27. November 2019

Geschichte

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letzte Überarbeitung: 20.01.2020

Der Ursprung des Dualismus

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Eurasischer Kulturraum

Griechisch-buddhistischer Asket, Gandhara (heute Nord-Pakistan). Wat-Benchamapolit Bangkok, Bild Jäger 2018

Die verschiedenen Exemplare von Homo sapiens scheinen sich nicht besonders zu unterscheiden. Wir verfügen über die gleichen Bewegungsmuster, Emotionen und anatomischen Grundstrukturen. Auch die kulturelle, d.h. überlieferte und nach der Geburt erlernte Entwicklung, führte in den ersten 100.000 Jahre zu ganz ähnlichen Ausdrucksformen.

In allen menschlichen Kulturen erinnert an den Urzustand der Bewusstwerdung Uroboros, die Schlange die sich selbst frisst, das Symbol ewigen Werdens und Vergehens.

Der Schlangenkreis entsprach der Urphilosophie starker Helden und kluger Frauen, die frei und riskant lebend Steppen durchstreiften, Beeren sammelten und Wildgetreide hüteten, und die mit der Zukunft des Todes in die Vergangenheit der Ahnen zurückkehrten, um neu geboren zu werden. Der Mensch dieses Paradieses empfand sich als unmündiges Baby von Mutter Natur und war deren Liebe und Boshaftigkeit vollkommen ausgeliefert.

Uroboros, die Schlange, die sich selber frisst

Bis dann irgendwann das Kreative, „die Schlange im Menschen“, auf andere Gedanken kam. Der Mensch wurde sich seiner Gestaltungsmacht bewusst, und griff in den Lauf der Dinge ein, auch gegen die Natur. Jetzt wuchsen die Stämme zu lockeren, kriegerischen Staatswesen, die wie Heuschrecken große Langstriche kahlfraßen, mordeten, vergewaltigten und verbrannte Erde hinter sich ließen. Oder die an großen Flussläufen mit periodischem Schwemmland Stadtkulturen mit bäuerlicher Fron entwickelten. Die Schlange kroch aus dem chaotischen Ursumpf heraus, erschuf Ordnung und teilte das Helle (Yin) vom Dunkeln (Yang) (Neumann). Seither differenzierten sich die Kulturen stärker und entwickelten sich scheinbar auseinander.

Ist eine fremde Art zu Denken für jemanden einer anderen Kultur erlernbar? Oder können östliche Methoden wie Yoga, Ch’an (Zen), Taiji von Westlern nur nachgeäfft werden, weil sie eine andere frühkindliche kulturelle Prägung erforderten?  Oder sind Europäer, Inder und Chinesen u.a. letztlich Kinder in den Norden gewanderter Afrikaner, die nach einer Begegnung mit den Neandertalern (s.u.) deutlich miteinander verwobene  Euro-Indo-Ostasiatische Kulturen entwickelten?

Wo berühren sich die Wurzeln unseres Denkens in Ost und West? Wo können wir anknüpfen, wenn wir interkulturell lernen, wenn wir angesichts des „Fremden“ erfahren wollen, wer wir selbst sind, und wie wir uns entwickeln können?

Um mich an diese Frage heranzutasten, schaue ich zurück. Mich interessiert wo und wie östliche und westliche Kulturen sich beeinflusst und gegenseitig geprägt haben. Ich suche für mich die Verbindungslinien, Überlappungen und Berührungspunkte – und finde Ideen und Vermutungen, die mich zum Weiterdenken und Weitersuchen reizen. Wahrheit finde ich sicher nicht, dafür ist das was gefunden werden kann zu bruchstückhaft, und die Geschichte der Menschheit viel zu komplex. Wenn jemand das was ich beschreibe, aus guten Gründen anders sieht, würde ich es gern erfahren, damit sich mein Laien-Puzzle verändern kann.

Die Schlange steigt empor und zerteilt das Eine (Wuji), und schaftt so
die ideale Dualismus-Dynamik (Taiji)

Ich fange an mit einer der einflussreichsten Vorstellungen, die Welt zu sehen und in ihr zu handeln. Sie entspringt in Kleinasien. Dort thronte in einer der ersten stadtähnlichen Siedlungen der Menschheit (Catalhüyük) eine Göttin, die von wilden Tieren bewacht wurde. Später wurde sie die phrygische Kybele genannt. Zu ihr gehörte ein junger Sohn, Attys, der sich schlimm verletzt, stirbt und betrauert wird, und dessen Wiederscheinen als Kind oder Jüngling man feiert. In Persien hieß dieser jugendliche Erlöser Mithras, ein sonnengleich strahlender Held. Die Mutter (in alle ihren Varianten) war immer da, mit ihrer (manchmal kastrierenden oder zerstückelnden) Gewalt oder mit schützender Güte. Der Jüngling erschien jeweils kulturspezifisch etwas unterschiedlich. Er kam jährlich, befreite, beglückte, befruchtete, starb, wurde beweint und betrauert, um dann erneut im Frühling wiedergeboren zu werden.

