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21. Februar 2024

Aus Fehlern lernen? (!)

Inhalt

Fehler sind Meilensteine

  • Medizin lernt von Luftfahrt
  • Schweizer Modell des Systemversagens
  • Fehler der Entwicklungszusammenarbeit

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Fehler sind Meilensteine

Erfahrung entsteht nach dem Ereignis, wofür man sie brauchte. Wir lernen, indem wir die Abweichungen zwischen einem gewünschten Ergebnis und der erreichten Realität beobachten. Das gelingt gut, wenn wir etwas vorsichtig ausprobieren. Denn dann bleiben die unvermeidbaren Fehler relativ klein.

Wer sich bemüht, Fehler zu vermeiden, lernt nichts

Science is the belief in the ignorance of experts. Richard Feynman

Besonders dann nicht, wenn sie oder er rückwärtsgewandt rudert. Und dann behauptet, in Fahrtrichtung gäbe es keine Probleme. Wer nur in die Vergangenheit starrt, kann einen Eisberg, der in der Zukunft dümpelt, nicht erahnen.

Ruderer halten manchmal inne, drehen sich um und schauen nach vorne. Sie erwarten im Nebel des Unbekannten mögliche Hindernisse. Sie bleiben vorsichtig, und sind gefasst, um bei Gefahr den Kurs zu ändern.

Durch Besonnenheit verlangsamt sich die Geschwindigkeit „des Ruderns“. Statt einer geraden Linie zum Ziel ergeben sich vielleicht Kurven und Umwege. Wer sich am Prozess des Geschehens (statt an fixierten Zielen) orientiert, kann nicht auf schnelle Resultate hoffen. Zeitoptimierten Menschen, die kurzfristig Vorteile verfolgen, ist deshalb sorgsames Handeln zuwider.

Manchmal geht es dann schief

Beim Untergang der „Titanic“ im Jahr 1912 kamen etwa 1.500 Passagiere um. Daraus lernte man. Und baute ein neues Schiff: die „Eastland“. Sie wurde mit allem ausgestattet, was für einen Notfall auf hoher See gebraucht wurde: u.a. viele Rettungsboote. Bedacht wurde dieses Mal leider nicht, dass sich durch das Rettungs-Equipment an Deck der Schwerpunkt des Schiffes nach oben wanderte.

Und so kippte die „Eastland“ 1915, gut vertäut, im Hafen von Chicago um. Dabei riss fast 900 Menschen in den Tod.

Warum wurde die Eastland-Katastrophe vergessen?

Die Erinnerung an ihren unspektakulären Abgang war für handlungsorientierte Ingenieure und Manager unangenehmer, als die schicksalhaft erscheinende Titanic-„Natur“-Katastrophe. Das Beispiel des Untergangs der Eastland verunsichert. Denn es zeigt eine typische „Verschlimmbesserung“:

Eine technische Problemlösung, die einen alten Fehler „sicher“ ausmerzen soll, und dabei ein neues Problem schafft, an das bisher niemand dachte.

Irren ist menschlich. SI 2012 (8):8-15 (PDF): Was hat die Menschheit gelernt seit Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011. Werden 2023 noch den ganz großen Gau in Saporischschja (Запоріжжя) erleben?

„Es gibt immer noch eine weitere Wanze.  There is always one more bug“. Bloch

Irren ist menschlich.

Im Prinzip sind Fehler unvermeidbar. Sie sollten deshalb „Lerner“ heißen. Sie sollten bewirken, dass sich das, was bereits einmal schiefgegangen ist, nicht ein zweites Mal ereignet.

Dazu müssen Fehler wahrgenommen und akzeptiert werden. Um sie dann ehrlich, offen und transparent zu untersuchen. Werden sie dagegen vertuscht oder schöngeredet, bleibt der Lerneffekt aus.

Vollständige Artikel:

Flugunternehmen begreifen Fehler als Chance

In der Luftfahrtindustrie geht man in Schulungen offen mit Fehlern um. Z.B. mit den Erfahrungen des Absturzes des Air France Fluges 440 im Jahr 2009.

