln, ist es manchmal nützlich, anzunehmen, das Licht bestehe aus Teilchen, und dann wiederum günstiger zu glauben, das Licht sei eine Welle. Obwohl es weder das eine noch das andere ist.

Es ist möglich, sich selbst zu beruhigen.

Erwachsen, eigenverantwortlich für sich selbst handeln zu können, erfordert etwas Geduld (mit sich selbst):

Es wäre gut, wenn die Informationsverarbeitung höherer Gehirnteile zur Ruhe kommt und verebbt.

  • Denn am besten funktioniert das Immunsystem dann, wenn man gerade nicht denkt, oder schläft.

Die Gefühle, die das Mittelhirn beherrschen, können angenommen werden und leiser klingen.

  • Denn Angst, Ärger, Ekel und Wut wären ungünstig. Besonders Todesangst lähmt das Immunssystem.

Es ist möglich, sich Zeit zu nehmen, um sich wahrzunehmen

  • Man kann selbst denken, sich fühlen, sich spüren und auf sich achten.

Dann keimt Vertrauen (zu sich selbst)

  • Man kann dann tun, was gut tut. Und lassen, was unnötig ist und schadet.

„Ultimativer Placebo“ (Beispiel Chirurgie)

„.. Das raffinierteste, schmerzhafteste, teuerste, invasivste und zeitaufwendigste aller Placebos erreicht den stärksten Effekt“, Harris 2020

Prof. Ian Harris ist leidenschaftlicher, australischer Chirurg.

Prof Ian Harris: Ein ungewöhnlicher Arzt: Er hinterfragt, was er tut. Deutsches Buch: „Schnippeln für den Profit“. Riva Verlag, 2020, Original: The ultimate Placebo, 2016, Video 11.07.2019: , Rezension: Science based Medicine: https://sciencebasedmedicine.org/ian-harris-on-surgery-the-ultimate-placebo/

Obwohl sicher kein „Chirurgie-Gegner“, bezeichnet er Chirurgie als „ultimate placebo“. Denn invasive, schmerzhaft-einprägsame „Placebos“ wirkten noch besser als bunte (inhalts-leere) Tabletten oder Kügelchen.

In späteren (oft ziemlich „beziehungslosen“) Arzt-Patient-Beziehungen ist es möglich, Patient:innen geschickt zu täuschen, und ihnen eine Wirksamkeit vorzugaukeln, die nicht existiert. Bei einem „Placebo“, der Patient:innen ablenkt oder in die Irre führen soll, wirkt also nicht etwa die (leere) „bunte Pille“, sondern das starke Gefühl, man könne vertrauen, man werde nicht betrogen, und alles werde wieder gut.

Weil diese Art von Betrug so gut wirkt, würden in England „Placebos“ von 70 % der Ärzt:innen angewendet. In Deutschland vermutlich noch deutlich häufiger.

Der „Placebo“-Wirkung liegen Konditionierungen und unbewusste Lerneffekte zugrunde. Harris beschreibt, dass diese besondere Rituale deutlich verstärkt werden können: Denn etwas, das drastisch, schmerzhaft und erschreckend erlebt wird, brennt in der Erinnerung ein.

Seiner Ansicht nach sollten nicht nur bei der Zulassung von Medikamenten, sondern auch in der Chirurgie allen Neuerungen und Verfahren durch in die Zukunft gerichtete, langfristige Studien begleitet werden.

Tatsächlich aber beruhten die meisten chirurgischen Verfahren auf einem wackeligen Drei-Bein:

  • Der Vermutung, dass es funktionieren könnte (Biologische Plausibilität)
  • Erfolgversprechenden Hinweisen aus Labor- oder Tierversuchen
  • Der persönlichen Erfahrung der Chirurg:innen (sogenannte „Eminenz“ based Medicine)

Notwendig sei eine Veränderung der ärztlichen Ethik, sowohl hinsichtlich der Forschung als auch der klinischen Praxis. Gerade in der Chirurgie, wo oft Ärzt:innen nur wenige Male eine Methode ausprobieren, um sie dann regelhaft durchzuführen.

Die Forschung müsse stringent und unabhängig erfolgen. Die ethischen Anforderungen an die klinische Praxis müssten unbedingt erhöht werden, da Kliniker keine Therapie anwenden sollten, die nicht kritisch in ihrer Praxis getestet wurde oder wird.

Das Vorsorgeprinzip („Nicht schaden“) ist vorrangig

Ein Arzt, der sage, er sei sich nicht sicher, ob eine Operation helfe, und der rate, deshalb auf sie zu verzichten, habe Anerkennung verdient.

Die aber bekommt er nicht, weil er eine empathische, „beziehungsreiche“ Medizin nicht oder kaum honoriert wird. Im Vergleich zu täuschender, betrügerischer „Placebologie“, die oft rasant zu kommerziellen Erfolgen führt.

Unter ethischen Gesichtspunkten wäre also eine „Placebo“-Chirurgie verwerflich. Aber „nicht operieren und nichts tun“, wie Harris es vorschlägt, bleibt nicht die einzige Handlungsmöglichkeit.

Stattdessen könnten Patient:innen auch unterstützend, psychosomatisch begleitet werden, damit sie selbstständiger werden, ihre Beschwerden akzeptierten, aktiver würden, eigene Heilungskräfte zu mobilisierten und sich in ihrem Leben weiter entwickelten.

