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12. Juni 2019

Was ist typisch menschlich?

Anatomisch moderne Menschen (Homo sapiens)  und ausgestorbene Frühmenschen (lat. Homo) gehören nach biologischen Kriterien zur Familie der Menschenaffen (Hominidae). Ebenso wie Gorillas, Orang-Utans,  Schimpansen und Zwerg-Schimpansen (Bonobos).

Moderne Menschen sind das Ergebnis von Vermischung

Seit über drei Millionen Jahren durchwandern mehr oder weniger menschenähnliche Gruppen die Savannen Afrikas und später auch die anderer Kontinente. Das jüngst entdeckte Exemplar in Afrika, der Homo naledi, konnte zweibeinig laufen, aber auch klettern. Er verfügte über ein Gehirn von der Größe eines Bonobo (Berger 2015). Ob die Naledis damit besser mit Werkzeugen hantieren konnten als Schimpansen, ist nicht bekannt.

Vor etwa zwei Millionen Jahren klopfte der Homo habilis seine Steine, und rannte der „aufrechte Läufer“ (Homo erectus) durch die Savanne.  Schließlich wanderten direktere Homo sapiens-Vorläufer aus Afrika aus und besuchten vor 100.000 bis 40.000 Jahren ihre älteren Vettern, die schon lange vor ihnen in Europa und Asien heimisch geworden waren.

All diese Menschen lebten in sozialen Verbänden, kommunizierten mit ihren Händen und konnten Werkzeuge und Waffen herstellen. Wenn sie sich auf ihrer Migration in und außerhalb Afrikas begegneten, hatten sie offenbar Sex miteinander:

Die Erbmasse im Zellkern der Europäer und Asiaten enthält zwei bis vier Prozent Neandertaler-Gene, und die der Melanesier und der australischen Ureinwohner etwa fünf Prozent der Gene des Denisova-Menschen (Callawy 2015). Möglicherweise haben sich die in Afrika verbliebenen Vorläufer des Homo sapiens auch mit anderen menschenähnlichen Wesen (wie dem Homo naledi) vermischt. Es wäre deshalb sehr unwahrscheinlich, wenn der genetische Typ heutiger Afrikaner dem der Ur-Menschen entspräche, die aus Afrika nach Norden zogen.

Dass sich die Vorläufer der heutigen Menschen nicht noch intensiver mit anderen Menschen-Spezies vermischt haben, dürfte daran gelegen haben, dass Mütter, wegen nicht geeigneter Becken-Verhältnisse, bei der Geburt von Mischlingskindern häufiger verstarben. Oder, dass Neugeborene aufgrund von Immun-anpassungs-Störungen weniger Überlebenschancen hatten.

Die bis heute erhaltenen Gene von Vormenschen waren möglicherweise vor zehn-tausenden von Jahren für moderne Menschen günstig. Sonst wären ihre Träger verstorben, bevor sie sie hätten weitergeben konnten. Die Gene von Neandertalern könnten den Homo-sapiens-Menschen z.B. bei der Klimaanpassung im eisigen Norden geholfen haben. In Tibet wurde nachgewiesen, dass Gene, die für eine Adaptation für das Leben in Höhe über viertausend Metern nötig sind, von Denisova-Menschen stammen. (Callawy 2015)

Heute dagegen wirken sich die Gene der Vormenschen ggf. ungünstig aus: Genkonstellationen, die von Vormenschen stammen, kommen offenbar häufiger vor bei Personen, die u.a. an Osteoporose, Blutgerinnungsstörungen, Auto-Immunerkrankungen oder Depression leiden (s.u.)

Erbfolgen sind komplex.

Ein Großteil unserer Gene, die menschen-typischen Eiweißstoffe kodieren, liegen nicht im Zellkern, und sind deshalb hinsichtlich der „Ahnenforschung des Menschen“ bisher nicht, oder deutlich seltener, untersucht worden:

Mitochondrien-Gene

Diese Erbinformation von Minibakterien, die in der Zelle die Sauerstoffversorgung sicherstellen, wird über die Mütter vererbt (s.u.). Das Verfolgen typischer Merkmale dieser Gene könnte Hinweise auf mütterliche Vererbungslinien geben.

Mikrobiom

Ein großer Teil der für Menschen typischen Eiweißstoffe sind durch Gene bestimmt, die sich in der Bakterienmasse des Dickdarmes befindet. In den Mini-Lebewesen, die sich Jahrmillionen mit den verschiedenen Menschenarten gemeinsam entwickelt haben und deshalb untrennbar „zu uns“ gehören. Die Gene dieser Bakterien werden während der Geburt und durch das Stillen vererbt (s.u.).

