10. November 2022

Post-faktische Wahrheiten.

Inhalt

  • Post-faktisch
  • das Elend unklarer Begriffe

Die Leute mögen keine Tatsachen. Sie verkomplizieren die Dinge.
Im Grunde wollen sie nur wissen:

Wer sind die Guten und wer die Bösen.“Yes Minister by Anthony Jay & Jonathan Lynn

Post-Faktische Wahrheiten

Das Oxford Dictionary kürte 2016 das Wort „Post-faktisch“ (post-truth) zum Wort des Jahres. Das Eigenschaftswort werde inflationär genutzt und kennzeichne ein neues gesellschaftliches Phänomen:

Umstände, in denen objektive Tatsachen die öffentliche Meinung
weniger stark beeinflussen, als Emotionen und persönlicher Glaube.

Populisten und Demagogen hielten sich nicht mehr an das „was ist“, sondern behaupteten stattdessen, was ihnen passe. Trotzdem glaube man ihnen, denn im Kampf um die Meinungshoheit würden immer perfektere Mittel zur Manipulation eingesetzt.

Kellyanne Conway erfindet „Alternative Fakten“

Im post-faktischen Zeitalter müsse man nicht mehr (wie früher) „lügen“ oder „alternative Wahrheiten“ erfinden. Die Menschen seien zunehmend verwirrt, und daher nicht mehr zur Verarbeitung komplizierter Tatsachen fähig oder an komplexen Zusammenhängen interessiert. Stattdessen vertrauen sie dem was ihnen als plausible Wahrheiten vorgesetzt werde. Sie wollten sich bestätigt fühlen, und nur das hören, was sie glauben sollen.

„Es ist der Wille des Volkes!
Ich bin ihr Führer! Ich muss ihnen folgen! „
Yes Minister by Anthony Jay & Jonathan Lynn

Wenn wir aus den Massen-Medien von Gas-Anschlägen, Terror, Hacker-Angriffen, Vergeltungsschlägen, Morden, Todesviren, Kriegen und Kapital-Verbrechen erfahren, dürfen wir dann wirklich hoffen, Wahrheiten zu erfahren? Können wir sicher sein, dass nur die jeweils anderen „lügen und betrügen“?

Alles was jemals gesagt wurde, wurde von jemandem gesagt.
Humberto Maturana

Politiker lügen seit 3.000 Jahren.

Der Glaube an eine unumstößliche Wahrheit hält eine Herde zusammen. Im Vertrauen auf gute Hirten, folgen sie dann den gewünschten Verhaltensmustern. Dafür werden Wahrheiten gebraucht. Oder alternative Wahrheiten, um eine andere Herde zu verwirren. Zweifelnde, selber-denkende Menschen neigen dazu, dort zu stöbern, wo man nicht hinsehen sollte. Das ist in der Regel unerwünscht, und wird seit drei Jahrtausenden als Verschwörung, Ketzerei oder Fake-News bekämpft. (Fabian 2016)

Pompöser „Triumph der Wahrheit über die Lüge“ vor etwa 2.500

Darrius und die Lügner
Darius I (der Große) vernichtet die neun Lügenkönige. Darüber schwebt Zahrathustra’s „Reine Wahrheit“ des einen, guten Gottes. Felsrelief am Berg Behistun nahe Kermanshah. Bild Wiki

Darius I hatte als „Lanzenträger“ des persisch-medischen Großkönigs Kambyses II (Sohn von Kyros II) am Erfolg der Eroberung Ägyptens mitgewirkt. Sein König verstarb unter merkwürdigen Gründen – angeblich nach einem Reitunfall. Darius, sein wicihtigster General eilte sofort mit wenigen Militär-Kollegen zur Hauptstadt Susa, um die Thronbesteigung des Bruders des Verstorbenen (Bardiya) zu verhindern. Man lies die herbeigeeilten hohen Offiziere zur Überbringung ihrer wichtigen Todesnachricht sofort zum Prinzen vor, den sie dann ohne zu zögern erschlugen. Soviel scheint u.a. durch Herodot historisch belegt zu sein.

Alles Übrige ist (je nach Sichtweise) „Wahrheit“ oder „Lüge“.