Die Ansicht von Harris, dass Chirurgie immer durch „zufalls-kontrollierte, in die Zukunft gerichtete prospektiven Studien“ begleitet werden müsse, ist aber nicht alternativlos. Es wäre ebenso möglich, im Rahmen von Krankenkassen eine chirurgische Neuerung in einer bestimmten Region zuzulassen, und sie mit Patienten einer anderen Region zu vergleichen. Ein solches Studien-Design (Relton 2010) wäre wesentlich praktikabler, als zum Beispiel zur Kontrolle Schein-Operationen durchführen zu lassen.

Bessere Medizin?

„Placebos als bessere Medizin.“ Süddeutsche Zeitung. Prof. Winfried Rief. 21.08.2018

Placebos werden als Scheinmedizin in täuschender Absicht eingesetzt. Ihre Anwendung führt zu Abhängigkeit, und sie ist unnötig, unethisch und (im Falle nebenwirkungs-reicher Pseudo-Placebos oder überflüssiger Eingriffe) auch gefährlich. Ärzte sollten sich eigentlich von Intransparenz, Täuschung und Kommerz strikt distanzieren. Denn moderne und alternative Placebologie widerspricht ärztlicher Ethik gleichermaßen.

Placebo: In täuschender Absicht ausgelöster Systemeffekt

Sogenannten „Placebo-Effekten“ liegen Kommunikationswirkungen zugrunde, die Sicherheit vermitteln und in die Zukunft gerichtete Erwartungen auslösen. Säugetiere können lernen und sich so auf Belastungen anders einstellen. Die Vorstellung, dass es gut oder zumindest besser werde, begünstigt bei ihnen Heilungsprozesse. Diese intensiv untersuchten Lernvorgänge und Konditionierungen können ohne irgend eine Form der Täuschung (d.h. ohne „Placebo-Lügen“) ausgelöst werden:

Fake Drugs (Bilder: AKME 2018). Die Verbreitung gefälschter Arzneimittel gilt als kriminell. Selbst wenn die Pulver, die bestenfalls nichts enthalten, im Rahmen einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Kommunikation positive Systemwirkungen auslösen würden. Warum gilt dann die täuschende Anwendung von Placebos als legal und ethisch vertretbar?

Durch eine vertrauensvolle, empathische, offen-transparente beziehungsreiche, kompetente Arzt-Patient-Kommunikation. Je intensiver die Beziehung, desto stärker kann sie wirken. Besonders wenn Patient*innen keine Angst haben müssen, getäuscht, betrogen oder abgezockt zu werden.

Wir brauchen daher nicht mehr „Placebo-Competence“, wie sie Prof. Reif vorschlägt (www.placebo-competence.eu), sondern Kompetenz im Verstehen, und im Umgang mit komplexen lebenden Systemen. Eine Medizin des 21. Jahrhunderts, die sich von den alten mechanistischen Theorien des 19. Jahrhunderts ablöst, und einen Ideenumschwung vollzieht, wie ihn die Physik bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebt hat.

Starke Systemeffekte

Die wohl stärkste Wirkung auf die Entwicklung eines gesamten Organismus geht von der frühen, innigen, liebevollen Mutter-Kind-Beziehung aus. Die Qualität dieses initialen Bonding beeinflusst Gesundheit und Krankheitsresistenz bis ins hohe Erwachsenenalter. Bonding wirkt nicht-spezifisch, oder besser systemisch: Es beeinflusst ausnahmslos alle inneren und äußeren Beziehungen. Insbesondere bei Frühgeborenen ist es (als sogenanntes Känguruen) hinsichtlich des Sterblichkeitsrisikos spezifischen Therapien (Antibiotika) überlegen. Und es muss, falls spezifische Interventionen dennoch notwendig sind, ergänzend hinzutreten, damit die Heilungsprozesse günstig verlaufen können.

Viele Schwangere leiden (u.a. wegen physiologischer Veränderungen im letzten Trimenon) an Rückenschmerzen. Spezifische Therapien stehen dann meist nicht zur Verfügung oder wären viel zu nebenwirkungs-reich. Bestimmte manuelle Techniken (uva Tapen) kann die Schmerzverarbeitung lindernd beeinflussen. Insbesondere, wenn sich die Psyche beruhigen kann. Maßnahmen (wie Tapes u.a.) wirken kaum spezifisch. Aber der Gesamtkontext einer offen-transparent-empathisch-ritualisierten Handlung kann dennoch zu einer psychischen Entspannung führen: denn das Problem wird ernst genommen, und es wird etwas getan. Dazu ist es nötig, die Wirkungszusammenhänge vor einer Anwendung sehr offen und rückhaltlos transparent zu erläutern. Zugleich können die Betroffenen darauf hingewiesen werden, was sie selbst machen können: Stressreduktion, Ernährung, Bewegung … . Was dann erfahrungsgemäß wirkt, ist nicht „die Maßnahme an sich“, sondern der vertrauensvolle Kontext, in dem eine Anwendung erfolgt. Und das ohne jede „Placebo-Täuschung“, und zudem nebenwirkungsfrei.

Obwohl der irreführende Placebo-Begriff aus zurückliegenden Jahrhunderten stammt, wird er weiterhin gebetsmühlenartig von Wissenschaftlern verwendet. Das ist so absurd, als würden Quantenphysiker bei der Beschreibung von Systemzusammenhängen auf die Terminologie der Newtonschen Mechanik zurückgreifen.

Wirkungen in Systemen oder Kommunikationseffekte sind klare und eindeutige Begriffe. Sie erlauben die Unterscheidung von „spezifischen Effekten“, die nur einen Punkt (einen Rezeptor) treffen und das System möglichst unberührt lassen.

