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6. März 2021

Die Medizin am Wendepunkt

Alle Lebensbereiche sind medikalisiert

Trotzdem wächst der Medizinmarkt weiter. Getrieben von Todesängsten und Heilsversprechen. „Gesundheit“ ist 2020 fraglos zur wichtigsten gesellschaftlichen Macht aufgestiegen.

Der Einschlag des „Corona-Meteoriten“ beschleunigte nicht nur die Digitalisierung der Medizin: Er leitete eine umfassende Gesellschafts-Transformation ein.

Menschen verwandeln sich immer mehr in Hybrid-Wesen, die Verbindungen zu elektronischen Geräten und Mini-Rechenprogrammen eingehen. Bereits heute sind normale-Apple-Watches (ohne Wissen ihrer Nutzer:innen) für das Screening von Vorhof-Flimmern programmiert. Und demnächst werden sie die Sauerstoffsättigungen messen, und den Blutzucker.

Die immer genaueren Apps führen zu mehr Diagnostik, und lösen immer neue Wellen von Therapien aus. Besonders weil bei unklaren Rausch-Signalen aus juristischen Gründen nichts übersehen werden darf.

Wird das unausweichlich so bleiben, oder noch schlimmer werden?

Wachstum durch Übertherapie

Der ärztliche Beruf ist wunderlicher Natur und immer wieder haben geistvolle Köpfe darüber nachgedacht, was eigentlich an diesem Gemisch von Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft das Wesentliche ist. Hermann Kerschensteiner, 1873-1937

Im klassischen Medizin-Geschäft spielten die Ärzt:innen eine zentrale Rolle. Zuerst als „Herrgötter in Weiß“ und dann, immer noch steuernd Einfluss nehmende, als Anwendungstechniker:innen von Gesundheitsprodukten. Sie profitierten (ähnlich wie die Apotheker:innen) vom Wachstum des Marktgeschehens. Besonders wenn sie ihre Patient:innen so behandelten, dass oft und bald wiederkamen und sich am „gesunden“ Konsum von Pillen erfreuten.

Unmerklich wurden die Ärzt:innen in den zentralen Gesundheits-Fabriken durch Ökonom:innen verdrängt. Auch diese waren (und sind) an Übertherapie interessiert. Mehr Behandlung bringt Krankenhäusern mehr Einnahmen – daher braucht dieser Markt Krankheiten, Lebens- und Todesängste.

Die Krankenhauskonzerne degradierten Ärzt:innen von Treibern der Medikalisierung zu Getriebenen. Aber sie wurden immer noch (dank des Einflusses ihrer Standesorganisationen) zufriedenstellend bezahlt.

„Gute Ärzt:innen“, die versuchten als Anwälte ihrer Patient:innen zu handeln, konnten die Kommerzialisierung der Medizin nicht aufhalten (s.u. Bernhard Lowen, Klaus Dörner).

Die, die weiterhin, trotz aller Widerstände und Anfeindungen als „Guter Arzt oder gute Ärztin“ sinnvoll wirken wollen, machen sich zunehmend Sorgen. Und oft verzweifeln sie an dem, was sie täglich erleben.

Denn der alles durchdringende Gesundheits-Business hat sich – wie 1976 von Ivan Illich (s.u.) vorhergesagt – zu einem der dominierenden Krankheitsfaktoren ausgewachsen. Oder gar zu einer Gesundheits-Religion mit ärztlichen Priester:innen, die den Staat beherrschen. (Agamben 2021)

Bild: Bahnhof Leibzig im Februar 2021 (Jäger). Andere Sprüche dieser Serie in etwa: „Warum heißt er Hausarzt, wenn er nicht nach Hause kommt?“ oder „Wenn alles digital ist: Warum ist dann meine Gesundheit noch analog?“

Übernimmt die Digital-Industrie den Medizinmarkt?

Die Digital-Konzerne versuchen es. Und sie sind mit neuem Schwung seit 2020 ziemlich erfolgreich. „Health 2.0“-Strategien oder „Algorithmen-gesteuertes patient processing“, überfluten den Markt nach dem Corona-Einschlag wie ein Tsunami.

