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4. April 2024

Um die Ecke denken

„Probleme sind nicht dazu da, um sie zu lösen.“
Philippinisch

Die meisten denken geradeaus

zumindest in Europa.

Kongressankündigung Evensi: „Im November 2019 feiern wir wieder drei Tage Innovation, Co-Creation und gemeinsames Querdenken: beim 10. Querdenker Kongress in München! Auch in diesem Jahr treffen sich wieder über 400 Experten, Entscheider, Forscher und Denker um das Thema „ethik-ökonomie- technik“ zu diskutieren. Beim größten Insider-Treffen und Zukunftsgipfel aller Innovationspioniere  … lernen Sie Zukunftspioniere unterschiedlichster Branchen kennen und vergrößern Sie Ihr Netzwerk mit außergewöhnlichen neuen Kontakten. …“

Noch 2019 betrieben pfiffige Unternehmerberatungen „Veränderungs-Management“. Und suchten dafür aktiv nach „Querdenkern“. Heute erhält man unter ‚querdenker-kongress.de‘ nur noch eine Fehlermeldung.

Damals glaubte man noch an die Innovationskraft des Kapitalismus. Und an seine Visionen für eine menschenwürdige und umweltverträgliche Zukunft.

Aber seit 2020 mögen (überwiegend männliche) Militärs, Profitjäger, Bürokraten, Politiker, Mediziner, Dogmatiker und Projektleiter keine Querdenker:innen mehr.

Gerade Männer schätzen viel mehr leitliniengerechte „zielorientierte Projektplanungen“ in den diversen Kriegen gegen Probleme.

„Zielorientiert“ werden Probleme beschrieben, die den Weg zum Ziel verbauen. Die verwirrend veränderliche Realität wird auf eine Diagnose zusammen gedampft. Aus einem komplexen Zusammenhang (Mensch) wird ein handhabbarer Einzelfaktor (Gallenblasenentzündung).

Wurde das Problem erst einmal benannt (Gallenstein), muss nur noch umformuliert werden: Und schon hat man das Ziel, das nichts weiter ist als das Gegenteil des Problems („Kein Stein mehr“).

Wurde so die Ursache des Problems eindeutig erkannt („Bauchschmerz“), wird zielgenau gehandelt („Gallenblase entfernen“). Und anschließend messen, ob es besser geworden ist. Wenn nicht, entstand ein neues Problem. Aber auch das kann dann diagnostiziert, bekämpft und beseitigt werden.

Auch bei der kreisförmigen Weiterentwicklung des linear-zielorientierten Denkens („Project Cycle Management“) geht es um ‚Immer mehr desselben‚: Erneut die gleiche Intervention mit leichten Veränderungen auf einer „anderen Ebene.

„Lineares“ Denkens folgt einer Richtung, in die es sich bewegen kann. Einzelnes wird analysiert, um an Stellschrauben zu drehen. Grafik Jäger, Bild Jäger Jemen 1996

Uninteressantes und scheinbar Belangloses wird bei zielorientiertem Denken ausgeschlossen. Jeder einzelne Schritt scheint folgerichtig zu sein, weil er logisch aus der Aktion erfolgen muss. Die Realität wird in Kategorien, Klassifizierungen und Kenn-Marken eingeteilt. Man kennt nur das, was sich in der Vergangenheit immer bewährt hat. Und man schlägt den wahrscheinlichsten und erfolgreichsten Weg ein, um das Problem zu beseitigen, und so das Ziel zu erreichen.

„There is no alternativ! (TINA)

Handlungen in Problemlöse-Trance sind ‚alternativlos‘.

Erstaunlicherweise sind anschließend die Probleme trotzdem nicht verschwunden. Oder es entstanden durch das Bekämpfen von irgendetwas neue Katastrophen. Dann muss eben weiter gekämpft werden. Mit noch mehr Kraft und Entschlossenheit, gegen was auch immer.

Der „Krieg gegen ein Virus“ ist dafür ein anschauliches Beispiel.

„Über Probleme reden schafft Probleme …

… Über Lösungen reden schafft Lösungen.“ Zitat: deShazer

1967 beschrieb der Kommunikationswissenschaftler Eduard de Bono, dass man „nicht-linear“, „um die Ecke“, „lateral“ oder „quer“ denken könne. Der kürzeste Denk-Weg zum Ziel sei nicht unbedingt der beste. Denn er beruhe auf eingebrannten Mustern, die sich in der Vergangenheit bewährten: Beim Denken sei es wichtig, neben dem erlernten, auch erfahrenes Wissen zuzulassen. Und in Beziehungen, Wechselwirkungen, Sprüngen, intuitiv und vernetzt zu denken. Damit neue, überraschende Sichtweisen und Handlungsmuster entstehen können.