Über-Mutter und strahlend-jugendlicher Sohn traten schließlich in die Realität der Geschichte: der junge  Alexander von Mazedonien und Olympias, seine leidenschaftliche, „albanische“ Mutter, eine Priesterin des extatischen Rausch-Kultes des Erlösergottes Dyonisos. Nachdem Alexanders Armee den Monotheismus des Perserreiches zerstört hatte, erwachte der alte Kult „Mutter-jugendlicher Sonnengott-Sohn“ zu neuem Leben und erstrahlte bis an die Ostgrenzen des heutigen Afghanistan. Von dort, aus dem späteren Königreich Baktrien, wanderte er über die Seidenstrasse und erschien in China als Königinmutter des Westens Hsi Wang Mu (Xiwangmu). In China wurde sie begleitet wurde von einem Drachen und einem Tiger, den Symbolen ausgeglichener weiblicher und männlicher Macht und Dynamik, und der Sohn des Himmels war wie sonst auch der Herrscher. Irgendwann wurde das Paar am Hof eines späteren Alexandernachfolgekönigs in Persien im Schachspiel verewigt, als mächtige Dame neben dem relativ hilflos-wirkenden König-Sohn. In Indien gleicht ihr Kult dem der Kali und in Ägypten der Isis (mit dem Horuskind). Die Ewige-Mutter-junger-Sohn-Religion war im gesamten Mittelmeerraum verbreitet, und wurde dann schließlich auch offiziell nach Rom importiert. Dort herrschte dann „Mater Deum Magna Ideae“, die Mutter des jeweils amtierenden Sonnen-Kaisers „Sol invictus“. Das letzte Oberhaupt dieser Religion, Konstantin ließ ihre religiösen Riten ins legalisierte Christentum einfließen, ohne selbst Christ zu sein – nach dem Motto: „Wenn du sie nicht besiegen kannst, schließ dich ihnen an und benutze sie“. Und wieder hundert Jahre später wanderte dann die christianisierte „Mutter-gottes Maria“ wieder nach Osten bis nach China, mit den Anhängern des Bischof‘s von Konstantinopel, Nestorius, der in einem ideologischen Kirchenmachtkampf den Kürzeren gezogen hatte.

Gegenspieler der Muttergottheitsreligion  waren die patriarchalen Glaubenssysteme der nördlichen Nomadenvölker, die Europa und Asien überfielen und unterjochten. Ihre Druiden, Brahmanen und Schamanen leiteten die Opferrituale und standen mit dem König auf gleicher Stufe. In diesem System zu dem in Kleinasien die Hethiter und in Griechenland die Dorier  und Ionier gehörten, hatten die Frauen wenig zu sagen (Schmoeckel 2012).

Indien war den Griechen (als Teil indo-europäischer Verwandtschaft) lange vor Alexander bekannt. Zum Persischen Großreich unter Dareios gehörten zahlreiche griechische Städte und Siedlungen. Persien grenzte bis an den Indus, und das Wissen über die dort angrenzende Welt wurde u.a. von Herodot beschrieben.

Die frühen kulturellen Verbindungen Indiens mit Europa erklären, warum Alexander in zwei unterschiedlichen Weltregionen von zwei Philosophen, die sich nie begegnet waren, sehr ähnlich abschätzige Antworten auf hochtrabend-eitle Fragen erhielt: Diogenes hatte nur einen Wunsch, den er ihm erfüllen sollte: „Geh mir aus der Sonne“, und ein namenloser indischer Weiser befand: „Nichts was du mir geben könntest will ich“.