Des Begriff „Systemwirkungen“ könnte in der Medizin Konsequenzen anregen:

  • Die Ächtung von moderner oder alternativer Placebologie und von Medikalisierungs-Kommerz.
  • Eine Ausbildung in Gesundheitsberufen, die Kommunikations-Kompetenz (inkl. non-verbalem Ausdruck und Berührungskunst) in den Vordergrund stellt. Algorithmen und Großrechner werden hinsichtlich Fakten- und Datenbankwissen Menschen zunehmend überlegen sein. Menschen dagegen können schlagartig Beziehungen verstehen und günstig beeinflussen. Dafür müssen sie in Ausbildungen professionelle Kompetenzen erwerben.
  • Studien, bei denen „Verum“ und „Kontrollen“ die gleichen für die Nebenwirkungen verantwortlichen Stoffe enthalten (wie bei den Zulassungsstudien zur HPV-Impfung), dürften nicht mehr (irreführend) „placebo-kontrolliert“ genannt werden.
  • Auf die Wirkung weniger Faktoren begrenzter Studien (RCT) müssten so gestaltet werden, dass die Auslösung von Systemeffekten in den unterschiedlichen Studien Armen vergleichbar ist. Die Täuschung von Patienten ist auch in Studien völlig unnötig.
  • Systemeffekte sollten wissenschaftlich begleitend untersucht werden: Indem gemessen wird, ob Lerneffekte ausgelöst wurden, wie die weitere Entwicklung beeinflusst wurde, und ob diese Wirkungen zu nachhaltigen günstigen Veränderungen geführt haben. Ein wichtiger Indikator für den Systemeffekt körperbezogenen Lernen ist u.a., ob der Bedarf an weiteren Gesundheitsleistungen deutlich sank (Beispiele s. Lit.: Bravo, Hollinghurst, Li, Little, Kliche, Wang)
  • Pharmakologische Stoffe, die spezifisch wirkend, Systemeffekte auslösen (Stimulierung einer nicht-spezifischen Immunreaktion durch Aktivierung des Toll-Like-Rezeptor) müssten ebenso Zulassungsverfahren durchlaufen wie spezifische Wirkstoffe, die punkt- und zielgenaue Effekte auslösen sollen. Zusatzstoffe, die Systemeffekte auslösen, dürften nicht mehr intransparent (quasi „als Betriebsgeheimnis“) hochspezifischen Produkten beigemischt werden, ohne sie zuvor wissenschaftliche auf Langzeiteffekte zu untersuchen (u.a. hinsichtlich Immunfunktion, Darmökologie, Hirnentwicklung etc).
  • Vieles was Krankenkassen (aus reinen Marktinteressen) bezahlen, könnte (zB. mit einer Variante des Forschungsdesign cmRCT (s. Lit: Relton, Pate) hinsichtlich seiner Systemauswirkungen bei den Versicherten überprüft werden. Beispiel: Auch eine wertvolle Facharztauskunft der Kassen auf spontanen Wunsch der Versicherten („Demand Management“) wird nicht spezifisch wirken können („Blutdruck senken“). Welche Auswirkung hat sie aber auf das Lern-Verhalten der Nutzer? Führt sie zu mehr oder zu weniger Doktor-Hopping und Pharma-Shopping? Warum wurde das seit Einführung dieser Innovation etwa um 2000 in Deutschland bisher nicht untersucht? Wenn es nichts nutzen würde, könnte man schließlich viel einsparen. Warum wird dieser Frage dann (z.B. von „Placebo-Forschern“) nicht nachgegangen?

Gute Medizin wendet systemische und spezifische Wirkungen in einem für die Patienten jeweils geeigneten günstigen Mix an. Empathie, Kommunikationskompetenz und Chemotherapie stehen bei der Krebsbehandlung nicht im Gegensatz zueinander, sondern müssen sich ergänzen.

Würde so das Verständnis für Systeme und Einzelwirkungen wachsen, entschärfte sich nebenbei auch der Konflikt der beiden großen Medizintheorien des 19. Jahrhunderts: Homöopathie und Keimtheorie. Homöopathie verdünnte den spezifischen Effekt auf null und destillierte so reine (nebenwirkungsfreie) Systemeffekte, die auf Beziehung und Gespräch beruhen. Sie braucht aber bis heute offenbar noch die Illusion der spezifischen Wirkung, damit Patient und Therapeut „gemeinsam glauben“ können. Der wesentlich erfolgreiche Gegenspieler, die Keimtheorie (oder besser die Kriegsmedizin der Terrorismusbekämpfung) isoliert äußere Feinde, wehrt sie ab, beschießt und vernichtet sie mit immer mehr und größeren Bomben. Spätestens im Zeitalter der Antibiotikaresistenz, des Mikrobioms, der Epigenetik und der Erkenntnis, dass der Mensch ein mit seiner Umwelt verwobener Superorganismus ist, ist die Keimtheorie ebenso museal wie die Homöopathie.

Placebo: unnötig, täuschend, gefährlich!

Der Begriff Placebo führt in die Irre 

„Placebos“ (die absolut nichts enthalten) wirken nicht nur, wenn PatientInnen getäuscht werden, sondern auch, wenn ganz offen die Wirksamkeit des Rituals ihrer Anwendung erläutert wird. Es ist nicht eine „mystische Leer-Substanz“ die hier scheinbar heilt. Vielmehr sind es gelungene Kommunikationen und vertrauensvolle Beziehungen. So kann in Patienten eine positive Erwartung entstehen, die Genesungsprozesse oft wesentlich stärker beeinflusst als spezifisch wirkende Medikamente.