Damit sich diese (von menschlichem Verhalten beeinflusste) Katastrophe nicht erneut ereignen kann, werden Piloten geschult, auch dann besonnen zu handeln, wenn ihre Messinstrumente und Computer Unsinn anzeigen. Wie sonst (ohne die Analyse dieser Crash-Katastrophe) hätten sie das lernen sollen?

Pilot:innen trainieren die Fähigkeit zu offener, klarer, Hierarchie-freier Kommunikation. Besonders in Notsituationen. In vielen medizinischen Institutionen wäre ein solcher „Mut zu Offenheit“ sehr befremdlich. (Schmidt-Sausen 2018)

Nur wenn benannt wird, was schiefgegangen ist, können Ursachen aufgedeckt und Standards verbessert werden. Flugunternehmen wie der Lufthansa ist das spätestens seit 1990 bewusst. Fehler geschehen nicht einfach, sondern sind meist das Ergebnis vieler kleinerer Ungenauigkeiten und Aufmerksamkeiten.

Die meisten Unfälle folgen fehlerhaftem Verhaltens. besonders in starren Hierarchien, die Fehler-Vermeidungsverhalten erzwingen. Dagegen ereignen sie sich seltener, wenn in einer Organisation offen, klar und transparent kommuniziert wird: Wenn sich Menschen nicht eingestehen dürfen, etwas falsch gemacht oder Fehler beobachtet zu haben. Zum Beispiel, wenn eine Schwesternschülerin es wagt, einen Chefarzt darauf hinzuweisen, dass er vor der Visite seine Armbanduhr abnehmen und die Hände desinfizieren sollte.

Aus Fehlern wird nur gelernt, wenn alle Beteiligten unvoreingenommen und transparent eine unglückliche Ereigniskette betrachten, um darin Lücken in ihrem Handlungssystem zu entdecken. Werden dagegen sofort vermeintlich Schuldige angeklagt, wuchern Rechtfertigungs-, Angriffs- und Verteidigung-Strategien, die in einem Krieg der Worte Lerneffekte blockieren.

In der Schweiz wurde ein System der Patientensicherheit etabliert, bei dem, wie bei Flug-Unternehmen, Fehleranalysen zu Trainingszwecken genutzt werden, um strukturelles Veränderungs-Management anzuregen (www.patientensicherheit.ch). Denn gleiche Fehler können selbst dann erneut geschehen, wenn sie durch eine neue Sicherung verhindert werden sollten. (s.u., Reason 2004)

Die Schweizer-Käse-Theorie des Systemversagens

Manchmal geschehen die gleichen Fehler auch dann erneut, wenn sie durch eine ganz neue Sicherung verhindert  werden sollten. Zum Beispiel bei einer Bluttransfusion. Denn alle bisher erdachten und hintereinandergeschalteten Sicherheitsvorkehrungen gleichen Scheiben Schweizer-Käse, die zwar das Meiste abwehren, aber an mindestens einer (bisher ungeahnten Stelle) löcherig sind. Das ist in der Regel nicht schlimm, weil ein weiteres Durchdringen nach einer ersten Sicherheitskontrolle in der Regel durch die nächste „Käse“-Scheibe aufgehalten wird (Reason 2004, Peltomaa 2012).

Sind aber die „Schweizer-Käse-Scheiben“ so verschoben, dass ihre Löcher in einer Linie hintereinanderliegen, kann ein Risiko ungehindert durch alle Sicherheitshindernisse durchtreten.

Das geschieht nur selten. Aber dann erweisen sich Katastrophen, die sich trotz aller Vorkehrungen ereignen, als besonders bösartig (Thaleb 2019).

Fehler geschehen (trotz Vorkehrungen)

Es reicht also nicht „den gleichen Fehler nicht noch einmal begehen zu wollen“. Oder sich an Standardanweisungen zu klammern, die ihre Weisheiten aus der Vergangenheit ableiten. Stattdessen müssen Risiken, Unsicherheiten, Unwägbarkeiten und unberechenbare Dynamiken ernst genommen werden. Im Gegensatz zu Maschinen können Menschen mit völlig neuen Gegebenheiten kreativ umgehen. Das erfordert Kompetenzen, die durch Erfahrungslernen trainiert werden. Während Anweisungen, Regeln, Abläufe viel effizienter von Rechner-Algorithmen abgespult werden.

