Hören (Tinnitus)
Inhalt
- Das Ohr hört nicht
- Wir hören Erinnerungen
- Tinnitus-Tipps
- Literatur
Das Ohr hört nichts
Die Welt ist Klang. Körperzellen schwingen in Rhythmen innerer und äußerer Bewegung. Wir nehmen sie wahr, wenn wir innehalten und lauschen.
Fische verfügen über ein Seitenlinienorgan, um Schwingungen im ganzen Körper zu spüren. Sie sind auch keineswegs stumm und können feine Impulse im Wasser Impulse hören.
Säugetiere besitzen ein Hörorgan. Benachbart dazu liegt der Gleichgewichtssinn, dessen Impulse mit den Informationen der Augen abgeglichen werden. Stimmt beides nicht exakt überein, wird ihnen übel. Reptilien dagegen ist das völlig egal.
Das Hörorgan verwandelt Luftbewegungen in elektrische Signale. Mathematisch genau. Diese Nervenimpulse werden weitergeleitet in das Mittelhirn. Dort werden sie mit den Signalen vieler anderer Informationsquellen verschaltet.
Dieser Vorgang wird bei Säugetieren (im Gegensatz zu Reptilien) aktiv beeinflusst. Menschen zum Beispiel können zu- oder weghören.
Auf dem Weg zur Hörrinde werden die aus dem Ohr kommenden Impulse mit anderen Sensationen verschaltet, die aus den inneren Körpersinnen (Propriozeption) oder aus den anderen Sinnesorganen einfluten.
In der Hör-Region des Großhirns wird geprüft, ob ein einströmendes Frequenz-Muster aufgrund der bisherigen Lebenserfahrung als eine Harmonie, ein Klang oder als ein Gefahrensignal gedeutet werden muss.
Das Gehörte erhält eine Bedeutung. Es wird in einen Zusammenhang eingeordnet. Es wird beachtet und aufmerksam verfolgt. Wenn es sich dagegen nur um sinnlose Hintergrundgeräusche handelt, wird der Datenmüll schnell wieder gelöscht.
Im Gegensatz zum Hörsinn konstruiert das Sehen, wie die „Welt da draußen“ aufgrund der Erfahrung wohl aussehen mag. Wir sehen nicht, wie die Realität tatsächlich ist, und auch nicht so, wie die Netzhautzellen sie ins Gehirn melden, sondern konstruieren Bilder und Muster, die praktisches Handeln erleichtern. Zum Beispiel „sehen“ wir an einer Netzhautstelle, an der wir absolut nichts sehen können, bruchlos den üblichen Hintergrund (Blinder Fleck). Wir lieben zweidimensionale Bilder, weil sie so einfach und klar erscheinen. Und vergessen dabei gern, dass die Umgebung in vielen Richtungen flimmert.
Dagegen gibt der Hörsinn die Rhythmen der Umwelt unverfälscht wider. Er zensiert weder ihre Dynamik noch ihre Komplexität. Aber er kann sehr wohl ‚genau hinhören‘ (z. B. in einem Orchester), oder überflutenden Geräuschmüll verdrängen (z. B. den Straßenlärm in einer Großstadt).
Viele Musiker:innen glauben daher, dass sich der Zugang zur Natur durch das Ohr besser erschließe.
Wir hören Erinnerungen
Kaum nehmen wir Gekläffe wahr, tauchen innere Bilder auf, und Worte wie Hund oder Köter. Manchmal hören wir etwas, auch wenn die Ohren keine entsprechenden Signale erhalten. Denn wir können die Stimme von einer Person erinnern, die uns eine Geschichte erzählte. Oder wir werden von der Melodie eines „Ohrwurms“ verfolgt, die sich nicht vertreiben lässt.
Erst wenn dieses Erinnerung-Gewusel abflaut, können wir leise Hintergrundgeräusche wahrnehmen, die sonst zuvor von anderen Nervenimpulsen überdeckt wurden. Und wenn auch das bedeutungslos bleibt, beginnen wir vielleicht zu dösen, und hören dann vielleicht das Grundrauschen des Innenohres oder sogar den Puls des Herzens.
Säugetiere hören (meist) wenig.
Es sei denn, sie müssen sehr genau hinhören. Das aber nur dann, wenn es wirklich wichtig ist.
Im Mittelohr höherer Säugetiere befinden sich zwei Muskeln, deren Aktivität dafür sorgt, dass wir nur die Schwingungen im Bereich vertrauter Stimme wahrnehmen (Borg 1989). Sie werden von Nerven versorgt, die reflexhaft mit Hirnfunktionen verbunden sind, die Stressreaktionen dämpfen. Beide gehören zu den sogenannten Kiemenbogen-Nerven, die bei Säugetieren bei sozialer Kommunikation benötigen. Beim Menschen versorgen diese Nerven die Gesichtsmuskulatur, die Gesichts- und Kopfhaut, die Feineinstellung des Halses, den Kehlkopf, den Rachenraum und die Steuerung von Herz, Atmung und autonomem Nervensystem.