Das Gold der Digitalindustrie sind Daten

Es ist absehbar, dass aus jedem menschlichen Molekül Wertschöpfung generiert werden kann. Die Handelsware der Algorithmen-Konzerne beruht darauf, jedes Detail ihrer Nutzer:innen zu kennen, und deren Beziehungen, Wechselwirkungen und Dynamiken (für sich) nutzbringend zu beeinflussen. Die Illusion von Autonomie wird weiter – aus Marketinggründen – gefördert, faktisch wird sie immer mehr eingeschränkt werden.

Möglicherweise eröffnet sich hier auch eine Chance

Digitalunternehmen verdienen nicht unbedingt an medizinischer Übertherapie. Ihr Interesse ist es, Hersteller und Dienstleister im Markt mit Datenbank-Management und Deep-Mind-Technologien zu steuern. Sie wollen aber nicht mehr, wie bisher, die Hilfsprogrammierer der Pharma-Produzenten sein, sondern umgekehrt die Medizinindustrie dominieren.

Folglich sind die Algorithmen-Herrscher an Rationalisierungen der Prozesse interessiert. Sinnlose Medikalisierungen, Placebo-Voodoologien, schamanistische Heilrituale und unnötige Übertherapien, mit denen bisher im Gesundheitsmarkt das meiste Geld verdient wird, sind für sie nicht unbedingt profitabel.

Es liegt für Programmierer daher nahe, immer mehr Ärzt:innen durch Algorithmen zu ersetzen. Denn damit werden nicht nur unnötig hohe Personalkosten, sondern zugleich Risiken von Falsch- und Über-Therapien eingespart.

Bereits 2017 glaubte Prof. Geoffrey Hinton, ein Entwickler neuronaler Netzstrukturen („Deep Learning“), dass es „ganz offensichtlich“ sei, „dass wir aufhören sollten, Radiologen zu trainieren“. Denn Algorithmen wären in der Bilderkennung (z.B. bei Brustuntersuchungen von Frauen) sehr bald deutlich effizienter und auch effektiver als Menschen.

„Radiologists are the coyote already over the edge of the cliff
ho hasn’t yet looked down” Geoffrey Hinton 2017

Wenn ein ehemaliger Programmierer von SAP recht behielte

„Algorithmen werden in nur 10 Jahren die Ärzte überflügeln“
de Witte 2017

würde es dann den Patient:innen dramatisch schlechter gehen?

Nicht unbedingt:

Doktor-Nurse-Substitution

Eine neue Vision vieler Groß-Programmierer beruht auf der Verbindung eines mächtigen „Deep-Learning-Algorithmus“ mit einer freundlichen, selbständigen, gut ausgebildeten Gemeindeschwester“. Oder als optimistisch-rosa-gefärbte Vision: Die Verbindung einer Super-Maschine mit einem empathischen Menschen.

Diese Zukunftsvorstellung muss für die Patient:innen nicht nur Schlechtes bedeuten (im Sinne von Fremdbestimmung und Ausbeutung).

Denn es wäre auch denkbar, dass das konventionell-interventionistische Medizinsystem, durch eine bessere Steuerung, künftig deutlich weniger Krankheiten verursachen würde. Es könnte sogar sein, dass die Einheit aus Superrechner und beziehungsfähiger Pflegekraft, in der Lage wäre zu erkennen, dass die Realität komplex ist. Und dass Wechselwirkungen (wie in der Physik) wichtiger sind als Einzelfaktoren. Vielleicht könnte sogar das medizin-beherrschende Paradigma der „Kriege gegen irgendetwas …“, aus dem 19. Jahrhunderts, den Vorstellungen der System-Biologie des 21. Jahrhunderts weichen. (Ökosystem Mensch).

Die erste, die erkannte, dass die damals etablierte Medizin, Heilungsprozesse erschwerte, war die Mathematikerin und Krankenschwester Florence Nightingale. Ihre Erfolge in der Behandlung der Cholera beruhten nicht nur auf einer empathischen Pflege, sondern auch darauf, dass Ärzte ihre Pflegeinrichtungen nicht betreten durften.

Die von Chemikern und Ärzten erfundene, kriegerische Keimtheorie, die uns bis heute quält, entstand erst ein halbes Jahrhundert später. Und sie bricht seither endlose Bekämpfungen mit immer neuen Waffensystemen gegen Einzelfaktoren vom Zaum, ohne sie als Teil von Ökosystemen begreifen zu können.

