Aufhören!
Krieg ist ein Verbrechen
Die Chancen für eine friedvolle Entwicklung der Welt stehen schlecht.
Interview mit US-Ökonom Jeffrey Sachs 24.04.2022

Ist Pazifismus aus der Zeit gefallen?
In Kriegen muss man glauben und auf der richtigen Seite zu stehen. Selber denken stört. Paktieren die „Versteher“, „Querdenker“ oder Schwurbler nicht mit dem Feind? Verraten sie nicht das Gute und verhöhnen die Opfer?
Kriegern gilt Friede als Schimpfwort. Sie setzen es mit Schwäche und Kollaps gleich.
Tatsächlich ist gewaltfreies Aushandeln von Konflikten wesentlich effektiver als Gewalt „gegen irgendetwas“. Es erspart Kollateralschäden. Es schont eigene Energiereserven und schafft Entwicklungs-Möglichkeiten. Kriege kommen deshalb in der Evolution nicht vor: Es vermehren sich die, die sich besser anpassen und kooperieren können.
In jeder Phase von Kriegen macht es Sinn, Pausen einzulegen. Und (zumindest vorübergehend) Gewalt nicht mit Gegengewalt zu beantworten. Erst wenn primitive Krokodil-Reflexe („Zubeißen oder Weglaufen“) beruhigt wurden, kann man Gefühle empfinden und zeigen: Wut, Ärger, Trauer, Ekel, …
Gefühle sind die Basis menschlicher Kommunikation. Hört man sie an, und versucht sie zu verstehen, gelingt es manchmal rational miteinander zu reden. Z.B. über das, was alle am dringendsten benötigen: Sicherheit.
Erst später, beim Aufbau einer Friedensordnung, können und müssen dann die Verbrechen, das Unrecht, die Morde, die Vergewaltigungen, die Zerstörungen aufgearbeitet und vor Gericht gestellt werden.
Gut und Böse klar getrennt?
Wirklichkeit ist komplex, eigendynamisch und unberechenbar. Auch in Kriegen. Und ganz besonders, wenn eine Kriegspartei, wie ein Raubtier eingekeilt, mit dem Rücken zur Wand steht.
Wer eine Bedrohung als existentiell empfindet, hat keine andere Wahl, als zu gewinnen. Denn ein Sieg der Gegenpartei könnte politisch nicht überlebt werden.
Die USA und die NATO können eine Rückstufung ihres globalen Machtpotentials nicht zulassen, zumal China dann aufsteigen würde. Umgekehrt können die Herrscher in Russland und Weißrussland nicht hinnehmen, zu Vasallenstaaten des Westens zurückgestuft zu werden. Würde die russische Wirtschaft zerstört, wie die deutsche und die englische Außenministerin fordern, könnte es tatsächlich zu einem Systemwechsel in Moskau kommen. Dann würde das rohstoffreiche Eurasien nördlich der Mongolei von westlichen Konzernen übernommen werden. Das widerspräche aber den elementaren Sicherheitsinteressen Chinas. Die Gefahr eines Weltkrieges wäre auch bei einem Sieg des Westens nicht beseitigt, und die Chance einer friedlichen Weltordnung nicht näher gerückt.
Die Situation ist komplex

Wer im aktuellen Krieg wen bekämpft, und mit welchen Finessen, ist nicht so offensichtlich, wie es scheint. Denn anders als in den Kriegen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen sich im Ukraine-Konflikt keine unterschiedlichen Wirtschaftssysteme gegenüber, und auch keine gegensätzlichen Religionen.
Stattdessen sind viele Superreiche (die je nach Lagerzugehörigkeit Unternehmer, Gangster, Mäzene oder Oligarchen genannt werden) und die Supermächtigen dabei, die Welt neu unter sich aufzuteilen. Die Menschen in der Ukraine leiden besonders, weil sie zwischen die Fronten geraten sind. Je länger der Krieg bei ihnen andauern wird, desto stärker wird ihre Lebensgrundlage zerstört werden.
Alle die gewinnen wollen, haben vor, kapitalistisches Wachstum zu sichern. Unabhängig davon, welche Fraktionen verfeindeter Konzerne, Politik-Gruppierungen, oder orthodoxer, katholischer oder protestantischer Kirchen, oder welche amerikanischen oder Kosaken-Militärs sich durchsetzen werden: die Chancen für Demokratie und Grundrechte stehen schlecht.
Sicher ist nur: Die übergeordnete Krise der Biosphäre (Klima, Arten, Wasser, Böden …) wird sich durch den Krieg seit Februar 2022 in jedem Fall verschärfen.

