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2. Januar 2023

Ethik in der Medizin

Der Wirtschaftsbereich, in dem Gesundheitsprodukte und Dienstleistungen vermarktet werden, wächst stetig. Zwei ethische Prinzipien scheinen zugleich immer mehr an Bedeutung zu verlieren:

  • Das Vorsorgeprinzip und
  • die Verpflichtung, nicht zu täuschen.

Das Vorsorgeprinzip.

Es besagt, dass vorausschauendes Nicht-Handeln „dann nötig (sei), wenn Sicherheitsrisiken in einem größeren Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden können. Oder wenn sich Interventionen über lange Zeiträume als nicht nachhaltig-günstig auswirken“ (UBA 2015).

Die erste Formulierung dieses Prinzips geht auf den römischen Arzt Scribonius Largus (1. Jhh. n.u.Z.) zurück, der sich dabei auf Hippocrates (um 400 v.u.Z.) berief: „Erstens: nicht schaden. Zweitens: vorsichtig vorgehen. Drittens: heilen (primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare)“

Gradwanderung. Bild: Mezis-Nachrichten (Jäger H: Ethische Herausforderungen in der Medizin und die Konsequenz für Mezis. MN 3/2019, 10.12,2019

Übertragen auf die Medizin: Man soll Patient:innen keinen weiteren Schaden zugefügen. Also langsam und vorsichtig vorgehen oder (im Zweifel) Interventionen unterlassen.

Das hat sich im Wirtschafts-Markt der Medizin als sperrig erwiesen.

Denn das Vorsorgeprinzip entwertet Heilungsversprechen. Es bremst die Dynamik des „Neuen Normal“: Die Medikalisierung aller Lebensbereiche.

Die Zulassung neuer Medizinprodukte, chirurgischer Innovationen oder Dienstleistungen beschr#änkt sich meist drei Prüfungs-Phasen beschränken, denen dann in der Regel eine uneingeschränkte, flächendeckende Vermarktung folgt:

  • Phase I: Test mit wenigen Probanden
  • Phase II: Test mit wenigen Kranken
  • Phase III: Test mit vielen Kranken

Herstellerunabhängige, langfristig und in die Zukunft orientierte Phase IV-Studien, die Anwendung und Nicht-Anwendung eines neuen Produktes über einen langen Zeitraum beobachten würden, finden meist nicht statt.

Technisch wäre es relativ einfach:

Personen einer Region, in der eine Neuerung vermarktet würde, könnten hinsichtlich ihren allgemeinen Erkrankungs-Wahrscheinlichkeiten verglichen werden, mit repräsentativen Personen einer anderen Region, in der keine Vermarktung stattfindet. (cmRCT-Studiendesign: Relton 2010, Verkopijen 2013) Erstmals gefordert wurde dieses Vorgehen 1978 von einer amerikanischen Regierungskommission, die eine Medizinkatastrophe analysierte:

„Wir glauben, dass es ein Fehler war, in Ermangelung einer offensichtlichen Gefahr alle Maßnahmen zu ergreifen. … Wenn Entscheidungen auf sehr begrenzten wissenschaftlichen Daten beruhen … ist eine umfassende Aktion ein Fehler … das Ministerium sollte Schlüsselpunkte festlegen, an denen das Programm neu bewertet werden sollte (

„We believe that in the absence of manifest danger, all-out action was a mistake. … When decisions are based on very limited scientific data … all-out action is a mistake … the Ministry should establish key points at which the program should be re-evaluated. (Neustadt 1978, BMJ 2005)

Der kommerzielle und politische Nachteile dieses Vorgehens bestünden darin, dass sich die Vermarktung neuer Produkte erheblich verzögern würde. Das Vorsorgeprinzip ist Gift für jede Blog-Buster-Dynamik. Ferner bestünde das Risiko, dass man ggf. feststellen würde, dass es behandelten Personen insgesamt (bezogen auf alle Krankheitsursachen) nicht unbedingt besser ginge.