Griechische Siedler waren schon vor Alexander in der Region des heutigen Afghanistan (Baktrien u.a.) ansässig und trieben Handel mit dem Land Ihrer Herkunft (Richter 1946). Dareios und Xerxes depotierten Griechen aus Cyrene (heutiges Lybien) und Didyma (nahe Milet) nach Baktrien. Baktrische Hilftruppen waren bei den Expeditionen des Xerxes in Griechenland beteiligt und kämpften auf der Seite des persischen Großreiches gegen die Invasion der Mazedonier unter Führung Alexanders. Viele Griechen hatten es sich in der monotheistischen Religion und der geordneten Unfreiheit eingerichtet und schienen von der Befreiung durch die Invasoren, die zuvor Griechenland (z.B. Theben) brutal bezwungen hatten, nicht begeistert zu sein. In der Ordung des Persischen Reiches war Mord und Todschlag vermutlich seltener als in der Welt der „demokratischen“ Stadtstaaten, die auf dem griechischen Festland vor Alexander übereinander herfielen.

Kybele gelang es erstaunlicherweise nach den Hethitern auch noch  den ersten Gottesstaat der Menschheit, das persische Großreich, zu überleben. Zarathustra, der in Baktiren geborene Religionsgründer und Vater von Gut und Böse, hatte intensiv gegen die alten Kulte um Mithras und Kybele gewettert, lange bevor seine einheitliche, Ordnung garantierende „Religion des Guten“ von der Staatmacht der siegreichen Bergvölkern der Perser und Meder angenommen wurde. Als Kyros der Perser mit dieser Religion im Gepäck Babylon eroberte, wurde er von der dort festgehaltenen jüdischen Elite als Erlöser empfangen. Die jüdisch-monotheistische Strömung war mit der Ägyptens verwoben, die auf den gescheiterten Pharao Echnaton zurückgeht. Echnaton und der spätere Zarathustra unterschieden sich wenig, nur Ahriman den Teufel, gab es in Ägypten nicht. Interessanterweise wurde Persien erst unter Dareios I zum Gottesstaat. Dieser hatte als General des Kyrossohnes Kambyses Ägypten erobert, und vielleicht auch die dortigen monothesitischen Ideen kennengelernt. Jedenfalls benötigte er, nachdem er illegal und täuschend die Macht im Staat an sich gerissen hatte, eine göttliche Legitimation seiner Herrschaft, eine klare Autorität, zu der es keine Alternative gab.

Alexanders Invasion beseitigte vorübergehend den Einheitsgott des Großreiches und stürzte die Region in ein kulturelles Chaos, das eine Durchmischung der Ideen bewirkte. Die Tür nach Indien öffnete sich noch breiter als bisher, und auf den Kamelenkaravanen, die über die Seidenstraße zogen, wurden zunehmend neben Stoffballen auch Ideen hin- und hertransportiert. Beliebt waren er und seine mazedonischen Offiziere und Söldnerhilfstruppen deshalb noch nicht.

In Baktrien massakrierte Alexander eine ganze Stadt von Nachfahren der Branchidae, deren Vorfahren hundert Jahre zuvor dort angesiedelt wurden, weil sie sich mit den Persern arrangieren wollten, und deshalb die Schätze des Apollontempels übergeben hatten (Parke 1985). Es fiel der neuen Macht schwer, sich in einer feindseligen Umgebung zu halten, in der Griechen eine kulturelle Elite bildeten, aber offenbar intensiv mit der einheimischen Bevölkerung verschwägert waren und z.T. auch deren Sitten und Religion angenommen hatten. Die Heirat Alexanders mit der Prinzessin Roxana und 30.000 Garnisonstruppen sicherten den Verbleib der Provinz Baktrien im Macedonierreich nur vorübergehend. Wenige Jahrzehnte nach Alexanders Tod löste sich der Satrap von Baktrien Diodotos vom mazedonischen Seleukidenreich, und sein Sohn verbündete sich noch zusätzlich mit dem Erzfeind der Parther. Diodotus II wurde von seinem Schwager (?) Euthydemos ermordert, der nach langen Kämpfen schließlich Frieden mit den Seleukiden machte (mit Antiochus III), aber eine relative Unabhängigkeit Baktriens bewahren konnte.