Darius habe nämlich Bardiya gar nicht erschlagen, sondern nur einen schamanistischen Priester namens Gautama, der den armen Königssohn schon lange zuvor aus dem Weg geräumt, und anschließend so getan habe, als sei er selbst  Bardiya. Das sei ihm durch Magie so perfekt gelungen, dass niemand in Susa, auch nicht die „Witwe“ und die anderen Haremsdamen, einen Verdacht geschöpft hätten. Diese „offizielle Wahrheit“ des neuen Herrschers hatte natürlich ein gewisses „Gschmäckle„. Neun mächtige Provinzfürsten glaubten eher an die Lügenversion, dass Darius in Wirklichkeit ein skrupelloser Königsmörder sei.

Die richtige Wahrheitsversion ist die des Siegers

Die alte Geschichte der Wahrheit des Darius zeigt, wie sich eine richtige Version durchsetzt, wenn sie in Stein gemeistelt wird. Wahrheiten siegen durch Propadanda, Schlauheit oder Gewaltanwendung. Sie zeigt nocht die Perspektive der Verlierer Sieger. Darius benötigte Darius zusätzlich ein höheres, übergeordnet-moralisches Konzept, der sich alle Ethnien seines Vielvölkerstaates unterordnen konnten. Ein Wertekonzept, an das seine Untertanen glauben konnten.

Bereits der Vater von Kamyses, Kyros II., hatte mit der Einheitsreligion des Zarathustra in seinem Staat aufgewertet. Die Juden im Babylonischen Exil feierten ihn als ihren gottgesandten Erlösers. Aber erst Darius I errichtete mit der monotheistischen, Schamanismus-feindlichen Ideologie des Zarathustra, den ersten, straff organisierten Gottesstaat der Erde. Damit war ihm der höchst-denkbare Segen des einheits-Gottes sicher. Und damit erwiesen sich alle alternativen Wahrheiten erwiesen sich als Gotteslästerung. (Holland 2011, Iriye 2017)

Geglaubte Wahrheit, die nicht überprüft werden kann?

Medien-Konsumenten, die, ob sie es wollen oder nicht, gelenkt und geleitet werden, haben es, selbst wenn sie es wollten, zunehmend schwer, sich im Gewirr immer perfekter inszenierter Wahrheiten oder Lügen zurechtzufinden. Besonders in Kriegen gegen „was auch immer“.

Meist werden die betroffenen nie erfahren, „wie es wirklich war“. Aber sie können Fragen stellen, um sich in der Welt, in der sie leben, zu orientieren

  • Was wird nicht gesagt? Welche Einzelfakten fehlen in den Berichten?
  • Wem nutzt es? Wem schadet es?
  • Wer verdient? Wer verliert?
  • Was steht zwischen den Zeilen? Was bedeutet die Wortwahl?
    („sicher ist“ / „angeblich sei“, „mutmaßlich“ / „eindeutig“ oder „Terrorist“ / „Freiheitskämpfer“ / „Soldat“ / „Söldner“, Verteidigungs- / Angriffskrieg“, „Tötung/Mord …)
  • Könnte es auch weniger offensichtliche Beweggründe geben? (Rohstoffe, Finanzen, Macht)
  • Um was geht es „eigentlich“? (rational, irrational, emotional)
  • Wo endet der Sinn? Wo beginnt der Wahnsinn?
  • Welche Grauschattierungen liegen zwischen Schwarz und Weiß?
  • Ist der Böse von heute nicht der Gute von gestern oder umgekehrt?
  • Könnte es auch ganz anderes gewesen sein?

Warnhinweis:

Ein Motiv, d.h. die Vermutung eines möglichen Nutzens, ist ein Verdachtsmoment, aber kein Beweis. Fake-News-Produzenten, Verschwörungstheoretiker und offizielle Institutionen der Deutungshoheit arbeiten gerne mit Unterstellungen.

Der Reiz des „Post-faktischen“: Es ist konsequent einfach

„Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung glaubte Georg Bush …“ als er 2003 log.

Die Realität ist komplex und verändert sich eigendynamisch, und oft von Zufällen beeinflusst, undurchschaubar. Zwangsläufig ist die Zukunft ungewiss. Dagegen vermitteln einfache Modelle der Realität, die denen, die ihnen vertrauen, wahr erscheinen, und ihnen Geborgenheit vermitteln in einer geleiteten Glaubensgemeinschaft.

So wie sich Kirchen nur in ihrer Größe, aber nicht grundsätzlich, von religiösen Abspaltern, Sekten oder Esoterikern unterscheiden, so ist auch die jeweilige Mainstream-Meinung vom Prinzip nichts anderes als eine von ihr angegriffene Minderheits-Meinung. Beide kämpfen gegen den Wahn der jeweils anderen, natürlich auch, indem sie verschweigen, manipulieren, lügen, betrügen oder Verwirrung stiften.

