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15. April 2020

Experten-Herrschaft?

Es gibt einige Dinge, die man unmöglich wissen kann, aber es ist unmöglich, diese Dinge zu kennen. There are some things which are impossible to know, but it is impossible to know these things.
Murphy’s Law

Es gibt zwei Arten von Expert*innen:

  1. Die, die Recht haben.
  2. Und die, die im Unrecht sind.

Die, die im Recht sind, teilen die Gruppen ein. Wenn die, die dann im Unrecht stehen, protestieren, werden sie ignoriert oder verlacht oder bekämpft.

Viele angesehene Expert*innen herrschen so, wie Götter im Olymp, so lange bis niemand mehr an sie glaubt.

Jung-Experte und lebenserfahrene Gläubige, Bild: Jäger Bangkok Wat Pho 2018

Was sind Expert*innen?

Expert*innen sind Personen, die immer mehr über immer weniger herausfinden. Und die dabei große Mühe haben, den Überblick zubehalten.

Oder die, noch schlimmer, aus den vielen, kleinen, toten Details und Daten, die sie überblicken können, auf ein Ganzes zurückschließen.

Expertise und Meisterschaft

Der Mathematiker Merö untersuchte die Art des Denkens bei Anfängern des Schachspiel, bei Schach-Expert*innen und bei Spieler*innen, die den Meister-Titel zuerkannt bekamen. Anfänger waren mit Regeln beschäftigt, sie probierten etwas aus, versuchten es richtig zu machen und lernten aus Fehlern. Expert*innen rechneten aufgrund von tausenden von einstudierten Partien nach, welcher Zug jetzt in dieser Situation nach gängiger Lehrmeinung der Beste sein müsse. Ihre Lösung für die Zukunft suchten sie in Regel in der Vergangenheit.

Schach-Meister betrachteten dagegen das Spielfeld nur kurz, rechneten wenig und assoziierten welche Zug- und Figuren-Kombination zu der Situation passe. Sie handelten Situations- und Zukunft-orientiert, „intuitiv“. D.h, sie handelten so wie es das Geschehen oder ein Gesamtzusammenhang erforderte, im Vertrauen auf ihre lange Erfahrung und intensives Training. (s. Merö)

Der japanische Philosoph Tanizaki (s.u.) ergänzte, Perfektion allein sei nicht ausreichend für Meisterschaft. Dazu brauche es auch innere Ruhe und Gelassenheit, und einen offenherzigen Ausdruck, der das Herz der Menschen erwärme.

Expertise: Niemals der Weisheit letzter Schluss

Das Denkgebäude der Expert*innen ist durch Hierrarchie und Leitlinien geprägt. Beides ist oft „Drittmittel“-finanziert und hängt von Marktgesetzen ab. Daher gehen Antworten von Expert*innen oft in eine von anderen gewünschte Richtung. Und sie fragen nicht dort nach, wo sie besser nicht fragen sollten.

Ein Meister, der offenbar genau weis, wie es richtig ist. Bild: Jäger Bangkok Wat Pho 2018

Expert*innen huldigen (im Gegensatz zu „Meistern“) dem Fetisch der Quantifizierung (Muller 2018): z.B. hatte der Verteidigungsminister Robert McNamara während des Vietnamkrieges sogenannte „Body Counts“ eingeführt. Lehrer*innen, Ärzt*innen, Wissenschaftler*innen und Manager (beiderlei Geschlechts) machen die Verfolgung ihrer professionellen Ziele meist von Daten abhängig. Zahlen für Wahrheit zu halten, macht sie aber verletzlich für Fake News. Denn Daten können sehr leicht manipuliert, gefälscht oder unklar dargestellt oder interprtiert werden werden.

Den meisten Expert*innen gilt, neben „objektiver“ Datenansammlungen, als Wissen das, was andere, die über eine bestimmte Autorität verfügen, schon irgendwo aufgeschrieben haben. Je mehr man gelesen hat, was sich durch zitieren belegen kann, desto bedeutsamer klingt der eigene Text.

Ein großes Defizit der institutionalisierten Expertise ist, dass die Beteiligten in der Regel an die Wahrheiten glauben, die sie sagen. Wenn man aber zukunftsorientiert lernen wollte, müsste man eingestehen, dass man vieles nicht weiß. Wissenschaft, einschließlich der Naturwissenschaften, kann nur sehr einfache Fragen beantworten. Angesichts der Komplexität fehlen oft ernstzunehmende Theorien, die diese Komplexität erfassen. Wissenschaft ist daher in fundamentalen Fragen ein unendliches Rätselraten. Man müsste also als Expert*in vom hohen Ross steigen, und offen mit den Menschen, die von einer bestimmten Situation betroffen sind überlegen, was angesichts einer Dynamik eines Geschehens zu tun sei. Dazu brauchte man aber Visionen, um zu wissen, wo eine Entwicklung hingehen soll. Und Expert*innen mit Visionen und Veränderungswillen sind selten.

