Möglichkeiten in der Krise
Uns erschüttern Multikrisen. Sie werden durch Menschen verursacht. Soweit besteht Einigkeit.

Wankt die herrschende Ordnung des Wachstums-Wahns? Trotz diverser Re-Set-Versuche? Die Implosion von Imperien könnte allerdings für die Biosphäre noch gefährlicher sein als Klimawandel, Artensterben und die Vergiftung der Böden, der Meere und der Luft. Weil schlagartig alle höheren Lebensformen ausgelöscht werden können.
Weitblick (erst) hinter dem Tunnel?
Die Röhrenwahrnehmung der Realität bringt uns in der Evolution dem Abgrund näher.
Wie können wir, die Getriebenen „im Angst-Tunnel“, das Weit-Sehen wiederentdecken? Und dafür werben, dass sich mehr Menschen für System-Zusammenhänge interessieren? Oder neugierig Unbekanntes, Entstehendes, Nicht-Verfügbares betrachten?
Sind Menschen (in ihrer Mehrheit) durch genetische Fixierung dazu verdammt, punktförmig-fokussiert auf tote Einzelheiten zu starren? Um gegen irgendetwas etwas zu kämpfen ohne den Kontext zu verstehen? Oder um ein Problem nach dem anderen zu erschlagen, und dann weiter so zu wuchern wie bisher?
Ist menschliche Lebens-Lust chancenlos angesichts der Todes-Kulte?
Wiedergeburt der Aufklärung?

Einige, die empirisch denken (wie u.v.a. McGilchrist, Boehm, Peterson …) hoffen auf eine „radikale“ Renaissance der Aufklärung, die von „rationalen Universalgelehrten“ (engl. polymath) eingeleitet werden müsste:
Zitat: „Ein Weiterdenken der Aufklärung würde bedeuten, den Ort des Menschen radikal weiter zu denken, als ein Element in einer Natur, die keine unterworfene Erde mehr ist, sondern ein unendlich vernetztes, interdependentes System von Systemen, die Grenzen verwischen und anderer wissenschaftlicher Kategorien, Erzählungen und Bilder, und anderer künstlerischer Interventionen und persönlicher Erfahrungen bedürfen, um fassbar zu werden.“ Philip Blohm: Die Unterwerfung, Hanser 2022.
Manchmal eröffneten Neugierige, die im Brei frommer Ideologien selber dachten, tatsächlich völlig neue Wege des Denkens. Zum Beispiel diese beiden:
- Immanuel Kant: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Immanuel Kant
- Baruch de Spinoza: „Gott ist Natur.“
Aber schon das (eintausend Jahre frühere) Aufblühen der so genannten „Achsenzeit des Denkens“ belegte vor allem eins: Mit Selber-denken kann man weder große Armeen zusammenhalten, noch Kriege gewinnen.
Kritisches Denken flackerte deshalb immer nur dann auf, wenn der Taschenlampenstrahl des Tunnel-Denkens in die Sackgasse führte. Dann war es nötig, (kurz) die gesamte Bühnenbeleuchtung anzuknipsen.
So geschah es vor 100 Jahren, als das Denkgebäude der linear-ziel-orientierten Mechanik in sich zusammenbrach. Ohne Wechsel vom alten Denk-Modell zu Quanten-Physik und Relativität wäre es nicht möglich gewesen, die Realität der Systeme, die uns durchdringen und ausmachen, besser zu verstehen.
Der Paradigmenwechsel der Naturwissenschaft läutete leider keinen Bewusstseinswandel der Gattung Homo sapiens ein. Im Gegenteil.
Die von der Philosophie entkoppelte technisch-wissenschaftliche Dynamik lieferte den mechanisch-röhrenartig Denkenden in Politik, Medizin, Banken, Industriekomplexen und Armeen immer effektivere Waffensysteme. Für ihre diversen Kriegen „gegen irgend-etwas“, um noch mehr „von irgend-etwas anderem“ an sich zuraffen. (Der Fall Oppenheimer)
In der Berichterstattung zur Verleihung der Physik-Nobelpreise 2022 interessierte sich kaum jemand dafür, dass „die Realität“ offenbar völlig anders gestaltet ist, als wir sie im Alltag oder in Modellen wahrzunehmen glauben. Stattdessen schauten die meisten Bewohner:innen dunkler Erkenntnis-Höhlen gierig auf die praktisch-technisch-kommerziellen Anwendungen „spukhaften Fernwirkungen“: Um „Quanten-PC!“ zu entwickeln, „sichere Verschlüsselungen!“ oder „noch präzisere Waffen!“