Da im Zeitalter der Digitalisierung alle bis zum Überdruss mit Einzelinformationen überschüttet werden, ist die Sehnsucht groß nach Ex-Formation, dem Löschen unwichtigen Datenmülls, und nach Sinn: der Einordung der Information in einen persönlichen Bedeutungszusammenhang.

Die vielen fragmentierten Fakten, die nicht in einem sinnvollen Beziehungsnetz eingeordnet werden können, lösen Angstgefühle aus. Eigentlich ist Angst ein nützliches Gefühl, denn es unterbricht eine Handlungsfolge, und ermöglicht so eine Denkpause, in der man eine zielorientierte Fixierung lösen, innehalten und sich nach den Möglichkeiten umschauen könnte, die sich gerade bieten. Gelingt das, wandelt sich Angst in eine anderes Gefühl, das hinführt zu neu-gestalteter Aktivität: Neugier z.B., vielleicht aber auch Überraschung, Ärger oder Wut. Kann die Angst durch eine sinnstiftende Kommunikation nicht beruhigt werden, kippt das Gefühl ab in primitivere Verhaltensmuster wie Stress, oder noch schlimmer in Lähmung oder Erstarrung. Um sich daraus wieder zu befreien, müssen Fakten verdrängt und einfache Gegner gefunden werden, die man bestrafen oder besiegen kann.

So entsteht Abwehr, Aggression oder Verdrängen, um gemeinsam in der Wahngemeinschaft populistischer Leitkulturen zur (vermeintlichen) Sicherheit zurück zu finden. Wenn diese Sehnsucht erst viele erfasst hat, genügen wenige bösartig-rationale Tricks um große Emotionen auszulösen, die dann leicht in eine Massen-Trance führen können. In diesem Stadium ist der Bezug von Fakten zur Realität völlig irrelevant, da sie ausschließlich dazu dienen, das Böse zu dämonisieren und das Gute zu erhöhen.

„Es gibt ein paar Arschlöcher auf der Welt, die einfach erschossen gehören!“
General James Mattis. US-„Verteidigungs“-Minister am 02.12.2016

Der Psychiater McGilchrist glaubt, dass die Menschen heute gerade deshalb so verstört und für Ideologien anfällig seien, weil das Trennende und die Anhäufung toter Fakten-Berge immer mehr Bedeutung erhalte, und gleichzeitig der Sinn für Beziehungen, Zusammenhänge  und für die komplexe Dynamik lebender Systeme abhanden komme.

Du kennst (1). Daher glaubst du zu wissen, was (2) ist.
Denn (1) + (1) = (2).  Bist du dir sicher, was (+) bedeutet? (Sufi)

Literatur

  • Fabian F: Die größten Lügen der Geschichte. Wie historische Wahrheiten gefälscht wurden. (u.a. Moses, Alexandern Caesar, Paulus, …) Bassermann.
  • Holland T: Persisches Feuer. rororo 2011.
  • Iriye A, Oterhammel J: Geschichte der Welt. Vor 600. C.H.Beck 2017

Das Elend unklarer Begriffe

Seit der Erfindung von Worten streiten Menschen über ihre Bedeutung.

Und das umso heftiger, je mehr anschauliche Bilder in modern-eindeutige Begriffe gegossen werden. Dann scheint das Ausgesprochene das „wahre“ Abbild der Realität zu sein, und sich vom Unwahren klar zu unterscheiden.

Wann immer wir aufhören mit uns in Worten zu sprechen,
so ist die Welt so, wie sie sein sollte. Castaneda

Bisher wurde allerdings in der Physik noch nicht beobachtet, dass etwas „ist“. Dort sieht man nur Bewegungen und Beziehungen, die „werden“, und dabei Spuren hinterlassen.

Was „ist“ also … ein Stein, eine Pflanze, ein Tier?

Sind alle Dinge, die sinnlich wahrgenommen werden, nichts als Geschichten, die jemand erzählt? Sind Worte wie „Liebe“, „Emotion“, „Gefühl“, „Eros“ oder „Sex“ nur abstrakte Begriffe, die von Biologen oder Geisteswissenschaftlern beliebig interpretiert werden?  Und was sind „Bewusstsein“, „Unbewusstes“, „Glaube“, „Erleuchtung“, „Tod“, „Gott“, „Natur“: Phänomene oder Traumbilder oder Tatsachen? Und was könnten (ganz objektiv) Recht, Demokratie, Diktatur, Freiheit, Quark, dunkle Materie, Energie sein? Oder irgendeine Ideologie, die mit der Silbe „-ismus“ endet oder mit der Silbe „Anti-“ beginnt?