Direkt beeinflusst wird die Aktivität dieser Kiemenbogen-Nerven durch das Neurohormon Oxytocin, das schon bei Kleinsäugetieren im Mittelhirn ausgeschüttet wird, wenn ihre Babys Pieps-Laute von sich geben. Mama hört dann das in dieser Situation Wesentliche und kann das Geschnatter anderer Nervenzellen in sich dämpfen (Shen 2015). Das Hormon hilft dabei, Reizüberflutungen einzugrenzen, um sich auf essenzielle, soziale Beziehung konzentrieren zu können. Und es regt so auch die Funktion der Kiemenbogen-Nerven an, die Herz- und Atemfunktion weiter beruhigen. (Porges 2014)
Wer genau zuhört, hört also nur vergleichbar wenig. Denn sie oder er lauscht dann nur dem Frequenzbereich der menschlichen Stimme. Das entspannt: Kaum gibt sich ein Kind der vertrauten Stimme der Oma hin, fühlt es sich wohlbehütet und kann selig einschlafen.
Kaum gibt sich ein Kind dem vertrauten Schlaflied der Oma hin, fühlt es sich wohlbehütet – und schläft selig ein.
Graphiken: Borg Scientific American 1989.
Die Stecknadel fallen hören
Schlangen und Krokodile hören (im Gegensatz zu Säugetieren) immer alles, und reagieren darauf, indem sie sich tot stellen oder wegtauchen oder angreifen oder fliehen. Säugetiere können das auch, wenn (in Gefahr) Kommunikation für sie gerade keinen Sinn mehr macht. In diesem Alarmzustand würde eine Maus genau auf jeder Geräusch achten. Denn für ihr blitzschnelles Handeln wäre es nötig zu ergründen, ob das Geraschel von einem Vogel stammt oder von einer anderen „süßen“ Maus oder von einer „bösen“ streunenden Katze. Diese Art des Stress-Hörens kann kurzfristig Leben retten, aber auf Dauer ist das Gehirn mit dieser Geräusch-Überlastung völlig überfordert.
Klingeln, Pfeifen oder Wolken im Ohr
Wird der Körper in Bedrohung auf Kampf oder Flucht vorbereitet, erschlaffen die Mittelohrmuskeln, oder sie können sich, wenn dieser Zustand sehr lange anhält, verkrampfen. In diesen Fällen meldet das Ohr Informationen über Schwingungen, die keinen Sinn ergeben.
Wenn diese unklare, bedeutungslose Geräusch-Information nicht gelöscht werden kann, werden sie als Klingeln oder Pfeifen wahrgenommen: als Tinnitus. Die Schwelle der Geräuschwahrnehmung wird gesenkt und schon vorher bestehendes rauschen wird „demaskiert“. (Guitton 2012)
Wenn dann schließlich das Gehirn eine Kakofonie viel zu viel chaotischer Signale (oder zu lauter Geräusche) gar nicht mehr verarbeiten kann, schalten die Großhirnregelkreise das Ohr ganz ab: Hörsturz.
Störungen des wichtigen Hörsinns lösen weiter heftigen Stress aus, oder auch Panik: Dann wird krampfhaft nach Wunderpillen gesucht, die das Problem – jetzt sofort – beseitigen sollen. Aber „gegen das Problem ankämpfen“ verstärkt es oft weiter und führt zu noch heftigerem Stress.
Infusionen helfen in solchen Situationen, weil sie die Betroffenen „aus dem Verkehr ziehen“. Das langsame, langweilige „Vor-sich-hin-tropfen“ verhindert, dass die Betroffenen in ihrem Ärger so weitermachen wie bisher. Was die Flüssigkeit in der Flasche enthält, ist belanglos, solange man daran glaubt, dass es helfe. Wer aber in der Lage wäre, zu Hause alle elektronischen Geräte abzuschalten, sich in ein verdunkeltes Zimmer zu legen und absolut nichts zu tun, würde einen ähnlichen (oder intensiveren) Effekt erleben.
Tinnitus-Tipps
Günstig ist es:
- Innezuhalten und sich wahrzunehmen
- Störungen als wichtige Signale schätzen lernen
- bei akuten Störungen den (lauten) Ort verlassen
- Stress und Panik in sich spüren. Ruhe suchen.
