Flache Geburten

Unsere Hüftgelenke machen uns zum Menschen (Webb 2025):
Ohne ihre besondere Gestalt und Funktion gäbe es keinen aufrechten Gang, und in der Folge auch keine Befreiung der Schultergelenke.
Menschen können ihre Hände frei nutzen. Sie können tasten, spüren, sich mit Werkzeugen verbinden und durch Gesten mit anderen kommunizieren.
Erst durch die soziale Aneignung dieser Fähigkeiten entwickelte sich die einzigartige Funktion des Gehirns im Schutz der engen mütterlichen Versorgung. (Webb 2025)

Bei unseren nächsten Verwandten (Schimpansen, Bonobos) verlaufen Geburten unproblematisch. Bei Menschen muss sich der Fetus spiralig durch einen herzförmigen Geburtskanal drehen, um dann in einer ungünstigen Lage geboren zu werden, mit dem Gesicht nach hinten. Ohne beruhigende Begleitung und Unterstützung bei der Geburt hätten viele Frauen diese schwierige Phase nicht überleben können.
Aus der Notwendigkeit, bei der Geburt zu helfen, entwickelte sich menschentypische soziale Kompetenz. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Gesten kommunizierender Hände, die herausreichen, Kontakt aufnehmen und sich entspannt mit einem Gegenüber verbinden, um zu tasten und etwas Gespürtes fühlend zu bewerten.
Etwas zu ergreifen, es manipulieren oder an ihm zu ziehen würde dagegen die Wahrscheinlichkeit der Müttersterblichkeit bei frühen Menschen deutlich erhöht haben. Denn jede Form von Gewalt unter der Geburt verschlimmert die Dynamik gefährlicher Entwicklungen. Weil auch zielorientiertes, geschicktes Handwerk oft Probleme erzeugt, die es ohne die Eingriffe nicht gegeben hätte, sollten Hände (die nicht fühlen, sondern etwas tun wollen) in der Geburtshilfe möglichst lange verborgen sein.
Dagegen sind kommunizierende Hände gewandt in einem fließenden Prozess des Gestaltens verbunden: schonend, effektiv, gewaltlos. Dabei wirken die Hände (gesteuert durch zwei Gehirnhälften) zusammen und ergänzen sich: Eine offene Hand stabilisiert die Verbindung, während sie die andere über die wachen Fingerspitzen tastet oder etwas über den Körper, geleite über den Daumenballen, sanft bewegt, ggf. verlängernd heraus reichend, über ein Instrument.
Kleinkinder lernen die Grundlagen dieser für Menschen typischen sozialen Kommunikation der Hände durch körperlichen Kontakt, Mimik, Haltung, Beziehung und Klang. Und erst dann, davon abgeleitet, allmählich durch die Sprache.
Um einen natürlichen Geburtsprozess zu erleichtern, müssen Hebammen und Ärzt:innen die angeborenen Fähigkeiten zu beziehungsreichem und berührendem Handeln verfeinern und weiterentwickeln. Sind sie dazu in der Lage, können die Gebärenden ihnen vertrauen, weil sie sich in ihren sicheren Händen aufgehoben fühlen. Die Hände bilden eine Kontaktstelle, um in einen dreidimensionalen Raum hinauszuspüren und zugleich von dort gefühlt zu werden. So entsteht eine vorübergehende Beziehung zwischen zwei lebenden Subjekten, die sich gleichermaßen in der Beziehung wahrnehmen. Die Grundlage professionellen Handelns in der Geburtshilfe ist daher eine Einstellung, sinnvoll tätig werden zu wollen. Um für einen anderen (in Verbindung) Zeit, Geduld und Mühe aufzuwenden.
Seit 100 Jahren aber wächst der Wunsch nach technischer Unterstützung, um das Leben der Geburtshelfer und -helferinnen zeitsparend zu erleichtern. Dazu wird die vielgestaltige psychologisch-soziale Komplexität und die räumliche Dynamik des Geburtsprozesses auf weniger Faktoren oder Mess-Daten reduziert, die das scheinbar Wesentliche abbilden sollen. Während so zunehmend flache Bilder und Graphiken an Faszination gewinnen, verliert die menschentypische Lebendigkeit an Bedeutung.
Voll im modernen Trend liegt ein Übungslabor für Hebammen mit „simulierten Wehen und einem Knopf im Ohr“ (Spiegel 25.05.2025):

Die Ausbilderin der angehenden Hebammen ist nicht mehr als Mensch im 4-dimensionalen Raum einer konkreten Situation präsent. Sie sitzt in einem Terminal und betrachtet zwei-dimensionale Bilder einer Realitätssimulation und erteilt Anweisungen über Funk.
Ihre Studentin soll z.B. eine „Schauspiel-Patientin“ bei etwas „anleiten“: beim Ein- und Ausatmen.

