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20. Februar 2024

Würde & Unversehrtheit

Grundrechte kann man nicht erwerben und nicht gewähren.
Sie sind gegeben und unveräußerlich.

Inhalt

  • Kinderschutz
  • Asyl und FGM

Kinderschutz

Die Würde des Menschen ist unantastbar ..
Menschenrechte (sind) unverletzlich und unveräußerlich ..
(dabei handelt es sich um) unmittelbar geltendes Recht.“ Grundgesetz Art. 1

Artikel 2.2 GG garantiert das Recht auf Unversehrtheit

Die Verletzung der Unversehrtheit bei Kindern ist ein Straftatbestand.
(§ 223, 224 StGB: Körperverletzung, § 1666 BGB: Kindeswohlgefährdung).

Trotzdem werden medizinisch nicht begründete Eingriffe bei Kindern durchgeführt. Die dafür Verantwortlichen werden in der Regel nicht bestraft. Obwohl Körperverletzung und Kindeswohlgefährdung in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden (§ 223 StGB, § 224 StGB, § 1666 BGB).

Warum ist das so?

Nehmen wir an, ein Elternpaar aus dem Volk der Zo’é in Brasilien würde in Berlin bei ihrem achtjährigen Kind den Unterkiefer durchstoßen. Und anschließend die Öffnung durch Dehnungen erweitern, um einen Lippenpflock einzuführen. Dürften sie das tun? Vermutlich ja, denn welches Gesetz sollte es ihnen verbieten?

Lippenpflöcke bei den Zo’é in Brasilien. Bilder: R. Garve, F. Nordhausen: Kirahé. Ch.Links Verlag, 2007, S. 400 u. 396

Die Eltern könnten argumentieren, diese Praxis werde ihnen aus religiösen Gründen vorgeschrieben. Sie sei ein unverzichtbares Merkmal der Mitglieder des Volkes. Außerdem werde die Durchbohrung mit angespitzten Affen-Knochen und anschließende Einführung immer dickerer Pflöcke von Sachkundigen durchgeführt. Es handele sich keinesfalls um eine Verstümmelung, sondern vielmehr um eine Verschönerung. Ohne solche Eingriff verliefe das Sozialverhalten der Gruppe nicht reibungslos.

Verstümmelungen in den USA

Die amerikanische Anästhesistin Jumana Nargarwala wurde wegen Verstümmelung von Mädchen angeklagt. Sie gewann in zwei Instanzen: Sie habe die Kinder, derentwegen man sie beschuldigte, nur chirurgisch optimiert. Hygienisch und operationstechnisch sei alles korrekt verlaufen. Sie habe im Auftrag ihrer Religion gehandelt.

Es war es angesichts dieser Begründungen nicht möglich, sie rechtskräftig zu verurteilen. Die Richter fanden kein übergeordnetes Bundesgesetz, welches die Praxis von FGM eindeutig verbiete ( 1 , 2 , 3 , 4 )

In Deutschland ist die Gesetzeslage ähnlich

So war es nicht möglich, den gynäkologischen „Chefarzt mit der Bastelschere“ zu verurteilen (TAZ 06.11.2023) Er entfernte laut Verteidigung „nur“ wenig Gewebe, was analog nach §1631d BGB in Deutschland legal ist, wenn das Sexualorgan Klitoris (analog Penis) nicht verletzt wird. Der Fall hat Bedeutung für „Female Genital Cosmetic Surgery (FGCS)“, u.a. bei Minderjährigen und u.a. zum lukrativen Geschäftsfeld ‚Jungfernhäutchen-Rekonstruktion‘. Damit ist die operative Verletzung der Scheide gemeint, die zu Vernarbungen führen soll, die dann an ein Organ erinnern sollen, das es nicht gibt (BR: 13.12. 2023: Mythos Jungfernhäutchen).

Gesetze und Leitlinien:

Bilder: intaction.org. Die Beschneidung ist ein „Mittel gegen Masturbation, welches bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist. Die Operation sollte von einem Arzt ohne Betäubung durchgeführt werden, weil der kurze Schmerz einen heilsamen Effekt hat, besonders, wenn er mit Gedanken an Strafe in Verbindung gebracht wird. Bei Mädchen, so hat der Autor herausgefunden, ist die Behandlung der Klitoris mit unverdünnter Karbolsäure (Phenol) hervorragend geeignet, die unnatürliche Erregung zu mindern.“ John Harvey Kellogg, M.D., Treatment for Self-Abuse and its Effects, Plain Facts for Old and Young. Iowa 1888, S. 295. gutenberg.org/files/19924/19924-h/19924-h.htm

§1631d BGB 

Einschränkung des Geltungsbereichs des Grundgesetzes für Jungs.