Über die Darmbesiedlung und die damit verbundenen Gene von Vormenschen wissen wir bisher so gut wie nichts. Allerdings wurden jetzt Menschen untersucht, die heute noch weitgehend isoliert in ihrer Steinzeitkultur leben. Bei ihnen fand sich eine unerwartet große Vielfalt wimmelnder Darmbakterien. Bei modernen Menschen dagegen wird das Spektrum der Mikrobiom-Erbmasse durch Antibiotika und einseitige Ernährung immer weiter eingeschränkt. (Paoli 2015).

Epigenetik

Ungeborene werden nicht nur durch ihre genetisch festgelegte Erbmasse, sondern ebenso durch die Umwelt und sogar durch die Kultur geprägt, in der die Mütter leben. Es ist deshalb nicht nur von Bedeutung, ob eine Gen vorhanden ist oder nicht, sondern auch „wie“ es in einem sozialen Zusammenhang während der Schwangerschaft aktiviert wird. Denn viele kindliche Gene, die den Stoffwechsel regulieren, werden während der Schwangerschaft so verändert, dass sich der Organismus an eine stressige oder weniger belastete Lebens-Zukunft anpassen kann (s.u.). Die Art, wie sich schwangere Frauen sicher und und in einem Familienverband versorgt fühlen können, hat eine erhebliche Auswirkung auf Vererbungs-Prozesse.

Populations-Genetik

Viele Ideologien und Glaubenssysteme versuchen bis heute, ihre kulturell erlebte Herkunft auf lange Ahnenreihen zu beziehen. Auf adelig-bedeutende, heldenhaft-männliche oder umsorgend-mütterliche Sagengestalten, deren Geist auch in der lebenden Generation weiterhin erstrahlen soll. In den jeweiligen Überlieferungen und Mythen, wie u.a. bei den Parsen oder den indischen Kasten, wird dann behauptet, die Vererbungslinien seien über die Generationen „rein“ geblieben von Fremdeinflüssen.

Im 19. Jahrhundert wurden dann für vermeintlich gemeinsame Genpools kultureller Gemeinschaften auch die passenden Begriffe erfunden: „Volk, Volksgemeinschaft, Ethnie, Rasse, Nation u.a.“ (Sand 2010). Schließlich übertrug man dann den „naturwissenschaftlichen“ Darwin-ismus auf soziale Erscheinungen. Und von dort war es nur noch ein kleiner Schritt zur Eugenik („Rassenhygiene“), die sich Francis Galten, ein Vetter Darwins, ausdachte, und die schließlich zu Rassenwahn führte und im Holocaust gipfelte.

Danach blieb es Jahrzehnte aus guten Gründen still um die Vererbungsforschung. Heute dagegen werden wieder zunehmend populations-genetische Untersuchungen durchgeführt. Denn es ist relativ einfach, vielen Menschen Blutproben zu entnehmen und diese dann in maschinellen Gen-Sequenzern durch-zu-rattern, um dann in riesigen Datenbergen mit speziellen Analyseprogrammen nach den Zeichen bestimmter Moleküle zu stochern.

Welchen Nutzen hat Populations-genetik?

Populations-genetik ist weitgehend wertlos, wenn ohne gezielte Ursprungsfrage in einem gigantischen Datenwust nach Zufalls-Häufungen gesucht wird, um diese dann als Ergebnisse zu präsentieren (Beck-Bornholdt s.u.). Oder wenn Untersucher bestätigen wollen, was sie zu wissen glauben. Dann gestalten sie ihre Studie unbewusst so, dass sie sicher das finden, nach dem sie suchen. Andernfalls veröffentlichen sie ihre Ergebnisse nicht, und suchen eben weiter.

Dagegen kann Populations-genetik, wie ein Röntgenbild bei einem sehr komplexen Lebewesen, dabei helfen, intelligente Fragen zu stellen, die sich vor der Untersuchung noch nicht aufdrängten. Oder sie kann bisher gängige Hypothesen und Expertenmeinungen widerlegen.

Die erste tatsächlich menschentypische Kommunikationsform

Der evolutionäre Überlebenstrieb erfordert starke Programme für das Gelingen der Partnerwahl und die Handlungen, die für die Reproduktion erforderlich sind. Diese Kommunikationsform muss den Einzelinteressen von Zellen und Organen übergeordnet sein, auch angesichts des Todes. Deshalb muss das zentrale Nervensystem sich für gelungenes Verhalten besonders belohnen.

Die Bonobos, die den Menschen näher stehen als die aggressiveren Schimpansen, nutzen Sexualität für die Stabilisierung komplexer sozialer Zusammenhänge.

Homo sapiens hat diese geniale Art sozialen Zusammenhalt zu sichern noch wesentlich verfeinert: durch Eros, die erste menschentypische Kommunikationsform. In der griechischen Schöpfungsgeschichte beginnt mit Eros die Dynamik universeller Entwicklung.