Als Alexanders Truppen in Indien eindrangen, sammelte dort gerade ein junger Haudegen eine Armee von Abenteurer um sich, und begann ein marodes nordindisches Königreich zu stürzen, dessen abtrünniger Ministerpräsident (Chanankya) ihn dazu angestiftet hatte. Dieser Chandra Gupta oder Maurya fühlte sich den Mazedoniern und Griechen verbunden, heiratet nach einem anfänglichen Konflikt eine der Töchter des Alexandernachfolgeherrschers (Seleukos I) und empfing griechische Botschafter an seinem Hof (Megasthenes). Gegen Ende seines erfolgreichen Lebens bekannte er sich zur Religion des Jainismus, und soll sich in einem Kloster zu Tode gehungert haben. Zuvor hatte er zahlreiche Gesandte zu den befreundeten Griechen in den Westen ausgesandt, um diese von der Seelenwanderung zu überzeugen. Der Jainismus kann als friedfertige Religion des Mahatma Ghandi sicher nichts dafür, dass seine Symbole (die erhobene Hand und das Hakenkreuz) später in Deutschland missbraucht wurden. Möglicherweise beeinflusste aber der Jainismus mit seiner lebens- und lustfeindlichen Jenseitsorientierung die Bildung der monotheistischen Glaubensströmungen im Mittelmeerraum. Vermutlich war der Gedanke des Heils der Seelenwanderung und dem Leben nach dem Tod schon vor Alexander in Europa eingedrungen.

Die Geisteshaltung des indischen Jainismus und die der griechischen Kyniker schätzte die Lebenslust gleichermaßen gering, und das konnte auch schon mal in den demonstrativen Selbstmord führen: Lucian (165 n.u.Z.).

Die Begegnung griechischer und indischer Philosophen führt aber auch zum Gegenteil von dogmatischer Verbohrtheit: zur Skepsis, der Wurzel kritisch-wissenschaftlichen Denkens. Einer der Begründer dieser lebensbejahenden, Ideologie-ablehnenden und Gemütsruhe suchenden Philosophie war Pyrrhon von Elis. Er nahm als überzeugter Aristoteles-jünger am Alexanderfeldzug teil und glaubte wohl wie dieser an die reine Wahrheit (episteme), die man „wissenschaftlich“ finden und beschrieben kann. Offenbar hatte er Gelegenheit, sich mit indischen Gymnosophisten auszutauschen. Anschließend kehrte er verwandelt nach Griechenland zurück und eröffnete dort eine Schule: „Keine Wahrheit – heitere Gelassenheit!“. Nahezu zeitgleich tauchten skeptische Gedanken in China auf (z.B. bei Chuang Tzu). War es ein Zufall oder Folge des Ideentransports der Seidenstraße?

Die Missionierung des nicht ganz so radikalen, aber ebenfalls negativ-leidvoll orientierten Buddhismus gestaltete sich noch erfolgreicher. Verantwortlich dafür war der Enkel Chandra Guptas Ashoka, der jahrzehntelang erbarmungslos und brutal Kriege geführt hatte, und dem es gelungen war, nahezu ganz Indien in sein Reich zu integrieren. Zur Festigung und Beruhigung dieses Riesengebildes benötigte er eine einheitliche Staatsreligion, die für das Volk überzeugender war als die brahmanischen Kulte. Er fand sie in der Lehre des Buddhismus, die ihn so begeisterte, dass er mit großem Eifer seine griechischen Königskollegen für seine neue „gottlose Religion“ zu bekehren versuchte. Er verbot nach seinem totalen Sieg alle Kriege und entsandte (u.a. griechische) Missionare nach Persien, Baktrien, Mazedonien, Griechenland, Albanien, Ägypten, Nordafrika u.a. Die Erfolge dieser vielen Missionsreisen ließ er in seinen Säulen dokumentieren (Frowde). Seine Dynastie wurde nach seinem Tod von Pushyamitra Shunga, einem General eines seiner Nachfolger, gestürzt, der offenbar der Weltabgewandtheit überdrüssig war. In den Skulpturen seiner Dynastie ließ er Erotik und Fruchtbarkeitsymbolik wieder aufblühen und kehrte zu Opferritualen zurück. Die Buddhisten hielten nach Hilfe Ausschau und suchten sie bei den griechischen Königen, die im heutigen Afghanistan residierten. Deren Religion war immer noch die von Kybele mit ihrem jugendlichen Lichtgott, gemischt u.a. mit Apollon-Verehrung und Resten des Zarathustraglauben. Doch sie standen den indischen Denkformen durch viele Begegnungen sehr offen gegenüber. Der erste, der den Buddhisten zu Hilfe eilte, Demetrius gab sich den Beinamen Soter, ein „Erretter“, von was auch immer. Mit seinen Generälen oder Mit-Königen (Antimachus, Apollodotus, Menander) gelang es ihm einen Großteil Nordindien zu erobern, und möglicherweise hätte er die Shunga-Dynastie stürzen können, wäre ihm nicht Eucratides, ein General des letzten Seleukidenherrschers Antiochus IV in den Rücken gefallen. Dieser eroberte das zurückgelassene Baktrien oder kam der dortigen Bevölkerung bei einem Aufstand gegen das Indienabenteuer zu Hilfe. Er besiegte den eilig zurückgekehrten Demetrius, und lies alle Mitglieder dessen Familie umbringen. Er behielt seine Unabhängigkeit von Antichous IV, weil dieser sich mit dem ersten Dschihad der Geschichte herumschlagen musste, dem Hamonäer-Aufstand in Jerusalem, der schließlich zum zweiten Gottesstaat der Welt führte.

