Gewaltfreiheit: Taktik? Strategie?
Gewalt ist normal
Die vorherrschende Strategie der Kämpfe, Konflikte, Kriege ist gewalttätig. Direkt oder indirekt. Auch äußerlich nicht direkt erkennbare Brutalität ist Gewalt, wenn das Leben so schwer wie möglich gemacht wird, man „das Wasser abgräbt“ oder psychisch traumatisiert. Gewalt zielt darauf, den jeweils anderen zu unterwerfen, zu zerstören oder zu vertreiben.
Bei Tätern, wie bei Opfern wird Gewalt und Gegengewalt mit Ereignissen aus der Vergangenheit begründet. Die einen verweisen auf eine Überlegenheit, die sich aus Religion, Rasse, Geschichte, Nation, politischem System uva. ergibt. Die anderen begründen ihre Gegengewalt aus der Tradition des Widerstandes gegen erlittenes Unrecht. Sie wollen lieber gegen den Starken kämpfend untergehen, als sich ergeben. Beide Seiten sind jeweils davon überzeugt, dass das „ihr gutes Ziel“ ihre Gewalt rechtfertigt. Sie sei nötig und unvermeidbar, da sich ihnen keine andere Wahl biete.
In der Mentalität direkter oder indirekter Gewalterfahrung scheint es alternativlos zu sein, selbst gewalttätig zu sein oder zu werden. Die Reptilienreflexe des Stammhirns (Angriff, Flucht, Tot-stellen) sind immer schneller als das Wahrnehmen von Gefühlen oder gar von rationalem Denken.
Die große Gefahr für Schwächere, die direkte (bewaffnete) Gegengewalt oder scheinbar „gewaltlose“ Formen von Widerstand einsetzen, ist es, gnadenlos zerschlagen zu werden. Bei der Konfrontation zwischen Gewalt und Gegengewalt verliert kurzfristig immer der Schwächere. Die direkten Schäden und Verluste sind bei denen am höchsten, die „Gegenwehr“ leisten. Gegengewalt liefert zudem den Mächtigen den Vorwand für noch schlimmere Gewaltanwendung. Die Spirale der Gewalt gewinnt an Dynamik und reißt immer mehr Unschuldige in den Tod.

Auch die Starken sind gefährdet.
Nicht nur durch die Verluste, die ihnen scheinbar Schwächere beibringen. (Pyrrhus: „Noch so ein Sieg und wir sind verloren“ 279 v.u.Z).
Denn Gewaltanwendung kann auch ins Leere laufen. Manchmal trifft „Zuschlagen“ auf kein Hindernis. Wie bei einem Karate-Meister, bei dem der Eisblock, den er zertrümmern will, im Moment des Auftreffens seiner Handkante plötzlich nicht mehr da ist. Sinnloser Krafteinsatz schadet, besonders dem Angreifer. Auch weil Aggressoren dann ihre Moral verlieren können, die früher ihre Macht-Ausdehnung beschleunigte. Manchmal bröckelt der Rückhalt bei den eigenen Anhängern, wenn die Führer in reiner Gier zunehmend ethisch werte-los erscheinen.
Große Reiche kollabierten manchmal von innen heraus. Wenn der Preis ihrer Ausdehnung zu groß wurde. Wenn sie nicht mehr resilient genug waren, um mit äußeren Belastungen umzugehen und sich anzupassen. Wenn die Evolution der Geschichte sie wie Herbstlaub wegfegte, und dann zuvor wesentlich Schwächere ihren Platz einnahmen.
Die intelligenteste Art des Kämpfens ist es daher, (konsequent) nicht zu kämpfen und dennoch zu gewinnen.
Auch Gegen-Gewalt ist Gewalt
Meist setzen Schwächere der Gewalt Gegengewalt entgegen. Die Folgen sind dann auf der Seite der Schwächeren besonders schrecklich.