Die grundlegenden hirn-physiologischen Zusammenhänge, die dem (weiterhin meist so bezeichneten) Placebo-Effekt zugrunde liegen, wurden weitgehend entschlüsselt (Benedetti 2017, Vambheim 2017, Shaibani 2017, Cragg 2016, Jensen 2014 uva.). Und täglich wächst die Zahl der Publikationen zu diesem Zusammenhang, der wesentlich klarer mit dem Begriff „System-Effekte“ umschrieben werden könnte (Jäger 2015).

Betrug oder Selbstbetrug („Placebo“) durch Esoterik, Glaube oder Igel-Abzocke sind für die Auslösung dieses mächtigen System-Effektes absolut unnötig:

Es ist möglich, mit PatientInnen offen und empathisch zu kommunizieren

Allein das wirkt sich, wie jetzt wieder belegt, positiv auf deren Gesundheit aus, völlig unabhängig von einer angewendeten Substanz oder Methode (Locher 2017).

Das war allerdings bereits vor einem Jahr im gleichen Journal  (Carvalho 2016) und lange zuvor schon von einem amerikanischen Forscher beschrieben worden (Kapchuk 2010):

Vorträge von Ted Kaptchuk 2014:
TED-Konferenz ; Gold Lab Symposium

Warum klammert sich der Medizinbetrieb weiter an einen täuschenden Begriff?

Sind es Geschäftsinteressen?

Der Begriff „Placebo“ scheint (wie auch im Zeit-Artikel angedeutet) nützlich zu sein für die Ausweitung des Geschäftes mit nicht-spezifischen Substanzen und Dienstleistungen. Die Täuschung durch Scharlatanerie wird so gerechtfertigt: „Es hilft ja und schadet nicht!„. Der klassisch-täuschende „Placebo“-Effekt beruht aber auf unbewussten Konditionierungen, die fremdbestimmt entstanden, nicht verstanden werden und zu Abhängigkeiten führen.

Verzichtete man auf den Begriff „Placebo“, könnten PatientInnen bewusst lernen.

Bei Systemeffekten wirkt letztlich Selbstvertrauen und Zuversicht der Betroffenen. Und solche Wachstumsprozesse können durch Anwendung nicht- oder wenig spezifischer Handlungen nur gestärkt werden.  Die transparente Erläuterung von Systemeffekten im Rahmen einer sicheren Arzt-Patient-Kommunikationkann Vertrauen schaffen und zu selbstbestimmten Entwicklungen führen. Etwa so, wie ein Yoga-Schnupper-Kurs vielleicht neugierig macht auf intensiver wirkende Bewegungsarten.

Beginnt eine Revolution des Medizinmarktes?

Der Medizinmarkt und damit auch die Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte beruht auf dem Verkauf von Produkten und Dienstleistungen. Diese verlieren aber mit der zunehmenden Maschinenkompetenz im Rahmen der Digitalisierung im globalen Medizin-Markt zunehmend an Bedeutung.

Daher liebt es nahe, das Geschäft auszuweiten: zu „Placebologie“ (Abhängigkeit, Verdummung, Abzocke). Das treibt die Gesundheitskosten weiter in die Höhe, aber schadet der Gesundheit: z.B. durch Verordnungen nebenwirkungsreicher Pseudo-Placebos (Antibiotika statt Paracetamol) oder „Placebo“-Anwendungen (im Sinne von „den Patienten betrügen und ihm etwas vorgaukeln“).

Würde die Ärzteschaft täuschende Placebo-Anwendungen für unethisch erklären, müsste sie sich mehr um die Verbesserung der Qualität der Arzt-Patienten-Kommunikation kümmern. Dazu müssten die Kompetenzen „Zuhören“, „Berühren“ und „Einfühlsam sprechen“ in der Medizinerausbildung ernster genommen werden. Krankenkassen müssten den dafür nötigen Aufwand bezahlen, und in den Krankenhäusern müsste der Trend zur fließband-artigen Abfertigung (Patient processing) umgekehrt werden zu einer menschlich-beziehungesreichen Medizin (Patient centered care).

Ärztinnen und Ärzte müssen zu einem neuen Rollenbild finden.

Stehen wir vor einem Paradigmenwechsel der medizinischen Wissenschaft?

Bisher betrachte die medizinische Wissenschaft den Einfluss von Einzelfaktoren (spezifisch wirkende Substanzen oder Interventionen) auf Teilsysteme, wie eine Zelle, ein Organ, eine Funktion. Dazu dient insbesondere das Mess-Instrument der zukunfts-gerichteten Studien zweier Kohorten, bei denen die eine mit der anderen verglichen wird (siehe Evidenz basierte Medizin).

Dabei wird häufig leichtfertig (oder täuschend) mit dem Begriff „Placebo“ umgegangen (Keränen 2015). Manchmal werden sogenannte „Placebo“ in Zulassungsstudien eingesetzt, die nicht etwa „Nichts“ enthalten, sondern pharmakologisch aktive Substanzen, die als Zusätze dem eigentlichen spezifischen Wirkstoff beigemischt werden, um Systemwirkungen auszulösen.

Um die Einwirkung auf Systemzusammenhänge verstehen zu können, müssten daher neue Arten wissenschaftlicher Beobachtungen entwickelt werden, die in der Lage sind, die Dynamik von Systemen zu erfassen. (Frisaldi 2017):

Wie zum Beispiel den Grad der subjektiven Besserung von Beschwerden, die Zunahme von Aktivität und Eigenverantwortung, die Nachhaltigkeit gesundheitsbezogener Verhaltensänderungen und den hoffentlich sinkenden Bedarf für weitere Ausgaben für Diagnostik oder Behandlungsleistungen.