Querdenkende handeln schöpferisch und am Prozess interessiert. Sie probieren aus. Sie machen Fehler, und lernen daraus. Nicht jeder ihrer Schritte muss richtig sein. Sie nehmen Sprünge wahr. Sie akzeptieren und begrüßen, was sich zufällig aufdrängt. Sie legen sich nicht fest. Sie erforschen unwahrscheinliche Wege und freuen sich des Weges.

Erstaunlicherweise erreichen solche Menschen oft erstaunlich viel: Aber nur selten genau das ursprünglich anvisierte Ziel:

„Diese Art zu denken, nenne ich „Laterales Denken“: die Fähigkeit, aus dem Gefängnis der alten Ideen auszubrechen und neue zu entwickeln.“ De Bono

Im Prinzip führt „um die Ecke denken“ dazu, weniger von dem zu tun, was schon immer getan wurde. Und stattdessen mehr „Anderes“ zu erdenken, zu ermöglichen und zu verwirklichen. Weniger an dem interessiert sein, was ist. Und dafür mehr an dem, was auch sein könnte.

„Linear und vertikal“ rechnend sind algorithmen-gesteuerte „Deep learning“-Programme den Menschen überlegen. Sie denken nicht. Sondern nudeln nur Statistiken durch. Menschentypisches Denken dagegen wäre „deep thinking“ (nachdenken und hinterfragen) und zugleich „deep feeling“ (fühlen und bewerten). Durch Verbunden-sein mit der Situation, wie sie ist. Und durch Begleitung der Eigendynamik, dessen, was geschieht: interessiert, innovativ und mit klarer Intention.

Querdenken ist die Grundlage wissenschaftlichen Handelns.

Der Physiker Hans-Peter Dürr (2029-2014) schrieb vor über einem Jahrzehnt, dass es zum nicht-linearen Anders-Denken keine Alternative mehr gäbe. Zumindest dann, wenn die Menschheit im Ökosystem der Erde überleben wolle.

Denn alles Lebendige sei durch einen labilen Schwebezustand gekennzeichnet, in dem sich alles kreativ, und nur in Grenzen vorhersehbar, entfaltet. Die Realität gleiche einer veränderlichen Gestalt, und keinesfalls einer Statik, die uns nur als Illusion von „Objekt und Materie“ erscheint. Gesunde, lebende Ökosystem „sind“ nicht. Sie „werden“: instabil balanciert, veränderlich, verletzlich, dynamisch, sich selbst erneuernd. Sie sind schützenswert.

„Die Zukunft ist im Wesentlichen offen, weil die Welt in jedem Augenblick neu erschaffen werde, vor dem Hintergrund wie sie vorher war. Die Zukunft wird gestaltet durch das was jetzt passiert sie hat den Charakter einer fortwährenden kreativen Entfaltung die Welt ereignet sich gewissermaßen in jedem Augenblick neu nach Maßgabe einer Möglichkeit Gestalt und nicht rein zufällig im Sinne von „anything goes“ H.-P. Dürr

Natur sei im Grund Verbundenheit. Wirklichkeit sei nicht dinglich.

„Es gibt streng genommen überhaupt keine Möglichkeit, die Welt in Teile aufzuteilen, weil alles mit allem zusammenhängt. Damit ist uns im Grunde die Basis entzogen, die Welt reduktionistisch verstehen zu wollen, also sie auseinanderzunehmen, nach ihren Bestandteilen zu fragen und diese dann in einer uns geeigneten erscheinen Form wieder zusammen zu kleben.“ H.P. Dürr

Es sei (so Dürr) wichtig, damit aufzuhören einzelne Probleme bekämpfen zu wollen, die sich aus unseren jeweiligen Vorstellungen, Annahmen und Modellen ergeben. Stattdessen sei es nötig, ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln und für ökologische, soziale und menschlich-individuelle Nachhaltigkeit zu sorgen.