§226a StGB 

Untersagung von „Verstümmelungen“ bei Mädchen, ohne zu definieren, was damit gemeint sei. Im Umkehrschluss wären Eingriffe legal, die mit beschönigenden Begriffen bezeichnet werden: wie „Beschneidung, Cutting (FGC)“ oder „Kosmetische Genitalchirurgie / Cosmetic Surgery, (FCGS)“. Weiterhin lässt der Artikel 3 des GG Gesetze für unterschiedliche Personengruppen nicht zu. Folglich kann §226a StGB, wenn überhaupt, nur symbolischen Charakter haben. Solange, bis §1631d BGB ersatzlos gestrichen wird.

Leitlinie für rekonstruktive und kosmetische Eingriffe am weiblichen Genitale (AWMF 009-019)

Danach seien kosmetische, nicht medizinisch begründbare Eingriffe am Genitale von Kindern gerechtfertigt, wenn diese (von wem auch immer ausgelöstem) großem Leidensdruck stünden. Eingangs wird erwähnt, dass es sich bei „FGCS“ um ein wachsendes Geschäftsfeld handele.

Kosmetische Eingriffe am Genitale (female genital cosmetic surgery, FGCS, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von Genitalverstümmelung (female genital mutilation, FGM) wenn sie bei nicht-einwilligungsfähigen Personen durchgeführt werden. (Shahvisi A: Clinical Ethics 2017, 12(2)102-108). Im Leitlinien-Text fehlt der Hinweis auf Minderjährige, bei denen kosmetische Eingriffe (FGCS) medizinisch nicht indiziert wären. Stattdessen wird angedeutet, dass Mädchen unter einem erhöhten psychischen Leidensdruck stehen könnten. Daher könne ggf. „FGCS medizinisch indiziert“ sein. Bereits im 19 Jh. wurden Genital-Eingriffe aus „psychiatrischen Gründen“ vorgenommen. (Hulverscheid, Weibliche Genitalverstümmelung Mabuse 2000)

In den letzten Jahrzehnten stieg die Nachfrage nach Genital-Eingriffen im Rahmen von Störungen der geschlechtlichen Identitätsfindung in der Pubertät („Gender-Dysphorie“). Ein psychologisches, kulturelles und gesellschaftliches Phänomen, das wachsende Möglichkeiten für die Vermarktung (nebenwirkungsreicher) pharmakologischer und chirurgischer Interventionen bietet. (Lenzen-Schulte, DÄB, 02.12.2022)

Genitale Fehlbildungen bei der Geburt sind häufig Normvarianten ohne Krankheitswert.

Chirurgische Eingriffe zu ihrer Korrektur sind deshalb nur dann indiziert, wenn die Korrekturen tatsächlichen Krankheitserscheinungen vorbeugen würden. Nicht gerechtfertigt sind Eingriffe um ein Geschlecht eindeutig festzulegen. Die bestehende AWMF-Leitlinie „Weiblichen genitalen Fehlbildungen“ hat allerdings nur Empfehlungscharakter.

Dringend nötig: eindeutiges Recht

Die hier skizzierten juristischen Probleme könnten relativ einfach gelöst werden:

Der Artikel 2.2 GG müsste nur durch einen ebenso eindeutigen Strafrechts-Paragrafen ergänzt werden. Etwa so, wie es das Netzwerk zur Umsetzung der UN Kinderrechtskonvention fordert:

„Genitale Selbstbestimmung: Die UN-KRK gibt vor, dass eine vom Geschlecht des Kindes abhängige unterschiedliche Zusprechung von Kinderrechten unzulässig sei. Zudem stellt die Genderforschung fest, dass das äußere Genital bei Geburt nicht zwingend mit dem tatsächlichen Geschlecht eines Menschen übereinstimmt. Darum ist besonders beim Thema der genitalen Unversehrtheit bzw. Selbstbestimmung von Kindern nur eine einheitliche Regelung zum Schutz aller Kinder ethisch und rechtlich vertretbar. Das Entfernen eines gesunden und funktionsfähigen Körperteils ohne mündige und informierte Einwilligung der betroffenen Person widerspricht immer dem Recht des Kindes auf Aufwachsen und volle Entfaltung seiner Persönlichkeit. Ein gesetzlicher Schutz aller Kinder vor jeglicher medizinisch nicht notwendiger Genitalverletzung, -verstümmelung, -operation und -normierung würde die Bestimmungen der UN-KRK erfüllen. Unsere Forderungen: Der Schutz vor therapeutisch nicht notwendigen Genitaloperationen aller Kinder soll gesetzlich formuliert werden. Wege der Umsetzung sind in breiten gesellschaftlichen Foren zu erarbeiten (z. B. Moratorien, Zwischenschritte, Übergangsfristen), begleitet von Informationen und Sensibilisierungskampagnen.“ (Zwischenbericht, Seite 32: https://netzwerk-kinderrechte.de/wp-content/uploads/2023/12/NC_ZwischenBericht-final.pdf)