Placebologie mit dem Segen der Ärztekammer

Placebo Domino in regione vivorum.”
Ich werde dem Herrn gefallen …“ (Bibel Psalm 116:9, Vulgate, Jerome)
überarbeitet: 24.12.2014

Ein Arbeitskreis der Bundesärztekammer hielt „die bewusste Anwendung von reinem Placebo oder sogenanntem Pseudo-Placebo in der therapeutischen Praxis außerhalb klinischer Studien“ für ethisch vertretbar (Jütte 2010).

Ärztekammer und Placebo
Die Bundesärztekammer hält „Pseudo-Placebo-Gaben“ (nebenwirkungsreiche spezifische Wirkstoffe für die Auslösung nicht spezifischer Therapieziele) und „schein-chirurgische Eingriffe“ unter bestimmten Voraussetzungen für gerechtfertigt.

Placebo-Anwendungen seien erlaubt, wenn „keine geprüfte wirksame (Pharmako)-Therapie vorhanden“ sei, „es sich um relativ geringe Beschwerden“ handele, „ein ausdrücklicher Wunsch des Patienten nach einer Behandlung“ vorliege, und „eine Aussicht auf Erfolg einer Placebo-Behandlung bei dieser Erkrankung“ bestehe. Davon könnten Patientinn/en messbar profitieren (Jütte 2014).

Ein Arzt darf „in manchen Fällen mit Hokuspokus zaubern …” (Gaßner 2014).

Das geschieht tatsächlich in breitem Umfang und es wird mit dem ethischen Segen immer häufiger stattfinden.

Manche halten Hokuspokus (Duden: „Beschwörungsformel, Gaukelei, fauler Zauber, Magie, Täuschungsmanöver, Trug …”) in der Medizin für „unnötig, unprofessionell und unethisch“ (Hróbjartsson 2008).  Und zudem für gefährlich, wenn spezifisch wirksame Substanzen (z.B. Antibiotika) als „Pseudo-Placebo“ eingesetzt werden (Walch 2012, WHO 2012, 2014). „Magische Pillen“, „Medikalisierung“ (Illich 1975, Conrad 2007) und „Waren-Medizin“ (Unschuld 2011) bergen für Patientinn/en erhebliche Gefahren. Und auch die Konditionierung mit „reinen Placebos“ wie inhaltsleeren bunten Pillen oder einprägsamen Ritualen kann schaden. Es verhindert das Verstehen von Wirk-Zusammenhängen und führt in eine unmündige Abhängigkeit zu den Placeboanwenderinn/en.

Die Placebo-Täuschung von Patient*innen ist juristisch natürlich etwas anderes als Betrug. Wer in betrügerischer Absicht giftige oder gefälschte Pharmaprodukte (Fake drugs) verkauft, verstößt gegen das Strafrecht. Das läge medizinischen Hokuspokus-Anwender/innen aber fern. Sie behaupten vielmehr, dass sie zum Wohl ihrer Patienten handelten. Sie seien zudem davon überzeugt, dass das was sie tun, gar kein Hokuspokus sei. Denn gerade aus der Illusion einer starken spezifischen Wirkung ergibt sich die nicht-spezifische Auslösung des Sicherheitsgefühls, dass alles gut werde. Bereits vor 2.500 Jahren hatte Konfuzius erkannt, wie wichtig sei so zu handeln, als ob etwas so wäre. Das genügt, und tatsächlich ist die Vortäuschung, von etwas was „tatsächlich so sei“, für den Placebo-Effekt unnötig (Kaptchuk 2010, Annoni 2013).

Alles was wirkt, kann in unterschiedlicher Dosierung und Abmischung sehr verschiedene Effekte auslösen, die als spezifisch, indirekt, nicht-beabsichtigt, nicht-spezifisch oder systemisch beschrieben werden können. Das Medikament ASS z.B. wirkt spezifisch, weil es die Bildung eines Eiweißes (Prostaglandin) und die Bindungsfähigkeit von Blutplättchen hemmt. Es kann deshalb entzündungs- oder gerinnungshemmend eingesetzt werden. Die spezifischen Wirkungen von ASS bergen das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen, z.B. der Reizung der Magenschleimhaut oder einer Verstärkung einer Blutungsneigung. Und auch die Art der ASS-Anwendung, und die bisher mit ASS gemachten Erfahrungen können zu Wirkungen führen, ohne dass eine scheinbar wie ASS aussehende Pille auch ASS enthalten muss.

Solche „Placebo-Effekte“ sind die Folge von Kommunikationsprozessen. Sie führen zu Sicherheitsgefühlen und Erwartungen, die sich heilsam auswirken (Benedetti 2013, Enck 2013, Jensen 2014). Die psychologische Grundeinstellung verändert sich: Panik, Stress und Angst nehmen ab, während Zuversicht, Vertrauen und Hoffnung wachsen an. Das hat eine Beruhigung der Immunfunktion zur Folge, die zu einem effektiveren Umgang mit den Krankheitserscheinungen und damit zu günstigen Entwicklungen führt.

System-Wirkungen entstehen aus den Veränderungen dynamischer Beziehungen zwischen Zellen, Regelkreisen, Stoffwechselrhythmen und Organfunktionen. Sie können sehr gezielt angeregt und in ihren Auswirkungen gemessen werden. In bestimmte Lebensphasen prägen sie das spätere Leben: Die genetische Information (Epigenetik) kann z.B. durch anhaltenden Stress in der Schwangerschaft moduliert werden (D’Urso 2014), oder das Gehirn eines Säuglings entwickelt sich im Rahmen liebevoller Mutter-Kind-Bindung nachhaltig günstig (Penhume 2014).