Den Juden schien das Glaubenssystem der Perser vom einen guten Gott, sympathischer zu sein als die Ideologie von „Mutter und Sohn“. Oder auch als der Versuch eines Griechen einen einheitlichen „olympischen Zeus“ zu installieren. Bevor der letzte großen Seleukidenkönig Antiochus IV nach dem verloren Krieg in Judea Eucratides in Baktrien einen Besuch hätte abstatten können, verstarb er relativ jung. Eucratides konnte einige Jahrzehnte ein großen baktrisches Terrotorium verteidigen, bevor ihn offenbar einer seiner Söhne sehr brutal umbringen und ohne Beerdigung verscharren lies.

Nach dem Zerfall des Alexander-Reiches im Westen verengten die neuen Religionen den Spielraum von Kybele, Isis, Attys und Mithras. Sie stiegen zwar ab 200 n.u.Z. vorübergehend zur römischen Staatsreligion auf, aber dann blieb ihnen im Westen keine andere Chance, als sich mit ihren Riten unauffällig in die neue Welt der Gottväter oder Erlöser zu integrieren.

Im Osten musste sich Kybele mit ihren mütterlichen Heilslehren in das „Große Schiff“ des Buddhismus begeben. Für dessen Verbreitung sorgte der bedeutendste der Generäle des Demetrius, der spätere indo-griechische Großkönig Menander. Auch er nannte sich „Soter“ (Erlöser) und herrschte schließlich über den flächenmäßig wohl größten aller griechischen Machtbereiche, von Afghanistan bis weit in den Norden Indiens, am Ende seiner Herrschaft vermutlich auch über Teile Baktrien. Menander (ind. Milinda) ist bekannt für seinen in Sanskrit erhalten, klug-interkulturellen Dialog mit dem buddhistischen Mönch Nagasena (Milindapañha). Wahrscheinlich konvertierte er auch zum Buddhismus und sorgte für dessen weitere Verbreitung.

Aus diesem baktrisch-griechisch-indischen Kulturraum entwickelte sich nach der Eroberung der Region durch das aus China eingewanderte Reitervolk der Yuezi, später Kushan, der Mahayana-Gandara-Buddhismus, der später in China so ideal in die ideologische Lücke zwischen Konfuzianismus und Dao hineinpasste. Die Kushan-Herrschaft hielt bis fast 200 n.u.Z. und garantierte den Durchzug von Waren und Gedankengut über die Seidenstraße von Rom nach China und Indien und umgekehrt. Die schleichende buddhistische Missionierung Chinas begann etwa 100 v.u.Z. mit einer Vermengung indischen und griechischen Denkens. Die vollständig erhaltene chinesische Übersetzung des Milinda-Pranha scheint sowohl die Entwicklung der Meditationssekte Ch‘an in China, als auch den späteren Konfuzianismus beeinflusst zu haben. Nach dem Zusammenbruch der griechischen Königreiche, übernahmen nomadische Eroberer die neue Variante der „Überwindung des Leidens“. Und in China brachten die „nördlichen Wei“, ein Turkvolk, um 300 n.u.Z. dem Buddhismus endgültig den Durchbruch.

Für die Verbreitung der friedfertig, „gottlosen“ Religion des Buddhismus und auch des späteren Zen in Japan, spielten also sehr wenig friedfertige Soldaten und räuberische Nomaden eine große Rolle. Wer große gewachsene Kulturen stürzte, brauchte eben dringend einen religiösen Stabilisierungsfaktor.