Der überfällige Paradigmenwechsel vom Nutzen des Komplizierten zum Verstehen des Komplexen hat zurzeit keine Konjunktur.
Rational Denken allein reicht nicht
Skeptiker:innen, die in finsteren Zeiten als Querdenker verteufelt oder als Ketzer bekämpft werden, fehlt, wenn sie sich einmal Gehör verschaffen können, oft der Bezug zu den entwicklungsgeschichtlich älteren Anteilen ihres „Selbst“.
Sie überschätzen die Bedeutung der beiden Frontalhirne (die das sich-bewusste „Ich“ erzeugen). Und unterschätzen die archaischen Programme der Psyche („die Mannschaft“). Also die Anteile der Psyche, die Denkende, die bewegungslos vor Bildschirmen sitzen, oft verhungern lassen oder wegsperren.
Erst die unbewussten Anteile des Nervensystem-Bewegungs-Apparates ermöglichen uns, mit Innerem und Äußerem in Kontakt, und vielleicht auch in Resonanz zu treten.
Diskutieren rational Denkende miteinander, lösen bei ihnen Worte, die Verbindungen oder Wechselwirkungen andeuten, Bauchschmerzen aus. Wenn es zum Beispiel um Aspekte der Realität geht, die unserer Wahrnehmung nicht zugänglich oder völlig unbekannt sind. Für Facetten der Wirklichkeit, für die es keine klar begrenzenden Begriffe geben kann.
Denn ein trennendes Wort, für etwas, das uns nicht nur umgibt, sondern zugleich durchdringt (so wie Wasser einen Fisch), ist unsagbar. Und so huschen Bezeichnungen wie „heilig, unbestimmt, transzendent“ wie Schreckgespenster durch die Philosophie (zumindest im Westen).
Trennende Ratio und verbindende Kunst

Denken unterscheidet. Zum Beispiel ein „Ich“ vom „Nicht-Ich“. Kunst dagegen entsteht aus einer Verbindung mit dem, was geschieht. Daher verliert im Handlungsfluss der Kunst das „Ich“ an Bedeutung.
In Beziehung und Wechselwirkungen (mit der Leinwand, dem Instrument, der Kamera, dem Publikum) sind alle Aspekte des Körpers beteiligt. Besonders dann, wenn Kunst improvisiert wird und spontan fließt. Wenn so „Leib und Seele“ mehr Raum gegeben wird, geschieht das zwangsläufig auf Kosten der Ratio.
Der ukrainische Gitarrist Эстас Тонне (Estas Tonne) ist einer der vielen Künstler, die versuchen der fundamentalen Krise der Zivilisation nachzuspüren. Er ordnet seine Kunst in etwas ein, für das er keine Begriffe findet.
Ist es „Esoterik .. spirituelles Brimborium .. Religion“ (Kurier 10.03.2019), wenn er ein Konzert-Publikum in eine Meditation führt, oder Coronawahn-Flüchtlingen hilft sich in Mexiko auszutoben?
Auch der Pianist Michael Wollny will durch seine Kunst etwas Intensives vermitteln. Er experimentiert mit apokalytischen Geister-Phantasien, die besser zum depressiven Zeitgeist der Todes-Angst-Kultur passen, und die daher von der Kritik freundlicher aufgenommen werden. (Faz 12.11.2022)
Beiden ist gemeinsam, dass ihre Kunst nicht „ablenken“ will, sondern „hinführen“: zu sich, zu einem anderen Verständnis, vielleicht sogar zu einer neuen Einstellung zu einem Aspekt der Wirklichkeit.
Veränderung durch Ratio und Sinnlichkeit
1845 schrieb Karl Marx über den „frühen Psychologen“ Ludwig Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“
Tatsächlich veränderte sich die Welt seither rasant. Aber nicht, wie Marx glaubte, gelenkt durch kluge Philosophie. Stattdessen schwappte die Dynamik des unbegrenzten Wachstums schlamm-artig über die Denkenden. Und die versuchten, das was ihnen geschah, immer wieder neu zu interpretieren.
Feuerbachs Ideen, die er 1842 vorschlug („Grundsätze der Philosophie der Zukunft“), gewinnen heute wieder an Aktualität:
Er verlangte nach einer Philosophie, „die Wahrheit der Sinnlichkeit mit Freuden“ anerkenne, und die „auf dem Dialog zwischen Ich und Dir“ beruhe. Menschlichkeit, Verbindung und Beziehung waren ihm wichtig. Das menschliche Sein solle sich in einen, dem „Ich“ übergeordneten, Zusammenhang einfügen.
Im Grunde besann er sich nur zurück auf das, was den Erfolg der Gattung Homo sapiens in der Evolution der Arten vor 40.000 Jahren ausmachte:
„Menschen sind zu Liebe fähige Tiere.“
Umberto Maturana, The Origin of Humaness, 2008