Das erfordert effektive Kommunikation und professionell begleitetes Erfahrungslernen. Dabei sollten alle Mitarbeiter:innen beteiligt werden. Ganz besonders auch die, die ohne böse Absicht, an unglücklichen, fehlerhaften Ereignissen beteiligt waren. Sich rasch von ’scheinbar schuldigen‘, vor-verurteilten Personen zu trennen, ist ineffektiv. Denn das verbleibende Personal wird durch Drohungen zu stressig-unkreativem Fehlervermeidungsverhalten gezwungen. Es kann sich zwar in Sicherheit wähnen, wenn alle sich punktgenau an Anweisungen, Regeln halten.

Eine rasche Vorverurteilung erzeugt eine Atmosphäre der Angst, die zu einer Verschlechterung der Patientenqualität führen kann: Durch Zuständigkeitsverhalten, „Viel hilft viel“ oder unreflektierten Gehorsam. Ein resultierendes, engstirniges Obrigkeits-Denken könnte die Fehlerrisiken weiter erhöhen, insbesondere dann, wenn die Beteiligten überlastet und ungenügend geschult sind.

Gerade Gesundheitspersonal müsste die „… Wahrnehmung für Situationen schärfen, in denen es zu Fehlern kommen kann. Und um effektiv zu sein, müssen diese Fähigkeiten regelmäßig trainiert werden.“ (Reason 2004)

Aber warum fällt es Ärzt:innen so schwer, von Fehlern zu lernen?

1976 setzte die amerikanische Regierung eine Kommission ein, zur Aufarbeitung einer vergleichbaren, wenn auch noch begrenzten, medizinisch-kommerziellen Verschlimmbesserung eines Infektionsereignisses. Die Schlussfolgerungen dieser Regierungs-Untersuchung sind bis heute aktuell:

„We believe that in the absence of manifest danger, all-out action was a mistake. Beforehand … and … after the decision. … the thing that was needed was a day around the table brainstorming Murphy’s Law: ‚If anything can go wrong it will!‘ When decisions are based on very limited scientific data, the Ministry should establish key points at which the program should be re-evaluated. (Zitate aus Neustadt: Swine Flu affair 1978)

Statt daraus zu lernen, wurden 2009 die gleichen Fehler (wie 1976) in ungleich größerem Umfang erneut begangen (siehe Tamiflu; Pandemrix&Narcolepsie). Eine systematische Fehleranalyse der verantwortlichen Institutionen (u.a. der WHO) blieb damals aus.

Und so konnten die gleichen Fehler von 2009 in ungleich größerem Maß 2020-2022 wiederholt werden.
Sollte es gelingen, die Klärung von Verantwortung und Haftung der Covid-Maßnahmen durch „Übergang zur Tagesordnung“ oder durch „Vergessen“ zu verhindern, wird die nächste Pandemie (wovon auch immer) noch wesentlich dramatischer inszeniert werden.

Literatur

Fehlermanagement in der Medizin

Lernen aus Fehlern der ‚Entwicklung‘?

Der US-Präsident Harry S. Truman verkündete am 20.01.1949 eine neue internationale „Entwicklungs“-Strategie, die sich sowohl von der „kolonialen Zivilisierungs-Mission“ als auch von den (sozialistischen) „Befreiungsbewegungen“ abgrenzen sollte:

„Das Wachstum der Produktion (der unterentwickelten Länder) ist der Schlüssel für Wohlstand und Frieden“. H.S. Truman, Inaugural Address 20.01.2049

Präsident John F. Kennedy formte dann aus dieser Idee ein globales Programm:

„Den Bewohnern von Hütten und Dörfern auf der Hälfte des Planeten, die dafür kämpfen, die Ketten des Massen-Elendes zu brechen, versprechen wir, unser Bestes zu tun dabei heraus zu helfen, wie lange das auch immer braucht. (…) wenn eine freie Gesellschaft der Masse der Armen nicht helfen kann, kann sie die kleine Zahl der Reichen nicht retten.“ J.F Kennedy, Inaugural Address, 20.01.1961

Nur wenige, die in „der freien Welt“ lebten, wagten diesen kühnen amerikanischen Thesen zu widersprechen. Einer von ihnen war der Theologe und Philosoph Ivan Illich.