Während Europa mit dem Kollaps des römischen Reiches im Dunkel des Mittelalters versank, entwickelte China einen deutlichen zivilisatorischen Vorsprung. Dort wurde der Buchdruck erfunden, das Schwarzpulver, der Kompass und die Hängebrücke. Standardisierung von Behandlungen (u.a. mit Heilpflanzen) und Psychologie waren in China während unseres Mittelalters von einer Qualität, die in Europa erst Ende des 19. Jahrhunderts erreicht wurde. Und schließlich navigierten die Chinesen mit ihren Land- und Seekarten bis in das 15 Jhh. deutlich besser als die Europäer.

Als Marco Polo im 13. Jhh. Kublai Khan traf, der als „mongolischer Barbar“ über China herrschte, konnte der Westler ihm keine Erkenntnis oder Technik präsentieren, die China überlegen gewesen wäre. Trotzdem erlaubte der Herrscher christliche Missionsbemühungen, weil er einen Gegenpol suchte zum Konfuzianismus der chinesisch-intellektuellen Elite. Das Christentum scheint sich in China im Laufe der Jahrhunderte mit daoistischen und buddhistischen Strömungen und Erlösungslehren vermischt zu haben. Jedenfalls erinnert vieles in den Übersetzungen des TaoTeKing, wie wir sie im Westen kennen, an christliches Gedankengut.

Als die Europäer sich noch Sorgen machten, am Ende einer kleinen Erdscheibe ins Unendliche stürzen zu können, besegelte der Großadmiral Zheng He bis ins Jahr 1433 mit seinen Flotten die Meere bis nach Afrika. Möglicherweise haben seine Reisen über Gesandte in italienische Kaufmannsstädte dortige Intellektuelle inspiriert, z.B. Leonardo da Vinci oder Columbus, aber das ist Spekulation.

Jedenfalls war China zur Zeit Zheng He’s dem christlichen und islamischen Herrschaftsraum wissenschaftlich und technologisch haushoch überlegen. Wieso konnte gerade der christlich geprägte Westen mit seinem immensen Entwicklungsrückstand China dann doch überholen? Der Historiker Needham vermutete als Ursache den Einfluss der Philosophie des Konfuzianismus nach der ersten Jahrtausendwende, die einen stark restaurierenden Einfluss auf Wissenschaft, Kultur und Staatswesen hatte. Die starre, moralisch legitimierte Hierarchisierung sicherte eine starke Struktur, behinderte aber gleichzeitig die Flexibilität, sich auf Neues einzustellen. Neugier nach technischer Innovation ging verloren, und es fehlte an Kreativität und Schulung des Denkens. Diese Annahme Needhams könnte auch auf den Islam zutreffen, der für in seinem Herrschaftsbereich für große Stabilität und sozialen Ausgleich sorgte, aber nicht zur geistigen Weiterentwicklung drängte.

Der wieder-entdeckte Konfuzianismus ermöglicht andererseits Chinas Aufschwung zur Weltmacht. Die starre hierarchisch-konfuzianische Staatsglocke bietet eine Garantie, dass die darunter brodelnde, chaotische, von westlichem Denken durchdrungene, frühkapitalistischer Marktdynamik das System nicht zerreißt.

Wer immer weiter nach Osten geht, landet also im Westen und umgekehrt. Und dort, wo sich Osten und Westen intensiv berühren, entstand und entsteht offenbar eine intensive Dynamik.

Osten und Westen sind also, so unterschiedlich sie erscheinen mögen, Teil eines übergreifenden kulturellen Gewebes. Eine Besonderheit Chinas gegenüber dem Westen scheint darin zu bestehen, alles von außen Eindringende wie in einem riesigen kulturellen Topf zu verrühren, in eine sich ständig verändernde, und doch merkwürdig gleich bleibende Suppe hinein, die stetig vor sich hin köchelt. Die Symbolik der griechischen Medizin (Die fünf Elemente oder Wandlungsphasen) waren daher im Westen längst vergessen, aber erleben jetzt wieder eine Renaissance durch den Import der „tradionellen chinesischen Medizin“ in Europa.

Während westliche Wissenschaft und Werte im Osten zurzeit hoch im Kurs stehen, beeinflusst umgekehrt der Osten das mechanische, westliche Weltbild aus der Zeit der europäischen industriellen Revolution. Die östlichen Philosophien passen besser zu Quantenphysik, Systembiologie, Hirnforschung und Systembiologie. Das vorübergehend so erfolgreiche Ursache-Wirkungsdenken des Westens erweist sich dagegen immer mehr als untauglich für das Management der Systemzusammenhänge, die uns ausmachen, und in denen wir leben.

Literatur

Letzte Aktualisierung: 16.10.2023