Die Umkehr des Vorsorgeprinzips

Um die Vermarktung neuer Medizinprodukte, Techniken oder Dienstleistungen zu erleichtern, wird das Vorsorgeprinzip im „Neuen Normal“ des Marktes umgekehrt. Es lautet dann in etwa so:

„Wenn (aufgrund des Wissensstandes im Rahmen der allgemein akzeptierter Theorie und medizin-politischer Leitlinien) ein Nutzen vermutet wird, und es zurzeit keinen Beleg für einen Schaden gibt, dann darf Patient:innen eine möglicherweise vielversprechende Maßnahme nicht vorenthalten werden.“

Die auf diesem alternativen ethischen Grundsatz basierende Zulassungs-Praxis belegt einen wahrscheinlichen Nutzen durch Messung von Indikatoren (u.a. so genannten Surrogat-Markern). Und sie schließt das Risiko kurzfristig auftretender Nebenwirkungen weitgehend aus. Anschließend kann und soll das Produkt breit vermarktet werden. Auf Langzeitbeobachtungen zu Morbidität und Mortalität bei Anwendung oder Nicht-Anwendung wird dabei meist verzichtet.

Beispiel

Der vielleicht größte Blog-buster der Menschheitsgeschichte war die Austestung und Vermarktung der mRNA-Technologie im Rahmen der Covid-19-Pandemie (2020-2022). Als Beispiele eignen sich aber weniger bekannte (und daher ideologisch weniger umstrittene) Interventionen besser.

Wie u.a. die Einführung des „Vaginalbändchens“ (TVT) bei Harninkontinenz.

Nach experimentellen Versuchen wurden seit 1995 in vielen Ländern nach und nach, bei Patientinnen, die unter unwillkürlichem Harnverlust litten, in relativ kleinen Eingriffen Kunstgewebe (engl. mesh) eingelegt. Ohne weitere systematisch-begleitende Studien. Diese TOT („transobturator tapes“) oder TVT („tension-free vaginal tape“) erwiesen sich kurzfristig als sehr erfolgreich. Sie waren nebenwirkungsärmer als die bisherigen chirurgischen Verfahren. Und bequemer (bzw. zeitsparender) als ein Hinwirken auf Verhaltensänderungen („Bewegung, Achtsamkeit, Ernährung …“). Die langfristigen Auswirkungen waren bei der Zulassung unbekannt. Die Euphorie war groß:

„Als Goldstandard hat sich seit etwa zwölf Jahren die TVT (Tension-free Vaginal Tape) durchgesetzt, die den früheren Standard (…) abgelöst hat. (Kölbl, PM DGGG 2014, am 03.01.2023 weiter bei DGGG abrufbar).

Bei therapeutischem Misserfolg oder Nebenwirkungen (z.B. Dauerschmerz) erwies sich die Entfernung der Implantate jedoch als schwierig und riskant. Da sich die Fälle der Patient:innen häuften, deren Situation sich durch den Eingriff verschlechterte (Keltie 2017), befassten sich nun Jurist:innen mit dieser neuen Operationsmethode. (Thompson 2019)

„… Der rasante Aufstieg und steile Fall von Vaginalnetzen … Die Geschichte ist haarsträubend und bietet Lehren für die gesamte medizinische Gemeinschaft, die Hersteller und die Regulierungsbehörden. …“ Gornall, BMJ 2018

Wurde hier aus Fehlern gelernt? 2023 wird die Methode jedenfalls in Deutschland noch beworben: u.a. auf operation.de.

Wer haftet, wenn es schief geht?

Bei der juristischen Beurteilung eines misslungenen Eingriffes, der im Rahmen der Umkehrung des Vorsorgeprinzips vorgenommen wurde, wird zunächst geprüft, ob die Betroffenen voll-umfangreich zu allen Risiken informiert wurden. Das kann aber meist gar nicht möglich gewesen sein. Denn die wesentlichen Risiken waren zum Zeitpunkt des Eingriffes schlicht unbekannt.

Es ist wie beim Rudern über einen See: Man schaut nach hinten, in die Vergangenheit, und kann das in der Zukunft liegende Hindernis nicht erkennen. Dieses rückwärts-orientiert-schein-sichere Verhalten ist in allen Bereichen menschlichen Handelns sehr beliebt. Denn es bewährt sich bei vielen Interventionen kurz- und mittelfristig, bis sich dann manchmal völlig überraschend, unvorhersehbar und plötzlich eine systemrelevante Katastrophe ereignet. (Taleb 2017)

In den anschließenden juristischen Auseinandersetzungen wird in der Regel argumentiert, die aufgetretenen Schäden hätten sich schicksalhaft ereignet. Man habe stets nach bestem Stand des Wissens gehandelt, und die Probleme nicht vorhersehen können.

