Die Krise christlicher Kirchen
2019 erklärten jeweils mehr als eine viertel Million Christen ihren Austritt aus der katholischen oder der evangelischen Kirche. 2020 traten 359.338 Mitglieder aus der katholischen Kirche aus. (ZDF, 27.06.2022) 2022 sind nur noch weniger als die Hälfte der in Deutschland lebenden Menschen Mitglied einer der beiden großen christlichen Konfessionen.

Historisch war die Erfolgsstory des Aufstiegs christlichen Kirchen verbunden mit der Stabilisierung politischer Herrschaftssysteme:
- Römisches Reich (in Form von Byzanz bis ins 15. Jhh.)
- Europäischer Feudalismus, insbesondere in Abgrenzung zum Islam ab dem 8. Jhh.
- Kolonialismus, beginnend mit Spanien und Portugal ab dem 15. Jhh.
- Kapitalismus ab dem 17. Jhh., beginnend in Holland, England und den USA
Weltliche Herrscher:innen bedienten sich der Ethik des Christentums. Ihre Macht beruhte auf dem Vertrauen ihrer Untertanen, dass sie einer höheren (unanzweifelbar-göttlichen) Weisheit untergeordnet seien. Diesem Schein diente ihr demonstrativer, sonntäglicher Kirchgang, und die Begleitung durch einen Priester, der Glaubensritualen zelebrierte und die Kriege segnete.
Die aktuelle Krise der Kirchen rührt daher, dass
- ein übergeordnetes, ethisch-gegründetes Wertesystem weltweit immer weniger erkennbar ist: Die Ausübung der gesellschaftlichen Macht beruht spätestens im 21. Jhh. ausschließlich auf wirtschaftlicher, finanz-kapitalistischer Dynamik.
- es den Kirchen zunehmend nicht mehr gelingt, die Menschen durch ihren Glauben im Sinne der Interessen der politisch-wirtschaftlich Mächtigen zusammenzuhalten. Und folglich die Bedeutung von „Ersatz-Religionen“ im 21. Jhh. erheblich an Bedeutung zunimmt. Also von politisch-kommerziell gesteuerten Medien-Kampagnen, die ablenken, abhängig machen und (u.a. durch Angstauslösung) für linear-zielgerichtetes Bevölkerungshandeln sorgen.
- die Kirchen bezüglich der großen ethischen Fragen (Krieg und Frieden, Gesundheit als höchstes Ziel, Zerstörung der Lebensgrundlagen der Biosphäre) nicht mehr als eigenständige moralische Instanz wahr- oder ernst-genommen werden.
Der christliche Theologe Hans Küng (1928-2021) versuchte diesem Trend etwas Neues entgegenzusetzen: Er forderte eine übergeordnete friedliche, nachhaltige, zukunfts-gewandte Ethik aller Weltreligionen.
„Das Prinzip Menschlichkeit, die »Goldene Regel« der Gegenseitigkeit, die Verpflichtung auf Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, ökologische Verantwortung und die Gleichberechtigung und Partnerschaft. („Weltethos“)
Küngs Vorschläge ähneln denen des Dalai Lama, der Ethik für wichtiger hält als Religion, oder des Neo-Konfuzianers Zhao Tingyang, der glaubt, die Geschichte der Menschheit beginne erst, wenn sich eine Weltinnenpolitik entwickle. Im Grunde besinnt er sich zurück auf die Werte der ersten monotheistischen Religion: „Gutes Denken. Gutes Reden. Gutes Handeln.“ (Gatha, die Lehre des Zarathustra) Natürlich ergänzt durch modernes Wissen. Z.B. dass menschliches Handeln notwendig allen Lebensformen der Biosphäre nutzen muss, da sich sonst das übergeordnete Welt-Ökosystem (früher oder später) ohne die Gattung Mensch erneuern wird.
Hans Küng eröffnete mit seinem Vorschlag eine Möglichkeit, wie das Christentum eine Renaissance erleben könnte: Durch Entwicklung einer universellen Moral, die politischem und wirtschaftlichen Handeln übergeordnet sei.
Das stünde aber zwangsläufig im Gegensatz zu den krebs-artig wachsenden (Un)-Ordnungssysteme, die nach außen die selektiven Moralvorstellungen mächtiger Industrie-Interessen vertreten. Die Politisierung der Moral in den führenden Wirtschaftsnationen bedeutet, dass Mord, Ausbeutung, Vertreibung, Lüge, Vernichtung, Diktatur, Umweltzerstörung relativiert werden: je nachdem, ob sie „uns“ schaden oder nutzen.
Dieser werte-losen Beliebigkeit könnten die christlichen Religionen, eine neue Moral entgegensetzen, die absolut (ausnahmslos) für alle gelten sollte: Gleiche Menschenrechte (ohne Ausnahmen), weltweit-geltendes Völkerrecht, Verfolgung aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Beachtung des Wohls von Gesamtzusammenhängen, Ächtung aller Formen von Gewaltanwendung (insb. Krieg und Vertreibung), Vorrang für das Gedeihen der Biosphären-Vielfalt, …
Stattdessen piepst das Stimmchen der christlichen Kirchen in den großen Krisen des 21. Jahrhunderts immer leiser.
Die Kirchen haben ihre Rolle des „guten Hirten“ verloren.
Ihrer Oberen laufen in der Herde der Schafe mit, die von der Dynamik des „Neuen Normals“ getrieben werden. Sie vertrauen und hoffen (brav und ängstlich), dass sie Weideland erwarte. Und beten, dass ihnen die Wüste erspart bleibe.
Und so versiegt ihr Lebenssaft: Die widerstreitende Ethik, die Mächtige zur Ordnung rufen könnte.
Die Kirchen vertrocknen.
Vollständiger Artikel:
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