So lange eine Seite glaubt stärker zu sein, ist Gegen-Gewalt für die Mächtigeren oft eher günstig, weil sie die eignen Gewalt-Anstrengungen rechtfertigt. Wehren sich die Opfer nicht, muss man sie ggf. zu Gegengewalt provozieren, Provokateure einsetzen, oder sie zur Motivation des eigenen Lagers zu einer diabolischen Gefahr hochstilisieren.
Wenn es scheinbar Schwächeren (mit einer höheren Kampfmoral) in einer Revolution einmal gelingt die Macht zu erringen, behalten ihre siegreichen (meist männlichen) Führer in der Regel die Kriegs-Strategie „gegen irgendetwas“ bei. Viele bewaffnete Kämpfer gegen das Unrecht wurden anschließend ebenso gefährliche oder schlimmere Diktatoren wie die, die sie stürzten. So wie viele gewaltsame Problemlösungen in der Natur oft die Umweltzerstörung verschlimmerten und zu Katastrophen führten, die es ohne die Lösungsstrategien nicht gegeben hätte.
„Gewaltfreiheit“ als konsequente Strategie?
Es ist möglich einem Angreifer keinen Anlass zu bieten, noch mehr Gewalt einzusetzen. Man kann Gewalt ins Nichts laufen lassen. Der Stärkere kann dann seine Kriegsziele kurzfristig (scheinbar mühelos) erreichen, aber die Verluste der Schwächeren wären geringer, und sie würden nicht weiter geschwächt. Das Image des Starken bekäme Risse, die eigenen Anhänger wären ggf. nicht mehr von ihrem „Gut-Sein“ überzeugt. Und langfristig könnten die Schwachen an Durchdringungsdynamik gewinnen.
Die meisten bezweifeln, dass in Gewalt-Konflikten konsequente Gewaltfreiheit eine Chance haben könnte, im Gegensatz zu Strategien direkter oder indirekter Gewalt und immer dramatischerer Eskalation. Sie glauben, Menschen seien (ähnlich wie unsere Vettern die Schimpansen) genetisch auf Gewalttätigkeit programmiert. Folglich würden Menschen eben so lange „gegen“ das sie Umgebende kämpfen, bis sie sich zu Tode siegen, und dann von der Evolution ausgesondert werden.
Nur wenige glauben, die eigentliche Geschichte der Menschheit werde erst in einem neuen Zeitalter einer Weltinnenpolitik ohne Kriege beginnen. (Zhao Tingyang: „Die Weltgeschichte hat noch nicht begonnen“. Phil. Mag. Nr. 04. Mai 2022).
„Für“ statt „Gegen“
„Gegen“-Strategien sind notwendig, um Situationen in eine andere Richtung zu zwingen, oder um Hindernisse zu beseitigen. „Für“-Strategien begleiten Entwicklungen und beeinflussen sie.
Gewaltfreiheit erspart Energie, um Mächtigeres zerschlagen zu wollen, und eröffnet Möglichkeiten sich für Neues zu öffnen. Gewaltbereite sehen im Verzicht auf Gewalt den Kollaps des Schwächeren. Tatsächlich bedeutet es das Gegenteil: Weil sich die Einstellung zu Konflikten verändert.
Gewalt wird tatsächlich nicht mehr mit bewaffneter Gegengewalt oder indirekter Gewalt beantwortet. Stattdessen sorgte man dafür, dass Gewaltanwendung möglichst wenig Schäden verursacht. Besonders bei der eigenen Gruppe. Dazu müsste man annehmen, was nicht zu ändern ist. Bleiben, ohne anzugreifen oder wegzurennen. Geduldig ausharren. Sich beruhigen. Nicht in Stress oder aus Angst handeln. Sich selbst und andere schützen. Möglichkeiten erkennen. Die Zahl der Möglichkeiten vermehren. In-Beziehung-treten. Kommunizieren.
Bevor man klug und gewaltfrei handeln kann, ist es nötig zuerst selbst (konsequent) mit dem Kämpfen aufzuhören. Die Situation, wie sie gerade ist, so zu akzeptieren, wie sie sich eben gerade darstellt. Eine Pause einlegen, beim Sich-bekämpfen oder Sich-vernichten.