Später, wenn das Kind Worten lauschen kann, gehört auch wohlmeinend-tröstendes Schwindeln zum Repertoire jeder erfahrenen Mutter. Sie erzählt dann von Feen, dem Christkind und Prinzessinnen, und wiegt das Kind abgelenkt und selig in den Schlaf. Sie vermittelt bei Krankheit die Illusion, es sei gar nicht so gefährlich, es werde schon gut, und ein von Oma empfohlenes Hausmittelchen helfe sicher. Das Erleben von Geborgenheit und das grenzenlose Vertrauen helfen dem Kind zu gesunden. Es will gar nicht so genau wissen, wie es tatsächlich ist. Das mütterliche Schwindeln unterscheidet sich aber wesentlich von einer Placebo-Anwendung, obwohl auch die Patient:innen in diesen abhängigen Zustand der Frühkindheit zurückversetzt werden.

Eine Mutter, die will, dass ihr Kind wächst, gedeiht und sich selbstständig entwickelt, will ihm nichts verkaufen und täuscht es nicht.

Mehr

Video / Podcast

  • BBC 2014
  • Bingel von Pyritz: Podcast-DLF 08.06.2017
  • Kaptchuk: TED-Konferenz 2014
  • Kaptchuck: Gold Lab Symposium 2014

Literatur

Systemwirkungen & Coronoia

Wer in Angst ist, sehnt sich nach Sicherheit. Und hasst Information. Wie es (wirklich) ist, ist dann unwichtig: Es soll nur wieder gut werden.

Drohende Seuchen fördern den Verkauf rettender Produkte

Zu Beginn der HIV-AIDS-Epidemie in Afrika wurde das „hochwirksame und nebenwirkungsfreie“ Wundermittel „Mobutu-Mubarak-M1″ verkauft (Worldcruch 2014). Die MM1-Spritzen haben vermutlich niemanden geheilt, aber mindestens einen (mir bekannten) Patienten durch einen allergischen Schock zu Tode gebracht. Trotzdem fand das Zeug seine (panischen) Abnehmer.

Damals hatte die klassische Medizin weder ein Medikament noch eine Impfung zu bieten (Projet SIDA). Ganz ähnlich wie heute bei Covid-19. Und genau wie jetzt, wurde die Bedeutung technischer Lösungen in den Vordergrund gerückt: Damals waren es saubere Spritzen und Kondome. Heute sind es Desinfektionsmitteln und Masken.

Botschaften für ein gesundes Leben, sicheres Verhalten und risikoarme Verhältnisse waren und sind viel schwieriger zu vermitteln. Sie interessierten nur wenige. Der Einfachheit halber berichten die Medien nur selten über die Zusammenhänge von Krankheit und Gesundheit. Lieber definiert man einen Feind (ein Virus) und schreibt über die Waffen, die diesen Gegner umzubringen sollen. Damals wie heute fiebert man Medikamenten und Impfungen entgegen, während das Naheliegende keine Rolle spielt: Die Förderung gesunden Verhaltens (bei Covid-19: Bewegung, Ernährung, Schlaf …) und sicherer Verhältnisse (bei Covid-19: liebevolle, optimal psycho-soziale Versorgung alter und kranker Menschen).

Zitat: „Es geht wirklich mit vielem bergab, ganz besonders aber mit der Magie – Sie hat, man kann es nicht anders sagen, im Zeitalter der Moderne ihren Zauber weitgehend verloren. Mindestens bis zum Mittelalter war das anders, da gingen die Leute zur Kräuterhexe oder zu einem Druiden ihres Vertrauens, wenn ihnen in der Bauch krampfte, die Sicht milchig wurde oder ein Unterschenkel faulte. Der Druide hustete den Kranken dann dreimal über die linke Schulter, er las tastend in ihrer Hand in ihren Handwurzelknochen und verrührte – weitgehend abhängig von der jeweiligen Anamnese – ein paar Gramm Muskattellerssalbei, oder was sonst gerade da war, mit Berg-Eisenhut. „Eisenhut tut immer gut“, nuschelte der Druiden zum Schluss und schickte die Patienten mit einem ziemlich bekifften Lächeln wieder nach Hause. Dort faulte der Schenkel zwar weiter und krampfte es auch immer im Bauch, nun aber bei deutlich besserer Stimmung. …“ Süddeutsche Zeitung 07.07.2020 Kolumne: Das Streiflicht.

Spezifische Effekte

Ende des 19. Jahrhunderts glaubte man die Schaman:innen und Kräuter-Hexer aus der Medizin vertrieben zu haben, weil man die eigentliche Ursache von Krankheit entdeckt hatte: Von außen kommende Terroristen, die uns den Krieg erklären und uns vernichten wollen. Paul Ehrlich nannte deshalb die erste von ihm entwickelte Patrone gegen feindliche Krankheitserreger „Zauber-Kugel“. Seine magische Gewehr-Munition sollte punktgenau („spezifisch“) treffen, und keinesfalls wie Schrot streuen. Deshalb sei sie, bei treffsicheren Schützen, für die Umgebung unschädlich. Das „Gesamte“ (das System Mensch) werde also nicht (oder nur vorübergehend leicht) betroffen und bleibe unverändert, während der Kern des Übels sicher beseitigt werde.

Bis heute bildet die Suche nach dem optimalen „spezifischen Effekt“ (der Zauberkugel) die Grundlage des medizinischen Denkens: bei gezielten Krebstherapien Krebs, dem Einsatz von Antibiotika und bei der Entwicklung von Impfungen gegen bestimmte Infektionserreger. (Dt. Ärztebl 2009; 106(4)).