Das tut eigentlich jeder Mensch, dessen Stammhirn noch lebt, von allein: aber in Angst, Not, Schmerz eben nicht so effektiv. Also soll die Studentin hier lernen, wie sie eine Gebärende beruhigend beeinflussen kann. Das erfordert eine freundliche, offene, empathische Einstellung, eine vertrauensvolle Kontaktaufnahme durch Sprachmelodie und Berührung.
Und natürlich auch eine körperliche Verbindung, die Sicherheit vermittelt, weil sich der Kontakt durch gegenseitige Entspannung immer besser stabilisiert.
Äußerlich kann man das Gelingen eines solchen Prozesses angesichts von Körperhaltung, Gestik, Mimik erkennen. Und durch Hören: durch den Atmenrhythmus der Fachkraft, der sich dem aufgeregten Rhythmus der Klientin anpassen kann, um ihn so zu verlangsamen. Dazu müsste man aber zuerst lauschen, wie die andere atmet. Dabei kommt die, die etwas langsamer, achtsamer handelt, schneller voran.
Tut die Studentin des Lehrvideos das?
Nein, natürlich nicht, denn sie kann es ja bisher nicht besser. Aber warum fiel bei der Produktion dieses Videos nicht auf, „dass sie es nicht tut“?
Der rechte Arm der Studentin hängt kollabiert und energielos herab: eine Geste der Hilflosigkeit oder des Desinteresses. Stattdessen werden bei einer Geste des Öffnens immer beide Brustbein-Schlüsselbeingelenke aktiviert, was ein Gegenüber dann als „von Herzen kommend“ erkennen kann. So entstünde ein Ausdruck entspannter Zugewandtheit: „Ich bin bei dir! Du kannst dich auf mich verlassen“.

Natürlich ist die (hoch motivierte) Studentin unsicher. Sie versucht, alles richtigzumachen. Ihre steife Haltung, der gestreckte Arm, die Faust sollen professionelle Autorität vermitteln, die sie bisher nicht ausstrahlen kann. Sie versucht zu üben, eine scheinbar, inkompetente Patientin so zu beeindrucken, dass diese dann befolgt, was sie tun soll: „Mach es genau so, wie ich es dir vormache: Tief einatmen! Und jetzt lange ausatmen!“.
Während also die eine Hand der Studentin leblos baumelt, ist die andere hochaktiv, allerdings mit einer Geste des Schließens des Brustbeingelenkes. Das geschieht einseitig, wenn eine Hand boxen will, weil dann die andere lose nach hinten schwingen kann. Ihr Arm ist ausgestreckt und die Hand durch die Anspannung der Unterarmmuskulatur zu einer Faust geschlossen. Die Faust als Ende eines geraden Armes baut eine Distanz auf („Ich, das Subjekt‘ bin hier – Du, das Objekt, bist da“). Tasten und Fühlen kann sie so nicht, weil sie nicht verbunden ist, und Vertrauen aufzubauen schon gar nicht.
Im Vergleich zu dieser Art technisch vielleicht brillanten, aber beziehungs-fernen Ausbildung erinnere ich die Ausbildung in geburtshilflichem Handwerk in Regionen, die auf weniger Hilfsmittel und bildgebende Verfahren zurückgreifen konnten. Zum Beispiel an kommunikations- und fach-kompetente Hebammen in Afrika (Bild rechts), bei denen zwei Hände zusammenarbeiten: Eine hält Kontakt, während die andere mit wachen Fingerspitzen spürt, als würde sie einen wertvollen Stoff berühren. Daumen, Daumenballen oder gar eine Faust sind gerade nicht erforderlich, weil nichts manipuliert werden soll.
Hebammen und Ärzt:innen müssten in ihren Studien eigentlich die Kompetenz beziehungsreicher, wechselseitig-fließender, körperlicher Kommunikation trainieren.
Alle Tätigkeiten, bei denen aktive Subjekte passive Objekte behandeln, können Hilfskräfte mindestens ebenso gut oder besser ausführen, wenn sie durch „Künstliche Intelligenz“ unterstützt werden. Zum Beispiel kann eine technische Assistentin in der perfekten Bedienung von Geräten geschult werden. Sie kann damit Ultraschallwellen aussenden oder elektronische Wellen aufzeichnen. Algorithmen schreiben ihr genau vor, welches Produkt in welcher Situation (leitliniengerecht) gespritzt oder geschluckt werden soll: daher wäre eigenes Nachdenken (oder das der Patientin) nur hinderlich.
Ein deep-learning-programmierter Roboter mit sanfter Computerstimme könnte einer Patientin sicher auch erklären, in welchem Rhythmus sie ein- und ausatmen soll.
Vollständige Artikel und Literatur
- Bildgebende Verfahren –
- Faszination des Flachen –
- Medizinische Katastrophen –
- Menschentypisches Schultergelenk und Hüftgelenk –
- Algorithmen Medizin