Die Kombination von Physiker:innen, die immer besser mit komplexen Daten umgehen können, mit Krankenschwestern und Pflegern, die zu menschlichen Beziehungen fähig sind, könnte also durchaus zu etwas Neuem führen.

Beispiel: Gynäkolog:innen & Hebammen

In Holland z.B. praktizieren acht Frauenärzte pro 100.000  Einwohner. In Dänemark sind es zehn. In Deutschland aber dreimal so viel:  23 pro 100.000 Einwohner. (Quelle: WHO 2021)

Warum ist die Krankheitslast bei Frauen in Dänemark und Niederlanden nicht dreimal so hoch, sondern eher niedriger, obwohl die Gynäkolog:innen-Dichte in Deutschland dreimal so hoch ist? WHO Women’s health andwell-being in Europe: https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/332324/9789289051910-eng.pdf

Führte diese höhere Facharztdichte zwangsläufig zu mehr Gesundheit? Offenbar nicht, denn die Frauen in Holland und Dänemark sind (statistisch gesehen) eher weniger krank als in Deutschland.

Aber auch im frauenärztlich-gesegneten Deutschland ist es schwierig, einen Termin bei Gynäkolog:innen zu bekommen. Die Praxen sind übervoll.

Das liegt daran, dass dort immer mehr diagnostiziert wird, was zwangsläufig zu vielen neuen Interventionen führt. Im Vordergund steht die Erkennung spezieller Probleme, die drohen könnten, oder die (seltener) auch bestehen (Keim, Virus, ungewollte Ereignisse, Krankheit, …).

Die Gefahren werden dann – isoliert betrachtet – mit Medizin-Produkten behandelt, bekämpft oder beseitigt. Die Selbstbefähigung einer Nutzerin rückt meist in den Hintergrund.

Sexualberatung, Schwangerschaftsvorsorge, Lebensberatung und Krebsfrüherkennung könnten „eigentlich“ genauso gut durch Hebammen, Psycholog:innen (z.B. der Pro Familia) und besonders ausgebildete Krankenschwestern erfolgen. Diese würden dann nur im Fall spezieller Krankheitszustände an Spezialist:innen weiter verweisen.

Damit entfiele der Bedarf, Krankheiten so erzeugen, um behandeln zu können. „Individuelle Gesundheitsleistungen“ oder Placebologien mit fraglichem Nutzen und unklaren Risiken könnten eingespart werden. Nicht-Ärzt:innen hätten zudem ein großes Interesse daran, sich an Leitlinien oder an Vorgaben evidenz-basierter Algorithmen zu halten. Und sie würden die Qualität der Kommunikation mit Ihren Patient:innen stärker betonen. (Cochrane 2018, Laurant 2021)

Miranda Laurant, HAN Univ., EbM Kongreß 25.02.2021

So berichtete die Pflegewissenschaftlerin Miranda Laurant am 25.02.2021 in einem Vortrag (EbM-Kongress), dass es in Holland möglich gewesen sei, Gesundheitskosten einzusparen und zugleich die Ergebnisqualität und die Patientenzufriedenheit zu erhöhen.

Die Berufsgruppe der Gynäkolog:innen ist also gleich mehrfach bedroht

Durch:

  • Hebammen, die aufgrund §1 HebG und SGB V §24d Schwangere und Gebärende selbständig und eigenverantwortlich betreuen.
  • Naturwissenschaftler:innen des Bundesamtes für Strahlenschutz, die die wichtige Einnahmequelle unnötiger Ultraschalluntersuchungen (Babyfernsehen) verboten haben (s.u.)
  • Eine neue Leitlinie zur natürlichen Geburt (AWMF), deren Anwendung schädliche Übertherapien erschwert. (s.u.)
  • „Health 2.0“:
    • Algorithmen, die standardisierte Diagnostik und Behandlungen-Schemata erzwingen und den Spielraum für Zusatzeinnahmen begrenzen.
    • Rationalisierungen, die unrentables Einzelunternehmertum aussondern, und nur noch abhängige Anstellungsverhältnisse bieten.
    • Direktvermarktungen von Produkten und Dienstleistungen.

Wer könnte den Arztberuf retten?