„Das bedeutet jedoch, dass die Nachhaltigkeit im Widerspruch steht zum Wirtschaftsparadigma der heute dominanten industriellen Zivilisation, die sich immer noch an einem ungehemmten materiellen Wachstum orientiert, obwohl die Gegenwart zeigt, wie wenig solide und zukunftsfähig dieses Paradigma ist. Um die offensichtliche und notwendige um Steuerung zu erreichen, sind einschneidende Änderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Spielregeln nötig. Deshalb steht die menschliche Gesellschaft vor der existenziellen Herausforderung, die eskalierenden und nun brüchig werdenden materiellen Wachstumsprozesse durch geeignete Maßnahmen um zu lenken.“ H.P. Dürr

Aus der physikalischen Erkenntnis der Systemzusammenhänge ergibt sich, dass die Bekämpfung von Einzelproblemen („ein Keim, ein Umweltproblem“) keinen Sinn macht, wenn die Auswirkungen auf den Gesamtkontext nicht bedacht werden.

Dürr setzt seine Hoffnung auf die Zivilgesellschaft, die durch Bewusstwerdung eine radikal neue Einstellung gegenüber Politik und Wirtschaft erzwingen könne und müsse. Hoffnungsvoll schließt er, Wirklichkeit ist keine starre Realität, sondern voller Möglichkeiten um und in uns. Sie kann also (prinzipiell) von uns geändert und neugestaltet werden.

„Wenn wir alle die offene Wirklichkeit als Vision haben,
dann wird es uns gemeinsam auch gelingen, diese lebendigere Welt zu verwirklichen.“ H.P. Dürr

Lineare Projektplanung in einem Projekt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.
Bild Jäger, Laos 2020

Kapitalismus in der Klemme

Kapitalistische Wirtschafts- und Finanzsysteme ohne Wachstum brechen zusammen. Weiteres ökonomisches Wachstum wird aber früher oder später zu einer ökologischen Ereigniskette führen, die die Evolution in eine neue Richtung lenken wird.

Mahnungen von Naturwissenschaftler:innen (wie uva Dürr) blieben weitgehend folgenlos. Im Gegenteil: das Weltwirtschaftswachstum der letzten Jahre übertrifft alles bisher in der Menscheitsgeschichte bekannte. Wir verbrauchen zurzeit die Ressourcen von mehreren Erden, obwohl uns nur eine zum Leben bleibt. Um diesen (prinzipiell unlösbarene) Widerspruch zu besänftigen, suchte man noch bis 2019 nach innovativen Ideen:

„Wieviel Ethik kann sich die Ökonomie der Zukunft im Spannungsfeld von Technisierung, Globalisierung und Digitalisierung leisten? Mit ethischem Unternehmertum, sozialer Raffinesse Ökonomie und technischer Raffinesse Zukunft gestalten!“ Flyer, 10. Querdenker-Kongress November 2019

Wenige Monate später galt „Querdenken“ dann plötzlich als suspekt und gefährlich. Etwas Hinterfragen klang plötzlich verdächtig nach Verschwörungstheorie, Irrsinn, Radikalismus und Fake News.

„Zweifel und Anders denken“ wurde verdrängt durch Angst, Glauben, Gehorchen und Hoffen. Wird aber der Bevölkerung, und besonders den Kindern, das kreative Denken ausgetrieben, verengt sich die geistige Beweglichkeit der Gesellschaft nur auf das Wesentliche: Mitmachen und Mitschwimmen. Damit vermindert sich die Innovations- und Konkurrenzfähigkeit (z.B. gegenüber Südostasien). Das müsste eigentlich den Kapitalinteressen im Westen widersprechen. Es sei denn man glaubte, Rechner seien zu schöpferischem Denken fähig.

Wie jede Religion, als Ansammlung von Ritualen und Dogmen, verfolgt auch das „Neue Normal“ seine querdenkenden Ketzer. Wie jeder Glaube kann auch der Glaube an „Gesundheit“ Druck und Zwang erzeugen, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Aber diesem Neo-Kult fehlt eine Vision, eine Sehnsucht, die Menschen in eine sinnvolle Zukunft ziehen könnte.

Die gewaltigen Investitionen in Bekämpfungsstrategien (gegen Klimawandel, gegen Viren, gegen Schurkenstaaten) werden das jetzige Krisen-Chaos sicher noch einige Zeit stabilisieren. Aber „grünes, nachhaltiges“ Wachstum, Erreger-Ausrottungen und Militärstrategien, können nicht für friedvoll-balancierte Entwicklungen sorgen.

Eigentlich wäre gerade jetzt für den Kapitalismus „Querdenken“ unverzichtbar. Das erforderte aber übergeordnete Werte, in deren Kontext neue Ideen einen Sinn ergeben könnten. Ethik spielt aber bei der Transformation des Kapitalismus (den sogenannten „Reset“ der Weltwirtschaftsordnung) keine (für mich) erkennbare Rolle mehr. Innovatives Denken und Handeln muss deshalb verdrängt werden, weil es (wie schon bei Dürr) die Systemfrage stellen muss. Wenn ihm aber kreatives Denken abhanden kommt, wie soll sich dann der westliche Kapitalismus regenerieren?