Der scheinbare Ausweg aus dem ethischen Dilemma der Umkehrung des Vorsorgeprinzips ist nach gängiger Sicht die informierte Einwilligung (engl. informed consent). Wenn Patient:innen nach ausführlicher Aufklärung über Nebenwirkungen und die Erfolgschancen einer medizinischen Maßnahme oder Therapie zustimmt, sind die Ärzt:innen ethisch legitimiert, sie durchzuführen. Das Prinzip der informierten Einwilligung setzt allerdings voraus, dass

  • Patient:innen die erhaltenen Informationen verstehen und verarbeiten können. Das bei schweren Krankheitsereignissen meist nicht der Fall. Oft unterschreiben sie „blind“, weil sie auf Hilfe vertrauen. Anschließend (vor Gericht) können sie oft mit gutem Grund behaupten, nichts verstanden zu haben.
  • Ärzt:innen optimal über den besten Stand Evidenz basierter Informationen aufgeklärt sind, und diese auch kommunikativ hochkompetent vermitteln können
  • den/die Patienten/in (aus kommerziellen oder paternalistischen Gründen) nicht täuschen, sondern das vermitteln, was sie für wahr halten.

Wahrhaftigkeit

Auch der ethische Grundsatz der Wahrhaftigkeit ist angesichts des Angebotes medizinischer Leistungen unbequem und bedroht. Denn „Wahrhaftig sein“ verlangt rückhaltlose Offenheit und Transparenz: insbesondere zu den eigenen Interessen und den Grenzen des eigenen Könnens. Und weiterhin natürlich auch: Empathie, Zeit und Kommunikationskompetenz.

Deshalb ist es viel einfacher Patient:innen zu vermitteln, was gegründet auf die „Experten-Kompetenz“ für sie gut und notwendig sei. Und das gelte auch, wenn die Ärzt*innen von der Nutzlosigkeit einer Maßnahme überzeugt sind. Mediziner*innen erhöhen sich in diesem Fall zu Schäfern, denen abhängige, blinde Schafe hinterhertrotten sollen (sog. Compliance = sich strikt an die Empfehlung halten).

Ist Placebo-Täuschung ethisch gerechtfertigt?

Ein Arbeitskreis der Bundesärztekammer hielt „die bewusste Anwendung von reinem Placebo oder sogenanntem Pseudo-Placebo in der therapeutischen Praxis außerhalb klinischer Studien“ für ethisch vertretbar (Jütte 2010). Das gelte auch unter bestimmten Voraussetzungen für „Pseudo-Placebo-Gaben“ (nebenwirkungsreiche, spezifische Wirkstoffe für die Auslösung nicht spezifischer Therapieziele) und „scheinchirurgische Eingriffe“. Placebo-Anwendungen seien erlaubt, wenn „keine geprüfte wirksame (Pharmako)-Therapie vorhanden“ sei, „es sich um relativ geringe Beschwerden“ handele, „ein ausdrücklicher Wunsch des Patienten nach einer Behandlung“ vorliege, und „eine Aussicht auf Erfolg einer Placebo-Behandlung bei dieser Erkrankung“ bestehe. Davon könnten Patient:innen messbar profitieren (Jütte 2014). 2019 wird ergänzt, dass sich

„die internationale Placeboforschung .. in den letzten Jahren immer weiterentwickelt (habe). Dazu gehört auch der verblüffende Ansatz, die Patientinnen und Patienten voll darüber aufzuklären, dass sie ein Scheinmedikament oder eine Scheintherapie erhalten.“ (Jütte 2019)

Die „überraschende“ Erkenntnis des Placebo-Forschers ist, dass positive Erwartungshaltungen und Konditionierungen heilsam wirken können, besonders wenn sie zu körperlichem Lernen, führen. (Benedetti 2017)

„Placebo-Effekte“ sind aber, wie viele andere Maßnahmen, die Sicherheitsgefühle auslösen, eine Folge von Kommunikationsprozessen. Sie beruhen auf der Auslösung von Sicherheitsgefühlen und positiven Erwartungshaltungen. Beides wirkt sich immunmodulierend aus (Benedetti 2018), denn die psychologische Grundeinstellung der Betroffenen verändert sich: Panik, Stress und Angst nehmen ab, während Zuversicht, Vertrauen und Hoffnung wachsen an. Das hat eine Beruhigung der Immunfunktion zur Folge, die zu einem effektiveren Umgang mit den Krankheitserscheinungen und damit zu günstigen Entwicklungen führt. Der gleiche Autor fragt sich jetzt aber auch, ob die „Placebo-Forschung“ nicht „Pseudo-Science“ fördere. (Benedetti 2019) Natürlich ist das der Fall: Denn Placebologie und Medikalisierung sind lukrative Geschäftsfelder.