Fragen sind wichtiger als Antworten

Alles Gesagte ist von jemandem gesagt. F. Varela
Tun ist Erkennen, und Erkennen ist Tun. H. Maturana.

Jede Begriffsbildung ist ein aktiver und willkürlicher Akt.

Wäre es, statt zu antworten, was etwas „sei, nicht viel interessanter zu fragen, wer sich  einen bestimmten Begriff ausgedacht hat, und was er damit bezwecken wollte?

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.“ R.M. Rilke.

Ein gesprochenes und dann aufgeschriebenes Wortes greift etwas aus einer unendlichen Vielfalt heraus und unterscheidet es so von anderem. Mit dem Prozess der Trennung konnte das symbolische Denken und damit der rasante Fortschritt der Menschheit beginnen: Zuerst musste man „an einem Himmel oberhalb einer Erde eine Sonne, viele Sterne und einen Mond“ voneinander unterscheiden, bevor man sie miteinander vergleichen könnte.

Die erste mathematische Anweisung: „Triff eine Unterscheidung! Nenne sie die erste Unterscheidung. Nenne den Raum, in dem sie getroffen wird, den Raum, der durch sie geteilt oder gespalten wird.“
J.S. Brown (Mathematiker), Laws of Form, 1969

Im Alltag erweisen sich begriffliche Trennungen als sehr praktisch.

Sie erlauben, dass jemand (z.B. ein Junge) handelt und das Objekt so bewegt, wie es für ihn nützlich ist: z.B. mit dem Ball ein Tor schießt. Bei genauerem Hinsehen sind aber Bälle, Steine oder Igel gleichermaßen vorübergehende Erscheinungen, die sich mit der Zeit verändern, mit den Zusammenhängen, in denen sie sich befinden.

Jeder Betrachter, nimmt das, was ein Begriff bezeichnen soll, in seiner Veränderlichkeit anders wahr, und setzt es mit anderen Aspekten seiner Selbst in Beziehung. Käme man solchen Dingen sub-atomar nahe oder wären sie kosmisch weit entfernt, verlören die trennen Begriffe, die sie aus ihrer Umgebung hervorgehoben haben, völlig an Bedeutung.

Ein Wort kann vieles bedeuten

Mit der Aussprache eines Wortes (nach Schulz von Thun) sind mindestens vier Aspekte verbunden: Sach-Inhalt, Beziehung, Selbstoffenbarung und Appell.

Sprache ist nur ein Aspekt von Beziehungen, in denen das Ausgesprochene gemeinsam mit wortlosen Sprachen erklingt (Sprachmelodie, Lautstärke, Betonung, Rhythmus und Klang, Körperausdruck, Mimik, Gestik …). Und selbst das Aufgeschriebene sagt oft zwischen Zeilen (oder durch das, was nicht gesagt wurde) mehr aus, als es Wort zu Wort Übertragungen maschineller Übersetzungsprogramme vermuten lassen.

 Jedes Wort ist ein Missverständnis. Nietzsche

Es ist wichtig (u.a. vor Verhandlungen) die Begriffe zu klären

Nur wenn klar ist, was eigentlich (!) gemeint ist, wenn ein anderer ein Wort verwendet, kann der Begriffszusammenhang mit den eigenen Überlegungen und Gefühlen in Bezug gesetzt werden.

Wie anderen chinesischen Philosophen war Konfuzius vor 2.500 Jahren die Relativität der Begriffe deutlich bewusst. Er war nicht an der Wahrheit („wie es wirklich ist“) interessiert, sondern an einer Ordnung, die familiäre und staatliche Beziehungen regeln sollte. Daher empfahl er Rituale so auszuführen, als ob (as though) es höhere Wirkkräfte gäbe, die das verlangten. (Littlejohn 2007)

Trotzdem, oder gerade deshalb, verwies er auf die Notwendigkeit, eindeutig zu vereinbaren, was mit den jeweiligen (willkürlichen) Begriffen gemeint sei.

Und damit hat er bis heute Recht:

Literatur

  • Littlejohn R: Kongzi on Religious Experience, South East Review of Asisan Studies 2007, 29:225-32
Letzte Aktualisierung: 27.02.2023