Noch

  • verdienen Ärzt:innen gut durch die Anwendung und den Verkauf zahlreicher pharmazeutischer Produkte und Dienstleistungen.
  • vertrauen die meisten Nutzer:innen ärztlicher Behandlungen weiterhin den schamanistische Aspekten des Heilens („Placebo“ s.u.)
  • bauen Ärzt:innen (zurecht) auf die Macht ihrer Standesorganisationen.

So konnten Gynäkolog:innen eine (nicht-gesetzes-konforme) Änderung der Mutterschaftsrichtlinien durchsetzen. (s.u.) Danach dürfen Hebammen (entgegen gesetzlich verankertem Recht) nur in der Schwangerschaftsvorsorge tätig werden, wenn Ärzt:innen dies an sie delegieren.

Außerdem können Ärzt:innen auch noch sicher sein, dass

  • immer mehr entdeckt wird, mit dem Angst ausgelöst werden kann.
  • das immer neue Produkte sich ihre Krankheiten suchen werden,
  • und die Kund:innen in der Regel der ärztlichen Autorität brav folgen.

Noch sehen sich also die meisten Ärzt:innen nicht bedroht.

Aber spätestens, wenn die Digitalkonzerne immer mehr Pharmahersteller, Praxen und Krankenhauskonzerne übernommen haben, werden sich viele die Augen reiben.

Rettung durch etwas ganz Neues: Empathische Ärzt:innen?

Victor Montori. EbM Kongreß 25.02.2021

Ein Chefarzt der Mayo-Clinic in den USA glaubt an das Geschäftsmodell von „Kind and careful care“. Im Prinzip beschreibt er eine gute, psychosomatische, patientenorientierte, ethische, beziehungsreiche, empathische, berührende Medizin. (Mezis, Körper-Seele-Umfeld)

Also die Medizin, wie sie „eigentlich“sein sollte – aber nicht ist. Weil sie – ärztlich geführt – zum Medikalisierungs-Kommerz verkam.

Ich erkenne für das ärztliche Geschäftsmodell „Kind Care“ (außerhalb von Privatkliniken wie Mayo) keine Chance. Denn weder die Pharmaindustrie noch die Digitalkonzerne werden die (viel zu teuren) Ärzt:innen dafür bezahlen.

Die massive Digitalisierung, die u.a. von Google und Apple vorangetrieben wird, bietet aber für die nicht-ärztlichen Berufsgruppen (die „Care“ statt „Cure“ betonen) erhebliche Vorteile.

Und sie könnte durch Senkung unntiger, kommerziell motivierter Therapien (ohne Ärzt:innen) nicht nur kosten-sparender, sondern auch deutlicher patientenfreundlicher sein.

Ich vermute daher: Viele Ärzt:innen werden sich (früher oder später) neue Jobs suchen müssen.

Einige, besonders hochqualifizierte, naturwissenschaftliche (nicht-schamanistische) Ärzt:innen werden sicher in den neuen digital-konzern-gesteuerten Gesundheitsfabriken als Hochspezialisten arbeiten. Allerdings nur als Mitglieder multidisziplinärer Teams von Physiker:innen, Mathematiker:innen, Psycholog:innen u.va.

Eine andere kleine Minderheit könnte versuchen, sich aus dem Gesundheitsmarkt zurückzuziehen, und zu dem zurückzukehren, was Mediziner:innen vor 2.500 Jahren einmal waren: Gesundheitsphilosoph:innen. Damals wurden sie dafür bezahlt, dass man aufgrund ihres guten Rates gesund, fröhlich und munter blieb. Und man folglich wenig Grund verspürte, den damaligen Gesundheitsmarkt der Kräuterapotheken und Wunderheiler:innen aufsuchen zu müssen.

Seit ich Chancen zu erkennen glaube, dass Ideen von Florence Nightingal eine Renaissance erleben könnten („Gesundheit ohne Ärzt:innen“), blicke ich nicht mehr ganz so pessimistisch in die Zukunft.

Mehr

Workshops

  • 19./20.03.2021: Mezis-Fachtagung (online):
    Influencer im Gesundheitswesen“ (Programm , Anmeldung)
  • 25.04.2021: „Brauchen wir eine neue Arztolle?
    Mezis-Workshop in Rotenburg, Flyer

Literatur

Letzte Aktualisierung: 26.05.2021