Die Stärke der scheinbar Schwächeren besteht gerade darin, auf Gewalt nicht mit „Schlauheit-Schnelligkeit-Kraft“ zu antworten. Sondern mit Ruhe und Besonnenheit. Nur so bleiben die Kollateralschäden bei der eigenen Gruppe minimal. Die Gewalt des Gegenübers erreicht dann nicht das, was beabsichtigt war: Den anderen im Kampf zu vernichten oder ihn zur Flucht zu zwingen.
Gewaltsysteme beginnen von innen zu schwächeln, wenn sie ins Leere taumeln. In der Geschichte gewinnt nicht immer zwangsläufig der Brutalere, sondern oft auch der Umsichtigere.
Aufmerksam: Zuhören, Lauschen, Fühlen, Verstehen
Bei gegenseitigem Respekt ergeben sich Möglichkeiten, sich ohne Vorbedingungen zu treffen, sich zuzuhören, den Bewusstseinszustand des anderen zu versuchen zu verstehen, seinem Narrativ anzuhören, und in einen Dialog einzutreten. Dann können Möglichkeiten erwachsen, aus denen sich Lösungen ergeben können.
Die Lebensgeschichte des Judo-Lehrers und Ingenieurs Moshé Feldenkrais ist dafür ein beredtes Beispiel:

Ab etwa 1921 unterrichtete er zionistische Kampftrupps (Hagana) in „Selbstverteidigung“. Aus den Prinzipien, der ihm bekannten asiatischen Kampfkünste half er bei der Entwicklung von KravMaga, einem sehr einfachen, werte-freien, hoch-brutalen Nahkampftraining für Spezialeinheiten und Geheimdienste. Dabei ist es erlaubt, den anderen zu töten, wenn er zu den Bösen zählt. 1950 reiste Moshé Feldenkrais nach Israel, um beim Aufbau des Raketen-Atom-Programms zu helfen. Er litt da bereits an den Kollateralschäden körperlich praktizierter Gewalt gegen seinen eigenen Körper: bei de Knie waren lädiert. Eine operative Lösung war damals nicht möglich, und ihm drohte der Rollstuhl. In dieser, für ihn verzweifelten Lage, erlebt er einen radikalen Umschwung seines Denkens hinsichtlich störungsfreier Bewegungsabläufe des Körpers. Er experimentierte mit intensiv-aufmerksamen, bewusst-gespürten Minimalbewegungen, die auch bei großen Störungen zu keinerlei Schäden führten, und die nur einen sehr geringen (oder keinen) Kraftaufwand erforderten. Er erfand Wege aus Katastrophen-Teufelskreisen: „Schmerz – Anspannung – Gegenspannung – mehr Schmerz – noch mehr Anspannung – noch mehr Schmerz“. Bei vorsichtigem Ausprobieren im Krankenbett entwickelte er ein in sich logisches System friedvoller, nutzbringender Bewegung. Die von ihm beschriebenen Prinzipien sind in jeder Form des Alltags nutzbringend anwendbar. Was er fand steht in diametralem Gegensatz zur Härte eines Zuschlagens, das nicht nur bei anderen, sondern auch bei sich selbst zu Schäden führt.
Moshé Feldenkrais erlebte körperlich und psychisch, dass Gewalt nicht nur unnötig und schädlich, sondern auch ineffektiv ist. Er erfuhr körperlich, dass es möglich ist, auf Gewalt zu verzichten. Eigentlich bei allem, was getan werden muss. Aber obwohl er den Ex-Kämpfer und Staatschef Ben Gurion behandelte, gelang es ihm nicht, seine Erkenntnis auf das soziale Zusammenleben der Gattung Mensch zu übertragen.
Viele Menschen sind am Sich-Bekriegen nicht mehr interessiert
Aber erfahrungsgemäß lernen Menschen meist nur dann, wenn die Strategien von Gewalt und Gegengewalt zu Katastrophen führen. Und manchmal selbst dann nicht.