Die Kunst des Friedens
Vor 2.300 Jahren diskutierten chinesische Philosophen, ob Menschen gut oder schlecht sind. Seien sie böse, benötige man eine autoritäre Erziehung, Zwang, Drill, Hierarchien und Kriegstüchtigkeit. Seien Körper und Geist gut (zumindest bei der Geburt), müsse man die gegebene Natürlichkeit zulassen, pflegen oder wiederentdecken.
Mittlerweile wissen wir mehr: Der Erfolg der Gattung Mensch beruht auf der besonderen Fähigkeit zur sozialen Kommunikation. Frühe Menschen konnten für sich allein nicht überleben. Sie mussten miteinander kooperieren und die Konflikte untereinander lösen. Alle Mitglieder der Gemeinschaft waren bedeutsam, innere Reibungsverluste wurden vermieden und anderen umherziehenden Gruppen ging man aus dem Weg.
Menschen wurden in der Evolution als Gemeinschaftswesen selektioniert. Wir sind „zu Liebe fähige Tiere.“ (Maturana) Uns fehlt ein genetisch-festgelegter, den Schimpansen ähnlicher, Aggressionstrieb. Wir werden mit einer starken Sehnsucht nach Bindung geboren. Das befähigte unsere Vorfahren im Gegensatz zu anderen Frühmenschen dazu, große Stämme zu bilden. Einzelne Mitglieder konnten sich weit von der Gruppe entfernen, ohne die Gemeinschaft zu vergessen. Sie wussten, was zu tun ist, ohne dass es ihnen jemand direkt befehlen musste. Denn sie konnten sich künftiges Glück in einer engen Verbindung vorstellen:
Dies Bildnis ist bezaubernd schön
Wie noch kein Auge je gesehn!
Ich fühl‘ es, wie dies Götterbild
Mein Herz mit neuer Regung füllt.
Mozart, Zauberflöte

Warum Krieg?
Die genetische Ausstattung drängt Menschen zum Frieden. Kriegs-Kulturen widersprechen dem, was Menschen sein könnten. Trotzdem führen wir grausige Kriege. Und das Geschrei nach immer mehr Vernichtungsmitteln nimmt zu.
Die rationale Erkenntnis der Zerstörung der Lebensgrundlagen der Biosphäre (und damit auch der Gattung Mensch) wird verdrängt. Im Fokus der Kriegsdynamik stehen die Lebensgrundlagen weniger, deren Heißluftballon durch die Verbrennung von Rohstoffen aufgepustet werden muss.
Erst im letzten einen Prozent der Menschheitsgeschichte, vor etwa 10.000 Jahren, begannen Menschen sich zu bekriegen: Als sie sich niederließen, Ackerbau erfanden, fruchtbare Orte verteidigten und etwas besaßen.
Friedliebend geborene Menschen zu Kriegstüchtige zu verformen, verlangt die Sozialisation in gewalttätigen Herrschafts-Formen. (Meller: Evolution der Gewalt, 2024, Sapolsky: Behave, 2017)
Kriege dominierten die Menschheitsgeschichte erst dann, als neue Eliten andere unterjochten oder ausraubten. (Mausfeld: Hybris Nemesis, 2024) Und als gewalttätige Herrscher das Belohnungssystem der Nomaden (Eros-Pothos-Himeros) durch Todesangst ersetzten. (Gilgamesch, Neolithische Revolution).
Wenn die menschliche Genetik aber friedensorientiert wäre, müsste es möglich sein, sie zu verändern.
Nur wie?
Durch eine Renaissance
- der europäisch-rationalen Aufklärung (radikaler Universalismus)? u. a. Omri Boehm 2024
- der östlichen Philosophie? u. a. Tianxia, Neo-Konfuzianismus, Buddhismus
- Oder eine Erneuerung des Islam? u. a. Abdul Ghafar Khan
Durch Kunst?
- des Denkens? u. a. Ian McGilchrist
- des Gestaltens? u. a. Friedensatelier
- der gewaltfreien Kommunikation? u. a. GFK nach Rosenberg
- der Musik? u. a. Daniel Barenboim: West-Eastern-Divan-Orchestra
Wahrscheinlich durch all das (und viel mehr) zugleich: Durch die Kreativität vieler Menschen, die leben wollen, statt für den Wahn anderer zu sterben.
Auch durch Bewegung?
Einer der vielen Hebel, um die Kultur in Richtung Frieden zu bewegen, könnte Bewegungskunst sein. Denn die menschliche Psyche ist verkörpert. Das Gehirn ist ein Teil der nach innen und außen gerichteten Bewegungsfunktionen, die Beziehungen und Wechselwirkungen gestalten. (Wolpert Ted 2011, 2022) Kinder können sich noch erinnern, wie sich Fröhlichkeit anfühlte, bevor Drill und Zwang ihnen die Lebenslust verleideten.
Menschen sind „Werfer- und Köch:innen“.