Mittlerweile ist auch unter „Placebo-Forschern“ bekannt, dass die Auslösung der Kommunikationseffekte, auch bei der Gabe von „reinen Placebos“, genauso gut ohne jede Irreführung der Anwender*innen funktionieren. Mit anderen Worten: für eine wirksam Kommunikationsform, die Körperlernen auslöst, ist es nicht nötig, die Patient*innen wie bisher noch „hinters Licht“ zu führen. Alle Beteiligten im Gesundheitswesen, denen die Interessen ihrer Patient*innen am Herzen liegen, müssen folglich heilsame Kommunikations-Prozesse professionell-wirksam gestalten. Täuschende Anwendungen von „Placebos“ oder gar „Pseudo-Placebo-Betrug“ (ob kommerziell oder paternalistisch motiviert) müssten als ethisch unhaltbar geächtet werden.

Das ist umso wichtiger, als Systemfunktionen und Systemeffekte in der naturwissenschaftlichen Medizin immer besser verstanden werden:

Etwa das hochkomplexe Zusammenwirken von intra- und extrazellulären Mikrobiom, Darm, Immunzellen, Drüsen und Gehirn. Dieser Systemzusammenhang kann leicht gestört werden, und führt dann u.a. zu Krankheiten wie Reizdarm oder Fibromyalgie. Um diese Systemstörungen günstig zu beeinflussen werden spezifische Interventionen diskutiert (Mogilevski 2019), und nicht-spezifische Methoden, die Körperlernen trainieren. (Wang 2018) Bei beiden therapeutischen Ansätzen wäre ein umfassende, transparente Aufklärung nötig.

Täuschung hätte dabei keinen Platz.

Mehr

Literatur

  • Benedetti F (2018): How do placebos work? Eur J Psychotraumatol. 2018 Oct 25;9(Suppl 3):1533370. www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6211282/
  • Benedetti F (2019): The Dangerous Side of Placebo Research: Is Hard Science Boosting Pseudoscience? Clin Pharmacology & therapeutics 21.08.2019, Epub before print
  • Jütte R et al.(2014): Placebo: Wirkungen sind meßbar, DÄB 2014, 21: 802-804, www.aerzteblatt.de/14936
  • Jütte R (2019): Selbst eingebildete Pillen können wirken Dtsch Arztebl 2019; 116(31-32): A-1426 / B-1181 / C-1165 h-ps://www.aerztebla-.de/archiv/209146/Placeboforschung-Selbst-eingebildete-Pillen-koennen-wirken
  • Jütte R. et al. (2010): Placebo in der Medizin 22.12.2010, Deutscher Ärzte Verlag, . „Pseudo-Placebo“ s. Seite 182
  • Mogilevski T et al (2019): Review article: the role of the autonomic nervous system in the pathogenesis and therapy of IBD, Alimentary Pharmacology and Therapeutics, accepted 01.07.2019, Epub before print
  • Neustadt RE (2005): The Swine Flu affair, University Press of the Pacific. Comment: Jacoby MG: The Swine Flu Affair: Decision-Making on a Slippery Disease, BMJ 2005 Nov 26; 331(7527): 1276.
  • Relton C (2010): Rethinking pragmatic randomised controlled trials: introducing the “cohort multiple randomised controlled trial” design, BMJ 2010; 340:c1066340
  • Taleb NN et al.: The precautionary principle (with application to the genetic modification of organisms). Extreme Risk Initiative – NYU SoE, 2014, 1-15 – pdf-download
  • Thompson 2019: .
  • Umweltbundesamt (UBA), 2015 www.umweltbundesamt.de/themen/nachhaltigkeit-strategien-internationales/umweltrecht/umweltverfassungsrecht/vorsorgeprinzip
  • Verkooijen HM: Cohort multiple randomized controlled trial: a solution for the evaluation of multiple interventions. Ned Tijdschr Geneeskd. 2013;157(17):A5762
  • Wang C: Effect of tai chi versus aerobic exercise for fibromyalgia. BMJ 2018, 360:k85, Volltext: www.bmj.com/content/360/bmj.k851 – Link: Visual Abstract http://sandpit.bmj.com/site_images/2018/tai_chi_abs_v22.png

Letzte Aktualisierung: 22.11.2023