Er bezeichnete die neu erfundene „Entwicklungspolitik“ als „fremdbestimmte „Modernisierung der Armut“ (Zitat aus Paquot 2017), und hielt sie für „gefährlicher als die koloniale Missionierung.“ (Zitat aus Paquot 2017)

Heute ist seine Kritik weitgehend vergessen. Aber sind viele seiner Gedanken nicht bleibend aktuell?

Ivan Illich

Die folgenden Zitate sind entnommen aus:

  • Ivan Illich (1972): „Geplante Armut als Frucht technischer Hilfe“ in „Schulen helfen nicht – Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft.“ Seiten 120-135

„Was ist „Entwicklungshilfe?

Heute verpassen reiche Nationen den armen Nationen aus Wohlwollen eine Zwangsjacke aus Verkehrsstauungen, Krankenhausaufenthalten und Klassenzimmern und nennen das nach internationalem Übereinkommen „Entwicklung“. Die Reichen, Schulgebildeten und Alten dieser Welt versuchen, ihre zweifelhaften Segnungen mitzuteilen, indem sie der Dritten Welt ihre abgepackten Lösungen aufzwingen. In Sao Paulo kommt es zu Verkehrsstauungen, während in Nordostbrasilien eine Million Menschen 800 Kilometer auf der Flucht vor der Dürre zu Fuß zurücklegen. Lateinamerikanische Ärzte erhalten im New Yorker Krankenhaus für Spezialchirurgie eine Ausbildung, die sie nur wenigen zugutekommen lassen, während in den Slums, wo 90 Prozent der Bevölkerung wohnen, die Amöbenruhr endemisch bleibt. Eine winzige Minderheit erhält in Nordamerika eine fortgeschrittene Ausbildung in Grundzügen der Naturwissenschaft, für deren Kosten nicht selten ihre eigenen Regierungen aufkommen. Falls sie überhaupt nach Bolivien zurückkehren, werden sie in La Paz oder Cochibamba zweitklassige Lehrer in hochtrabenden Fächern. Die Reichen exportieren veraltete Modelle ihrer Standardprodukte.

Es ist heute eine gängige Forderung, dass die reichen Nationen ihrer, militärischen Apparat in ein Entwicklungsprogramm für die Dritte Welt umwandeln sollen. […] Das aber könnte wiederum unheilbare Verzweiflung hervorrufen, weil die Pflüge der Reichen ebenso viel Schaden anrichten können wir ihre Schwerter. Amerikanische Lastwagen können bleibenderen Schaden verursachen als amerikanische Panzer. Es ist leichter, eine Massenumfrage nach jenen als nach diesen hervorzurufen. Nur eine Minderheit benötigt schwere Waffen, während eine Mehrheit auf unrealistische Weise in Abhängigkeit von der Lieferung produktiver Maschinen geraten kann, wie es moderne Lastwagen sind. Ist erst einmal die Dritte Welt zum Massenmarkt für Waren, Erzeugnisse und Verfahren geworden, welche die Reichen für sich selber entworfen haben, dann wird das Missverhältnis zwischen der Nachfrage nach diesen westlichen Produkten und deren Lieferung auf unabsehbare Zeit anwachsen. Das Familienauto kann die Armen nicht ins Düsenzeitalter befördern, ein Schulsystem kann den Armen keine Bildung verschaffen, und der Familienkühlschrank kann ihnen keine gesunde Ernährung gewährleisten. …“

„Was ist Unter-Entwicklung?