Eigentlich hätte man aus Tschernobyl-1986 für das Katstrophenmanagement: Denn hier ging es weder um ein Naturereignis noch um Technik-Versagen. Der Psychologe Dörner analysierte Tschernobyl als Beispiel für menschliches Versagen: Es war gekennzeichnet u.a. durch Herumfummeln in komplexen Zuständen, und ein anschließendes Übersteuern bei sich aufschaukelnden Schwingungen

Die Lage, in der wir uns befinden, ist unübersichtlich. Gerade jetzt, macht es viel Sinn, „um die Ecke“ zu denken. Um Möglichkeiten zu entdecken, und um deren etwas Raum zu erweitern.

Mehr

Empfehlungen für kritisches Denken

Bertrand Russel

1872-1970

  1. Nie absolut sicher sein.
  2. Keine Evidenz vertuschen.
  3. Nie Denken abwürgen.
  4. Rational (emotionsberuhig und ideologie-arm) argumentieren.
  5. Kein Respekt haben vor Autoritäten.
  6. Keine Macht nutzen, um Meinungen zu unterdrücken
  7. Keine Angst haben exzentrisch zu erscheinen, denn jede akzeptierte Meinung war einmal exzentrisch.
  8. Mehr Spaß haben an intelligentem Dissens, als an passiver Zustimmung.
  9. Bei der eigenen Wahrheit bleiben.
  10. Nicht neidisch sein auf das Glück der Narren, die sich im Paradies des Wissens glauben.

Carl Sagan (1934-1996)

Rules for Bullshit-Busting and Critical Thinking

  1. Unabhängige Bestätigung der „Fakten“.
  2. Alle sachkundigen Standpunkte einbeziehen.
  3. Wissenschaft kennt keine „Autoritäten“.
  4. Mehrere Hypothesen ausprobieren und verfolgen.
  5. Nicht (zu sehr) an einer Hypothese festklammern.
  6. Es messen, um es zu vergleichen.
  7. Prüfen, ob jedes Glied einer Argumentationskette funktioniert.
  8. Occam’s Rasiermesser anwenden: Im Zweifel die einfachere Hypothese wählen.
  9. Hypothesen versuchen zu widerlegen, besonders die liebgewonnenen.

Einstein

  • Imagination is more important than knowledge. Knowledge is limited. Imagination encircles the world.
  • It’s not that I’m so smart, it’s just that I stay with problems longer.
  • Great spirits have always encountered violent opposition from mediocre minds.
  • I believe in intuitions and inspirations. I sometimes feel that I am right. I do not know that I am.

Nicholas Taleb

Meist ereignen sich Katastrophen dieser Art nach Manipulationen und Interventionen komplexe Zusammenhänge. Das liegt u.a. an Trugschlüssen:

  • der Illusion, gegenwärtige Ereignisse zu verstehen,
  • der Verzerrung zurückliegender Ereignisse (durch ungenügende Analysen oder gefärbte Einnerungen),
  • die Überbewertung von Sachinformation,
  • die Überschätzung der Intelligenz
  • der Macht der intellektuellen und ökonomischen Elite.

Angesichts der „Unknowns Unknowns“:

  • Nicht überstürzt handeln.
  • Gleiche Fehler nicht erneut begehen
  • Sich am Vorsorgeprinzip orientieren (Nicht schaden!)
  • Das Vorsorgeprinzip nicht umkehren
    (Etwas vermarkten, weil es nutzen könnte, und es gibt keinen Beweis gibt, dass es schadet.)
  • Für kritische, neutrale, unabhängige Bewertungen sorgen
    (Insbesondere durch Personen, die frei sind von Interessenkonflikten).

Literatur

Querdenken

  • Edward de Bono: Laterales Denken für Führungskräfte. Rowohlt, Reinbek 1972
  • Dürr HP: Warum es ums ganze geht. Oekom Verlag 2019
  • Dörner D (2003): Die Logik des Mißlingens, rororo, Interview
  • Tenner, E. (1997) Why Things Bite Back: Technology and the Revenge of Unintended Consequences. Vintage.
  • Gilchrist I: Why are we so unhappy? Bücher; Video: iainmcgilchrist.com

Umgang mit unbekanntem Nichtwissen

Lineares Denken in der Medizin

Letzte Aktualisierung: 07.04.2024