Die Entdeckung nicht-spezifischer Effekte

Die Medizin entwickelte sich vor 2.500 Jahren in Griechenland und in China ursprünglich aus einem umgekehrten Denkansatz. An gezielter Krankheitsbekämpfung war man nicht interessiert. Und überließ sie den Wunderheiler*innen und den Kräuterweib- und männlein. Stattdessen wolle man das gesamte (das System Mensch – in seinem Umfeld) so beeinflussen, dass er oder sie trotz Widrigkeiten gesund bliebe. Man stellte sich den Menschen wie einen Staat vor, dessen Bevölkerung im Wohlstand und Frieden lebten. Mediziner sollten zu gesunden Verhalten erziehen, und bei Krankheit höchsten ihre Patient*innen so lange ablenken, bis die Natur sich selber helfe. Das wichtigstes Prinzip der Gesundheits-Philosophie war es, nicht zu schaden. Aber sie verkümmerte nach wenigen Jahrhunderten, und wurde im düsteren Mittelalter ersetzt durch eine interventionistische, meist verschlimmbessernde Medizin (Kneifen, Aderlassen, Schröpfen …). Deren Prinzip war: „Nach unserem Medizinmodell heilen, koste es was es wolle!“.

Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte der Chemiker Antoine Béchamp erstmals Bakterien auf Pflanzen. Verkümmerten die Pflanzen, weil es ihnen an Licht oder Wasser fehlte, wurden sie krank und vergammelten. Dann zeigten sich die Bakterien. Waren die Pflanzen kerngesund, konnte er die Mini-Lebewesen auf ihren Oberflächen nicht nachweisen. Infektionen seien also die Folge von Krankheit. Dass er damit nicht falschlag, zeigen bis heute die Grippe-Infektionen: Wenn jemand schwer erkrankt, weist das auf Fehlfunktionen seines Immunsystems hin (ausgelöst durch Stress, Stoffwechselerkrankungen, Alter, Auto-Immunstörung uva.).

Mitte des 20. Jahrhunderts beobachtete dann der Medizinsoziologe Aaron Antonowsky, dass manche Menschen selbst unter starken Belastungen (wie einem Aufenthalt in einem Konzentrationslager) nicht erkrankten. Es musste also Faktoren und Wechselwirkungen geben, die für Gesundheit sorgten. Und so versucht er (weitgehend vergeblich) die Medizin von der Notwendigkeit einer Gesundheits-orientierung zu überzeugen (Salutogenese, statt Pathogenese, der Krankheitsorientierung). Er vermutete Faktoren, Beziehungen, psychologische Einstellungen und Wechselwirkungen, die zu einer flexiblen Anpassung eines Organismus an immer neue Gegebenheiten und Belastung führten. Und diese Zusammenhänge können man sinnvoll beeinflussen und trainieren.

Im 21. Jahrhundert ist das Verständnis für komplexe Zusammenhänge veränderlich lebender Ökosysteme, die Grundlage der systembiologischen Naturwissenschaft, während die Medizin (wie der Umgang mit der Covid-19-Pandemie deutlich zeigt) weiterhin dem „kriegerischen und mechanischen“ Krankheitsdenken des 19. Jahrhunderts verhaftet bleibt.

Impressionen aus dem Düsseldorfer Hauptbahnhof (Bild Jäger, 04.07.2020). Spezifische Wirkung: Nikotin. Nicht spezifische Wirkung: Die Maske. Wer nicht glaubte, wurde bestraft.

Systemwirkungen

Die stärkste System-Wirkung, die ein Mensch erleben kann, und die sein ganzes weiteres Leben prägt, ist die innige Mutter-Kind-Bindung in der Zeit unmittelbar nach der Geburt. Die Mutter wirkt dabei nicht zielgenau auf eine bestimmte Körperfunktion des Kindes ein. Vielmehr beeinflusst ihre Liebe die Funktion aller Körperzellen des neuen Organismus. Die Mutter beruhigt und entspannt, und sorgt durch diesen Schutz für das Gedeihen und die Entwicklung der Körperfunktionen. Die Stressreaktionen des Kindes (die z.B. durch Schmerz getriggert werden) werden besänftigt. Das Kind kann so „gestillt“ werden. Es eröffnet sich ein Raum, in dem sich das Immun-System entwickelt, und allmählich, störungs-arm zwischen vertrauten Keimen und fremden Eindringlingen zu unterscheiden lernt.

Wenn die Mutter das Kind tröstet, versorgt, in Sicherheit wiegt und beruhigt, ist es deutlich besser in der Lage, Krankheitsbelastungen schadlos zu überstehen.

Später sind es dann die Gespräche und Berührungen im Rahmen einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung, die Patient*innen beruhigen, heilsam auf sie wirken und Lerneffekte auslösen. (Benedetti 2014)

Bis heute aber steht die Qualität psychosomatisch wirksamen Arzt-Patient-Beziehung nicht im Fokus einer technisch und mechanistisch orientierten Medizin.

Stattdessen werden Systemeffekte häufig und gerne durch Täuschung ausgelöst (sogenannter Placeboeffekt). Besonders dann, wenn Patient*innen aus kommerziellen Gründen in Abhängigkeit gehalten werden sollen. Dann geht es um den lukrativen Verkauf von Produkten und Dienstleistungen (Individuelle Gesundheitsleistungen, IGeL).

Um Patient:innen so zu behandeln, dass sie „möglichst oft und bald wiederkommen“, ist es wichtig (immer wieder neu) Angst auszulösen. Um ihnen anschließend durch ein IGeL-Ritual neue Sicherheit zu bieten. Die Patient*innen werden in gutem Glauben und im Vertrauen auf die Weisheit der Expert*innen hinters Licht geführt, indem ihnen die Illusion vermittelt wird, ein Medikament (oder ein Eingriff) habe einen (spezifischen) Effekt, der aber in Wirklichkeit fehlt.