Unter-Entwicklung als Bewusstseinsform ist eine extreme Folge von dem, was wir mit Marx und Freud gleichermaßen „Verdinglichung“ nennen können: Die Wahrnehmung echter Bedürfnisse verhärtet sich zur Nachfrage nach Erzeugnissen der Massenprodukte. Ich meine die Übersetzung von Durst in ein Verlangen nach Coca-Cola. Solche Verdinglichung vollzieht sich bei der Manipulierung menschlicher Urbedürfnisse durch riesige Bürokratien, denen es gelungen ist, die Fantasie potenzieller Verbraucher zu beherrschen. Kehren wir zu meinem Beispiel aus dem Bildungswesen zurück. Die intensive Förderung des Schulwesens führt zu einer so weitgehenden Identifizierung von Schulbesuch und Bildung, dass die beiden Begriffe im täglichen Sprachgebrauch auswechselbar werden. Ist erst einmal die Fantasie einer ganzen Bevölkerung „verschult“ oder auf die Überzeugung gedrillt, dass die Schule das Monopol der Bildung besitze, dann kann man die Analphabeten besteuern, um den Kindern der Reichen eine kostenlose Schule und Hochschulbildung zu verschaffen.

Unterentwicklung entsteht, wenn durch den intensiven Vertrieb von „Patentprodukten“ die Wünsche angehoben werden. Insoweit ist die gegenwärtig stattfindende dynamische Unterentwicklung gerade das Gegenteil von dem, was ich für Bildung halte: nämlich das erwachende Bewusstsein von neuen Höhen menschlichen Vermögens und die Anwendung der eigenen schöpferischen Kraft, um das menschliche Leben zu fördern. Die Unterentwicklung hingegen bedeutet, dass das gesellschaftliche Bewusstsein vor abgepackten Lösungen kapituliert.

Der Vorgang, bei dem der Vertrieb „ausländischer“ Produkte die Unterentwicklung verstärkt, wird häufig nur höchst oberflächlich begriffen. Derselbe Mensch, den der Anblick einer Coca-Cola-Fabrik in einem lateinamerikanischen Slum empört, empfindet häufig Stolz, wenn er sieht, dass daneben eine neue Volksschule gebaut wird. Er missbilligt die ausländische Lizenz für ein Erfrischungsgetränk und würde lieber „Cola-Mex“ haben. Derselbe Mensch ist aber bereit, seinen Mitbürgern, um jeden Preis Schulen aufzuzwingen; er bemerkt nicht die unsichtbare Lizenz, durch den diese Einrichtung mit dem Weltmarkt eng verknüpft ist. …

Wem nutzen „Paketlösungen“?

Jedes Auto, das Brasilien auf die Straße schickt, versagt fünfzig Menschen ein gutes Autobusnetz. Jeder verkaufte Kühlschrank verringert die Aussicht, dass ein öffentlicher Kühlraum gebaut wird. Jeder Dollar, der in Lateinamerika für Ärzte und Krankenhäuser gegeben wird, kostet, wie der hervorragende chilenische Nationalökonom Jorge de Ahumada gesagt hat, hundert Menschenleben. Hätte man jeden Dollar für die Bereitstellung unschädlichen Trinkwassers ausgegeben, so hätte man hundert Menschen das Leben retten können. Jeder Dollar für das Schulwesen bedeutet mehr Privilegien für die wenigen auf Kosten der vielen; bestenfalls vermehrt er die Zahl derer, die, ehe sie durchfallen, gelernt haben, dass diejenigen, welche länger bleiben, das Recht auf mehr Macht, Reichtum und Ansehen erwerben. Ein solches Schulwesen lehrt nur die Geschulten, dass die noch besser Geschulten ihnen überlegen sind. 