Ende gut, alles … aus?
Angenommen, Russlands Führung müsste erkennen, dass die Waffenlieferungen der NATO das Blatt endgültig zugunsten des Westens wenden würden. Das ist nicht unwahrscheinlich, weil die USA 33 Mrd. US$ für diesen Krieg bewilligten (bei einem Verteidigungshaushalt der Ukraine von 6 Mrd US$ gegenüber 65Mrd US$ Russlands). (FR, 31.04.2022) Russlands Führung müsste also einsehen, einen konventionellen Krieg gegenüber der NATO zu verlieren. Oder langsam wirtschaftlich auszubluten. Läge es dann nicht Nahe Verzweiflungstaten zu begehen?
Würde z.B. im Atomkraftwerk Saporischschja am Dnipro (350 km südlich von Kiew) eine konventionelle Bombe explodieren, ginge in der Ukraine das Licht aus. Große Teile des Landes (und Europas) wären verstrahlt: aber der Krieg wäre beendet. Oder? Die Antwort könnte in einem „Enthauptungsschlag“ auf die Kommandostellen in Moskau und Minsk mit hochpräzisen, taktischen Atomwaffen sein (wie die englische Außenministerin schon reflektierte). Damit wäre dann der große Krieg gewonnen. Allerdings verblieben ab dem Start der Raketen irgendwo in Deutschland noch wenige Minuten, in denen vielleicht jemand noch angesichts des eigenen Todes auf den „roten Knopf“ drücken könnte.
Anschließend herrschte in weiten Teilen des Planeten (und vielleicht auch überall) eine Zeitlang Ruhe. Bis ein paar Millionen Jahre später andere (vielleicht intelligentere) Gattungen die Erde besiedeln würden.
Für solche Szenarien ist es nicht nötig, sich gegenseitig Bösartigkeit zu unterstellen. Ein Zufall reichte, denn die Militärkomplexe stehen sich unmittelbar gegenüber, und eine kleine Fehlentscheidung könnte reichen, um einen Nuklear-Tsunami auszulösen.
Noch gibt es Chancen
Menschen können sich verweigern, bei bösartigem, menschen- und umweltfeindlichen Schwachsinn mitzumachen. Sie können auch selber denken und andern davon erzählen. Und den Kriegsdienst verweigern und Kriegsdienstverweigerern helfen.

Ich wünschte, es würden mehr Menschen darüber nachdenken, wie eine sichere, friedfertige, nachhaltige, soziale, demokratische Nachkriegsordnung entstehen könnte. Und wie wir dabei unterstützend aktiv werden können.
In jedem Fall werden wir von dem Krieg (egal ob er über Jahrzehnte andauern, oder in einem plötzlichen Knall enden wird) intensiv betroffen sein. Deshalb sollten wir
- uns jeder Beteiligung an dem Krieg enthalten,
- kein Öl ins Feuer gießen oder Waffen liefern,
- auf Diplomatie setzen,
- dazu beitragen, dass die Beteiligten einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg finden.
Mehr
Lehren aus dem sinnlosen Krieg in Afghanistan:
Einschätzungen zum Krieg in der Ukraine (Ende April 2022)
- de Zayas: „Verhandlungen sind absolute Priorität – Am dringlichsten ist ein ehrlicher Dialog und der entschiedene Wille zum Frieden: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-7-8-vom-24-april-2022.html#article_1352
- Erler, Petra : „Der Krieg im Krieg – Wenn Glauben Wissen ersetzt“ und z. B. „Wer Frieden will, muss Frieden vorbereiten“
- IPPNW: Hamburger Erklärung, 30.04.2022
- Lüders, Michael (Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft): https://www.youtube.com/watch?v=bFoFZUMUnsc
- Mearsheimer, John (amerikanischer Politikwissenschaftler): „Es ist ein Krieg zwischen den USA und Russland“ – https://www.heise.de/tp/features/im-Grunde-ein-Krieg-zwischen-den-USA-und-Russland-7064117.html?seite=all
- Müller, Christian(schweizer Journalist): „Die Mitverantwortung der USA und der NATO – vor der Osterweiterung der NATO wurde mehrfach gewarnt“ – https://www.heise.de/tp/features/im-Grunde-ein-Krieg-zwischen-den-USA-und-Russland-7064117.html?seite=all
- Peter, Ralf: Zur Berichterstattung über den Ukrainekrieg. 01.05.2022
- Sachs, Jeffrey: „Die USA würden jahrelangen Krieg tolerieren. Sie würden viele Tote in Kauf nehmen“
- Vad, Erich (Brigadegeneral a.D., militärischer Berater von BKin Merkel): Schwere Waffen „Weg in den Dritten Weltkrieg“: hier oder hier oder hier
- von Dohnanyi, Klaus: Dreiteiliges Interview auf Telepolis (hinter einer Bezahlschranke)