Damit wären tatsächlich alle Kinder vor einer Verletzung ihrer Unversehrtheit geschützt.

„The position I advocate is fairly simple: children should be protected from medically unnecessary genital cutting and/or modification until they are adults; once they become adults, they should be permitted to have their genitalia modified should they so choose. Townsend 2022, 2023

FGM und Asylträge

Selbstbewusst
Selbstbewusstes Mädchen in Tansania 1981 (Bild: Jäger)

Nach der Asylaufnahmerichtlinie gelten Opfer genitaler Verstümmelungen oder Traumatisierungen als besonders schutzbedürftig. Der Staat ist auf der Basis des Grundgesetzes verpflichtet, Menschen die in Deutschland leben, eine angemessene Basisgesundheitsversorgung zu garantieren und sie vor Verstümmelung zu schützen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zwingt Frauen, die von genitalen Traumatisierungen betroffen sind, und die in Deutschland Asyl beantragen, zu rechtsmedizinischen Untersuchungen. Es solle geklärt werden, ob bei diesen Frauen eine Genitalverstümmelung (FGM) vorliege, und wenn ja welcher Grad.

Sie werden zu Frauenärzt:innen (oder in Bayern zu Rechtsmediziner:innen) geschickt, die gegen eine Gebühr ein „Gutachten“ für das BAMF erstellen sollen. Eine sachgerechte Beratung, wie diese Verletzungen versorgt und korrigiert werden könnten, erfolgt dabei nicht.

In einer Veröffentlichung von 153 Untersuchungen wurde behauptet, dass eine genitale Befunderhebung „möglicherweise“ zum Schutz von Mädchen vor Genitalverstümmelungen im Heimat beitragen könne, wenn „unverstümmelten Mädchen genau aufgrund dessen Asyl gewährt würde“ (Zinka 2018).

Dieses Argument rechtfertigt die Untersuchungen nicht. Denn zur Beurteilung, ob ein Asylgrund vorliegt oder nicht, hilft Stadien-Einteilung von Genitalbefunden (FGM 0-IV) nicht weiter:

  • Frauen, bei denen keine Vernarbungen sichtbar sind, können massive (insb. psychische) Traumatisierungen erlebt haben (Vergewaltigung, Missbrauch, Ritzungen).
  • Oder es kann ihnen eine Verstümmelung drohen (oder eine Vergewaltigung oder eine Zwangsverheiratung).
  • Und Frauen, bei denen eine genitale Verletzung stattgefunden hat, sind ggf. gefährdet, nochmals verstümmelt zu werden.

Wenn Ärzt:innen nicht zu kultursensibel-sexualkundlichen und gynäkologisch-fachlichen Beratungen in der Lage sind, werden die Frauen durch Zwangsuntersuchungen zur „Feststellung einer Genitalverstümmelung“ re-traumatisiert.

Die für die betroffenen Frauen belastende „rechtsmedizinische Untersuchungen“ ist sinnlos und sollten unterlassen werden. Stattdessen sollten die Frauen auf sachkundige und kulturkompetente Beratungsstellen, Hebammen und Praxen verwiesen werden.

Mehr

Weitere Hinweise:

Schutzbrief

Literatur zu Recht und Ethik

Gesetze

Medien

  • BBC-Report 03.04.2019 –
  • Slide-Share
  • Ergebnis: FGM III
  • FGM-Durchführung: (1) und (2) und (3)
  • Male Circumcision: siehe weiter unten

Hintergründe und Projekte (zu FGM)

FGM (weltweit)

FGM (in Deutschland)

Jungenbeschneidung / Male Circumcision

Literatur zu Recht und Ethik

Letzte Aktualisierung: 22.02.2024