Eine besonders unangenehme Art dieser Täuschungen sind Pseudo-Placebo-Anwendungen. Solche Mittel enthalten sehr wohl „spezifisch“ Wirk-komponenten (Beispiel: Antibiotikum), die aber im Zusammenhang der Anwendung bedeutungslos sind (Beispiel: akute Depression).

Spezifische und systemische Effekte bei Covid-19

Viele Menschen wurden Anfang 2020 in Angst und Schrecken versetzt. Sie sahen ihren Tod vor Augen und waren zutiefst verunsichert.

Die Auslösung eines Angstgefühls ist ein typischer (schädlicher) Systemeffekt, der ein unbändiges Verlangen nach Sicherheit folgt. Steigt die Unsicherheit aber weiter, entsteht Stress. In solchen Zuständen können Menschen nicht mehr klar denken.

Bei allen Gefahrensituation, bei Großbränden, Katastrophen und natürlich auch bei Epidemien wie Cholera, Ebola u.v.a., ist es deshalb als Erstes nötig, für Ruhe zu sorgen. Damit keine Panik entsteht. Das gilt sowohl für große Personengruppen, die sich möglichst rational und vernünftig verhalten sollte. Denn nur dann können sie Zusammenhänge verstehen und denen, die sie führen, auch vertrauen. Und ebenso gilt es für einzelne Patient*innen, die sich vom Tode bedroht fühlen, weil sie z.B. unter Atemnot leiden. Hektik und sofortiges technisches Handeln würde ihren Zustand nur verschlimmern, während Beruhigung und Kommunikation mit nahen Angehörigen ihre Chancen deutlich verbessern würde.

Für mich (und viele andere, die einige Epidemien erlebt haben) völlig überraschend, wurde bei der Covid-19 nicht beruhigt, sondern Panik vielfach erst ausgelöst. Angesichts unmittelbarer Bedrohung („In neun Tagen sind wir Italien!“) kann man nicht rational denken. Das aber wäre gerade in Gefahr unbedingt nötig gewesen.

Der wesentliche Grund in Notsituationen Menschen in bleibender Angst zu halten ist, dass die für die Betroffenen unmittelbar sichtbare Gefahr nur sehr klein erscheint. Die Führenden aber größere Gefahren wahrnehmen oder andere Ziele verfolgen. So wie ein Bergführer mit Lawinen droht, damit seine Gruppe sich etwas schneller bewegt, weil er vor Anbruch der Dunkelheit gemütlich in der Berg-Hütte sitzen will.

Menschen, die sich nach gefahr-freier Normalität sehen, handeln eher so, wie sie sollen. Sie hoffen durch pflichtbewusstes Handeln dabei mitzuhelfen, dass wieder Sicherheit entsteht. Damit dieses Verhalten bleibt, muss Angst immer wieder neu angeregt werden, sonst ebbt sie ab oder wird verdrängt („Hier ist gar keine Lawinengefahr!“)

Bei Covid-19 dienen der Angsterhaltung: das rituelle Tragen von Masken in öffentlichen Raum, die täglichen Corona-PCR-Test-Ergebnisse, die angehäuften Todeszahlen und die täglichen immer neu-erschreckenden Covid-19 Berichte aus aller Welt.

Masken (außerhalb medizinisch begründeter Anwendung) sind ein typischer Placebo, da eine spezifische Wirkung hinsichtlich der Verhinderung von Virusübertragungen fehlt. Zumal Covid-19 so selten vorkommt, dass keine Studie zur spezifischen Wirkung des Maskentragens bei Sars-CoV-2 durchgeführt werden könnte. Den Träger*innen wird in täuschender Weise vermittelt, Masken seien für ihre Gesundheit nützlich, auch bei Menschen mit eingeschränkter Atemfunktion. Ihr wesentlicher Zweck ist es zu beruhigen („Hinter dem Stoff bin ich sicher!“), und zugleich die Angst sichtbar aufrecht zu halten („Das Virus lauert überall!“). Ganz ähnlich wie bei Amuletten, die Steinzeitjäger trugen, um sich die überall herumschwirrenden, unsichtbaren Waldgeister vom Leib zu halten.

Während die Masken Systemeffekte auszulösen, stand bei der Behandlung von Covid-19 Patienten sehr früh der spezifische Effekt einer technischen Intervention im Vordergrund: Die rasche Krankenhauseinweisung und Intensiv-Versorgung inklusive einen maschinellen Beatmung. Es zeigte sich dann aber, dass zu frühe Beatmungen von Covid-19-Patient*innen ihre Überlebenschance nicht erhöhen. Auch bestimmte spezifisch wirkende Medikamente (Chloroquin, Cortison, Antibiotika uva.) waren nicht immer günstig, sondern oft nachteilig.

Die optimale Nutzung von Systemwirkungen bei der Behandlung von Covid-19-Patientinnen wurde vernachlässigt. Gerade bei älteren, mehrfach erkrankten und zum Teil dementen Patient*innen im hohen Alter wäre es erforderlich gewesen, für eine gute psychosoziale Betreuung zu sorgen, insbesondere durch nahestehende Menschen und Familienangehörige. Die nicht-spezifische Beruhigung des Immunsystems der (durch Covid-19 gefährdeten) Personen hätte die Chancen für eine bessere Funktionstüchtigkeit ihrer Immun-Restfunktion erhöht.

Menschen sterben fast nie an den Viren, sondern meist daran, wie ein aufgeregtes, ineffizientes Immunsystem fehlerhaft mit Viren umgeht und überreagiert.

Letzte Aktualisierung: 14.03.2024