Ihrer Anlage nach sind die „Pakete“, von denen ich spreche, die Hauptursache der hohen Kosten bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen. Solange jedermann sein Auto „braucht“, müssen unsere Städte immer längere Verkehrsstauungen und grotesk aufwendige Heilmittel dagegen in Kauf nehmen. Solange Gesundheit gleichbedeutend mit maximaler Lebensdauer ist, werden unsere Kranken immer ungewöhnlichere chirurgische Eingriffe und dazu die Drogen verordnet bekommen, die die nachfolgenden Schmerzen lindern müssen. Solange wir die Schulen dazu benutzen wollen, die Kinder den Eltern abzunehmen oder sie von der Straße zu holen oder dein Arbeitsmarkt fernzuhalten, wird unsere Jugend endlosen Unterricht erleben und immer stärkerer Anreize bedürfen, damit sie diese Pein ertragen kann.“

„Gibt es Alternativen?

Ich denke an eine ganz andere, besonders schwierige Art von Forschung, die aus naheliegenden Gründen bisher fast vernachlässigt worden ist. Ich fordere Forschung nach Alternativen zu den Produkten, die heute den Markt beherrschen: zu Krankenhäusern und dem Beruf, der sich bemüht, die Kranken am Leben zu erhalten; zu Schulen und dem daraus resultierenden Verfahren, welches denen Bildung verweigert, die nicht das richtige Alter haben, die nicht den richtigen Lehrplan absolviert haben, die nicht genug Stunden nacheinander im Klassenzimmer gesessen sind, die ihr Lernen nicht damit bezahlen wollen, dass sie sich einer fürsorglichen Aufsicht, einer Überprüfung und Bescheinigungen unterwerfen oder sich die Wertvorstellungen der herrschenden Elite eintrichtern lassen. 

Wir haben unsere Welt in unsern Institutionen verkörpert und sind jetzt deren Gefangene. Fabriken, Massenmedien, Krankenhäuser, Regierungen und Schulen produzieren Waren und Dienstleistungen, die unsere Weltanschauung abgepackt enthalten. Wir, die Reichen, stellen uns Fortschritt als Ausweitung dieses Establishments vor. Erhöhte Mobilität verstehen wir als Luxus und Sicherheit in Packungen von General Motors oder Boeing. Unter Förderung der allgemeinen Wohlfahrt verstehen wir vermehrte Bereitstellung von Ärzten und Krankenhäusern, die Gesundheit in einer Packung mit vermehrtem Leiden liefern. Wir haben uns angewöhnt, unser Bedürfnis nach mehr Lernen mit der Forderung nach immer längerem Einsperren in Klassenzimmern zu identifizieren. Anders ausgedrückt: Wir haben die Bildung zusammen mit aufsichtlicher Fürsorge, Berechtigungswesen und dem Wahlrecht verpackt und das eingewickelt in die Belehrung über christliche, liberale oder kommunistische Tugenden. 

Die Industriegesellschaften können solche Packungen für den persönlichen Bedarf den meisten ihrer Bürger liefern, aber das beweist nicht, dass diese Gesellschaften vernünftig oder wirtschaftlich sind oder dass sie dem Leben dienen. Das Gegenteil trifft zu. Je mehr der Bürger auf den Verbrauch von abgepackten Waren und Dienstleistungen gedrillt wird, umso weniger scheint er imstande zu sein, seine Umwelt zu gestalten. Seine Kraft und sein Geld werden für die Herstellung immer neuer Modelle seiner Standardwaren aufgezehrt, und die Welt wird zum Abfallprodukt seiner Verbrauchergewohnheiten.

Die Dritte Welt bedarf einer durchgreifenden Revolutionierung ihrer Institutionen. Die Revolutionen des letzten Menschenalters waren überwiegend politischer Natur. Eine neue Gruppe von Männern mit neuer ideologischer Rechtfertigung ergriff die Macht, um im Wesentlichen die gleichen Institutionen in Schulwesen, Gesundheitspflege und Wirtschaftsleben im Interesse einer neuen Gruppe von Nutznießern zu verwalten. Da sich die Institutionen nicht radikal verändert haben, bleibt die neue Gruppe von Nutznießern annähernd ebenso groß wie die frühere.

„The time of prophecy lies behind us. The only chance now lies in our taking this vocation as that of the friend. This is the way in which hope for a new society can spread. And the practice of it is not really through words but through little acts of foolish renunciation.“ Ivan Illich

Literatur

Letzte Aktualisierung: 26.02.2024