Die beiden Begleiter des Eros waren in der griechischen Mythologie Pothos und Himeros. Das bedeutet nicht etwa „Lust und Befriedigung“ (oder Sex), sondern „Sehnsucht und Verlangen“ (d.h. wenig Sex).

Bei Eros ist die Aussicht auf Belohnung besonders stark.

Mehr

Migration bringt Chancen

Es gibt keine „Krone der Schöpfung“. Ebenso wenig Völker, Volksgemeinschaften, Ethnien, Rassen oder Nationen, die genetisch eindeutig beschrieben werden könnten. Menschen sind sich körperlich und psychisch untereinander erstaunlich ähnlich. Dafür ist die Ausprägung kultureller und genetischer Erscheinungen sehr vielfältig, bunt und vielgestaltig.

Wie bei allen natürlichen Prozessen ist eine große Bandbreite unterschiedlicher Merkmale günstig. Ökosysteme mit einer breiten Artenvielfalt (Biodiversität) sind stabiler als Systeme mit einem nur schmalen Spektrum an Arten. In Lebewesen werden deshalb Funktionsabläufe (z.B. die Blutgerinnung) gleichzeitig von vielen Steuerungssystemen gleichzeitig und chaotisch gesteuert. Damit ein Ausfall eines Systems bei Belastung nicht den Zusammenbruch des gesamten Organismus bewirkt. (West 2006)

Immer wenn Vielfalt eingeschränkt wird, entsteht Krankheit. Nimmt Vielfalt dagegen zu, erweitern sich die Möglichkeiten für Entwicklung. Vorausgesetzt, die Prozesse der Anpassung und Integration verlaufen friedlich.

Literatur

  • Berger et.al.: Homo naledi, a new species of the genus Homo from the Dinaledi Chamber, South Africa, eLife 10.09.2015;4:e09560
  • Callawy E: Neandertals had outsize effect on human biology, Nature, 30.07.2015
  • Hasenfratz HP: Die religiöse Welt der Germanen, Herder 1992
  • Paoli J: Unprecedented Microbial Diversity Found in Amazonian Tribe, Nature 22.04.2015
  • Sand S: Sand, Shlomo: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Berlin: Propyläen Verlag 2010. ISBN: 978-3- 549-07376-6; 505 , Rezension Hirsch L, 2011
  • Schoeckel R: Die Indoeuropäer: Aufbruch aus der Vorgeschichte Gebundene Lindenbaum Verlag, 4. Ausgabe. 2012
  • West BJ: Where Medicine went wrong. Rediscovering the Path to Complexity, 2006

Beispiele populations-genetischer Untersuchungen

Indoeuropäer, Kelten und Germanen

Bevölkerungsgruppen, die sich jeweils hinsichtlich ihrer Sprachen, Religionen, Mythen, Geschlechterrollen und Herrschaftsstrukturen ähneln, erhalten zur Erleichterung ihrer historischen Beschreibung Namen, die im alltäglichen Gebrauch eindeutig zu sein scheinen: z.B. „Indoeuropäer“, „Kelten“, „Germanen“ (Schmöckel 2012, Hasenfratz 1992). Da es aber in populations-genetischen Untersuchungen bisher nicht gelang, einen jeweils für sie eindeutig-typischen Gen-Pool zu finden (uva. Donelly 2015), müssen sie eher als historisch-kulturell-religiöse Strömungen betrachtet werden. Als Bewegungen, die viele unterschiedliche Stämme einbezogen. Als Kulturen, deren Träger sich untereinander vermischten, und ebenso mit den Dörflern, die sie gerade eroberten und ausplünderten.

Kalasha

Die Kalasha in Nord-Pakistan leben seit langem in relativer Isolation. Ihr Aussehen, die Körperform und die Kultur der Kalasha erinnern an Griechen, die dort vor 2.300 Jahren siedelten. Man vermutete deshalb, diese Kultur habe sich in ihrem abgelegen Tal seither abgesondert erhalten können. Dem widerspricht jetzt eine populations-genetische Studie, da die gefundenen Gen-Marker eher viel sehr früheren Einwanderern nach Asien ähneln. (Ayub 2015) Daraus ergibt sich die spannende Frage, warum, wenn nicht kulturell bedingt, sich die Ur-Ur-Vorfahren der Kalasha nicht mit all den anderen Menschen ihrer Umgebung vermischt haben sollten.

Roma

Eine populations-genetische Untersuchung bei Roma bestätigt die Vermutung, dass Ur-ahnen dieser Kultur aus Nord-Indien aufgebrochen sein sollen. Aber ebenso fanden sich viele Hinweise, dass sich junge Roma offenbar oft nicht an ihre strengen kulturell-religiösen Tabus hielten und sich stattdessen kreuz und quer verliebten. (Mendizabal 2012)

Literatur

Letzte Aktualisierung: 19.03.2021