Viele Expert*inne stellen ihre Fähigkeiten in den Dienst der Interessenprivilegien der jeweiligen Mächtigen. Denn sie wollen aufsteigen, und auch den „Meister“-Status erlangen. Abweichende intellektuelle Dissidenten werden durch institutionelle Filter frühzeitig aussortiert. Der Linguist Noam Chomsky beschrieb daher Expert*innen als eine Art säkularer Priesterschaft für die Machtelite. Sie liefern Ideenpläne, Strategien, Werte, Theorien, Rechtfertigungen und Doktrin für die ökonomischen und politischen Entscheidungsträger des Herrschaftssystems. Und sie verkünden dem Rest der Bevölkerung, was sie glauben sollen.

Wir können nie ganz ausschließen, dass eine unvorhergesehene Situation eintritt, in der wir unsere Definition ändern müssen. So sehr wir es auch versuchen mögen, kein Konzept ist so eingeschränkt, dass es keinen Raum für irgendwelche Zweifel gibt. – We can never exclude altogether the possibility of some unforeseen situation arising in which we shall have to modify our definition. Try as we may, no concept is limited in such a way that there is no room for any doubt. (Waismann 1945: 123)

Der Epidemiologe David Sacket (der Mitbegründer der Bewegung „Evidenz basierter Medizin) schrieb am Ende seiner Laufbahn, ältere Expert*innen verzögerten den Fortschritt der Wissenschaft und schadeten der nächsten Generation:

„Wenn wir unseren Ansichten unser Prestige hinzufügen, verleiht das unseren Meinungen eine weitaus größere Überzeugungskraft, als sie allein aus wissenschaftlichen Gründen verdienen. Ob aus Ehrerbietung, Furcht oder Respekt, andere neigen dann dazu, nicht die entscheidenden Fragen zu stellen. Eine andere Sünde der Sachkenntnis wird bei Zuschussanträgen und Manuskripten begangen, die den gegenwärtigen Expertenkonsens in Frage stellen. … Manchmal ist dann die Ablehnung „unpopulärer“ Ideen offenkundig und bewusst abwertend. Manchmal ist die Voreingenommenheit der Experten gegenüber neuen Ideen auch unbewusst. Das Ergebnis ist dasselbe: Neue Ideen und neue Ermittler werden von Experten durchkreuzt, und der Fortschritt zur Wahrheit wird verlangsamt. (Sacket D: The sins of expertness and a proposal for redemption, BMJ, 2000, 320(7244):1283.

Laien

Im Gegensatz zu Expert*innen sind „Anfänger*innen“ unerfahren. Sie haben nicht viel gelesen und wissen wenig. Das ist ihre Stärke: Sie könnten kluge Fragen stellen. Und Eltern, Lehrer*innen oder andere Expert*innen aus der Fassung bringen.

Laien können die Details, die die Expert*innen zu durchschauen scheinen, und als jeweilige Wahrheit verkünden, nur begrenzt nachvollziehen. Sie benötigen also vorverdaute Informationen und Interpretationen, die sie verstehen können. Sie müssen folglich doppelt vertrauen: der Expertenaussage, die sie nicht verstehen, und der mehr oder weniger bekömmlichen Aufbereitung durch Medien, die von sich behaupten, objektiv und unabhängig zu sein.

Fragende Grund-Haltungen sind nur schwer auszuhalten. Die meisten Laien vertrauen daher lieber auf Expert*innen, die ihnen sagen, was sie glauben, und worauf sie hoffen sollen. Und so werden die Gläubigen dann zu Mini-Expert*innen, die in ihrem Umfeld andere davon überzeugen, wie es wirklich sei. Sie lieben es dann, Recht zu haben und zu behalten. Und suchen deshalb Informationen, die ihnen deshalb als glaubwürdig, aussagekräftig und bedeutend erscheinen, weil sie ihre Ansichten bestätigen. Ob sie korrekt sind oder nicht, spielt dann kaum noch eine Rolle. (Zaleshiewicz 2018)

Genügend Forschung wird deine Theorie schon unterstützen. Enough research will tend to support your theory. Murphy’s Law

Eine Gläubige, die hofft das Wort des Großmeisters verstanden zu haben. Bild: Jäger Bangkok Wat Pho 2018

Epistokratie – Expertenherrschaft

Einige Philosophen (Platon, John Steward Mill und David Estlund) wünschten sich ein „wahrheitsbasierte“ Epistokratie. Die Herrschaft der Klugen sei nötig, weil das Volk einfach zu doof sei für die Demokratie. Und ohne die Macht der Expert*innen sei es Verführern und egoistischen Machthabern ausgeliefert, die es manipulierten und hintergingen. (DLF 2018)

Statt der Epistokratie droht heute aber eher die Algokratie der „selbstsüchtigen Datensätze“, die transhumane Zukunftsvision der Herrschaft der Algorithmen.

Die Möglichkeit angesichts solcher Bedrohungen ist für mich: ruhig bleiben und selber denken.

Das Licht am Ende des Tunnels könnten Scheinwerfer einer Lokomotive sein. Sometimes that light at the end of the tunnel is a train. (Murphy’s Law)

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Literatur

Letzte Aktualisierung: 16.04.2020