Die Besonderheiten der menschlichen Schulter und der Hüfte ermöglichten es unseren Vorfahren, mit Händen zu tasten und sich gewandt mit Werkzeugen zu verbinden. Die Möglichkeiten, sich zu bewegen, nahmen enorm zu und erforderten Koordinierung und Planung. Um sich gewandt bewegen zu können, musste die Zukunft erahnt werden. Dem dient das Nervensystem, dessen Aufgabe es ist, die Zukunft vorherzusagen und Bewegung so zu gestalten, dass sie sich optimal an die Gegebenheiten der Situation und des Geschehens anpassen kann.
Gehirn und Bewegung sind unterschiedliche Aspekte eines Funktionszusammenhangs. Daraus folgt, dass über den Zugang der Psyche (Verstehen, Fühlen, Spüren) im Körper harmonischere, reibungsarmer Bewegungsformen angeregt werden können. Achtsame Bewegungskunst wirkt sich günstig für Gesundheit und Heilung aus.
Umgekehrt könnte die körperliche Erfahrung effektiver Bewegungsabläufe in natürlich fließenden Prozessen dazu führen, auch mit psychischen Belastungen anders umzugehen:
Das körperliche Erleben von Wachheit kann den Geist beruhigen. Die Fähigkeit, sich in Bewegung zu verbinden und gewandt Prozesse zu gestalten, kann den Drang besänftigen, zielorientiert handeln zu müssen. Es ist möglich, durch Erinnerung an die angeborene Fähigkeit zu intelligenter, natürlicher, menschentypischer Bewegung zu erfahren. Wir können gewinnen, ohne zu kämpfen. Wenn wir uns als einen sinnvollen Aspekt in Zusammenhänge integrieren. Gerade in Bewegung können wir uns und andere gelöst erleben. Schonend, fröhlich, energievoll und entspannt zugleich. Wir können innere und äußere Kräfte annehmen, nutzen und leiten. Und darauf verzichten, Gewalt mit Gewalt zu beantworten. Gemeinsam bewegt, können alle gewinnen. Ohne etwas auszuhalten, zu kämpfen oder zu fliehen.
Bewegungskunst kann heilsam sein, im Gegensatz zu militärischem Kampftraining oder Leistungssport. Viele Unterrichtsformen und Bewegungssysteme, die prozessorientiert mit Körper und Geist arbeiten, entwickeln (eher nebenbei) psychologische Konzepte einer geordneten, friedvollen Welt. Dabei orientieren sie sich an den unterschiedlichsten Traditionen oder Philosophien oder Religionen oder Kulturen oder an esoterischen Konzepten.
Neben westlich-wissenschaftlich-orientierter Philosophie fließen Dao- oder Konfuzianismus, Christentum, Sufismus, Schamanismus, Yoga, Advaita, Buddhismus, Zen, Shinto und vieles andere ein. Jedes dieser Konzepte geht dann für sich davon aus, dass man durch ein sorgfältiges körperliches Trainieren und eine Reflexion dessen, was man tut, sich einem bestimmten geistigen Zustand nähern könne, der als höher (oder bewusst-erweitert) beschrieben wird.
Viele dieser geistigen Systeme schließen ‚Anderes‘ als eine ‚Nicht-Wahrheit‘ aus. Das wird wechselseitig meist freundlich toleriert, behindert aber den Austausch oder gar ein gemeinsames (friedvolles) Handeln.
Vor dem Hintergrund von Bedrohung, Gewalt, Ausbeutung und Krieg beginnen manche Bewegungslehrer:innen darüber nachzudenken, welchen Betrag sie durch ihre Kunst zu einer friedlichen gesellschaftlichen Entwicklung beitragen könnten.
Zum Beispiel betonen einige Yoga-Lehrer:innen die innere Zentrierung von Körper und Geist, die das Umfeld günstig beeinflussen kann. (Yoga-Journal 2024) Und ein Taiji-Lehrer denkt darüber nach, ob und wie „eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt …“, oder wie eine Entschleunigung im Zeitalter der Hyperschallraketen möglich sein könnte (Klaus Mögling, TP 24.012024)
Aus körperlichem Erleben abgeleitet unterrichtet Mögling „Friedenskunst“. Vielleicht so, wie ich es aufgrund meiner Erfahrung interpretiere: „Niemals Gewalt mit Gegengewalt beantworten – sondern immer gewaltlos und mit Ruhe und Besonnenheit.“
Körperliches Training, um an „Friedensfähigkeit“ zu gewinnen, benötigen Kindergärten und Schulen. Besonders angesichts der Bundeswehr, die dort für die Kriegstüchtigkeit wirbt.
Möglicherweise könnte Unterricht in achtsamer Bewegung sogar zur verbalen Abrüstung beitragen:
„Demokratie benötigt eine freie öffentliche Kommunikation
und darf nicht zum Raum kognitiver und emotional
wirkender Kriegsführung werden.“
Mögling et al.: Telepolis 24.012024