- mit vertraute Menschen suchen, die zuhören und reden
- sich in Sicherheit begeben
- Elektronik abschalten
- Nicht-Rauchen, Nicht-Ablenken, Nicht-Betäuben
- darauf hören, was die inneren Sinne erzählen
- zulassen, loslassen, auf sich hören,
- sich nur allmählich, achtsam, bewegen und belasten
Ungünstig:
- ist Problemlöse-Gezappel:
Pharma-Shopping, Viel-hilft-viel, Doktor-Hopping, Tinnitus oder Hörsturz „bekämpfen“ - Sich (elektronisch) ablenken
- Rauchen (inkl. Dampfen, Shisha etc.), Alkohol, Drogen, unnötige Medikamente
- Weitermachen wie bisher
- Stress mit Stress beantworten
Besonders günstig wäre:
Probleme als zarte Hinweise deuten und die Lebenseinstellung ändern. Das Ohr ist der Weg. Es zeigt, was alle Zellen brauchen und was ihnen schadet. Die Aufmerksamkeit nach innen lauschen. Es ist möglich sich anzunehmen, sich spüren (durch die inneren Sinne) und sich zu fühlen (das gespürte mit den Bedürfnissen, Wünschen und Visionen abgleichen).
Sehr nützlich sind langsame, entspannende, krampflösende Bewegungen. Professionelle passive Berührungen und Massagen oder zarte-drehende Dehnungen unter Anleitung. (Methoden)
Wunderbar wäre es, wenn es gelänge den Atem zu beachten und ihn frei schwingend zuzulassen: gleichmäßig und tief fließend
und schließlich das Gemüt zu beruhigen: sich wohl wollen. Und die Verhaltensmuster, die zum Problem geführt haben, erkennen und verstehen. Ohne sie sofort ändern zu wollen.
Lass dich, das ist dein Bestes.
Meister Eckhart
Abklärung seltenerer Ursachen von Tinnitus:
- Knalltrauma durch plötzliches sehr lautes Geräusch
- Sehr laute Dauerbeschallung (Disco-Beschallung, Fabrikhalle, …)
- Mechanische Störung der Mittelohrfunktion (Infektionen, Verletzung)
- Erkrankungen des Innenohres (z.B. nach lang einwirkenden Lärmschäden, bei altersbedingter Hörminderung oder bei Menière-Krankheit)
- Erhöhter Blutdruck (verschiedener Ursache)
- Blutarmut (Anämie)
- Erkrankungen der Halswirbelsäule, insbesondere der obersten Gelenke
- Bandscheibenvorfall und Dauerschmerz
- Psychische und psychiatrische Erkrankungen, insbesondere solche, die Stammhirnfunktionen beeinträchtigen, ggf. im Zusammenhang von Arzneimitteln oder Gebrauch von Suchtmitteln (Alkohol, Rauchen, Drogen)
- Stoffwechselerkrankungen
- Gutartiger Tumor des Hörnervs: Akustikus-Neurinom
- Störungen der Nervenweiterleitung, bei neurologischen Erkrankungen
Behandlungsmöglichkeiten
In jedem Fall sind therapeutische Gesprächssituationen wichtig, in denen sich Patient:innen aufgehoben fühlen und vertrauen können. In verständnisvoller Kommunikation können Zusammenhänge deutlich werden, und Möglichkeiten, wie sie günstig beeinflusst werden können. U.a. durch körperliche Entspannung, der (wie von selbst) die psychische Gelassenheit folgen wird.
Spezifische Wirkungen häufig angewandter Methoden sind nicht belegt:
- Infusionen
- Kurzwellenbestrahlung
- Trommelfellmassage über die hyperbare Sauerstoff-Therapie, die Ozon-Applikation
- Laser-Therapie
- Neuraltherapie (HNO)
- Pharmakologische Anwendungen von durchblutungsfördernde Substanzen, Vitamin-Präparaten, Cortison und Spurenelementen
Angepriesen werden viele „Magic shotguns & Magic bullets“, die gegen angeblich krankheitsverursachende Zusammenhänge gerichtet seien. Ob sie mehr nutzen, als schaden, ist dann meist nicht belegt.
Bestimmte Verfahren, wie „Repetitive transkranielle Magnetstimulation“, „Transkutane Nervenstimulation“, „Neurofeedback“, „Stimulation des auditorischen Kortex“ sollen nach einzelnen Untersuchungen günstig wirken. Überwiegend haben aber solche „spezifisch-wirkenden“ Verfahren keine höhere Gesamt-Wirkung als systemische (Kur-)Verfahren, die die Betroffenen als ganze Menschen beeinflussen wollen.
Eine Besserung des Tinnitus kann auch darin bestehen, das störende Geräusch zu integrieren. Die Hörrinde soll dann aktiv lernen, das Störgeräusch zu überlagern und so die Wahrnehmung scheinbar zu unterbrechen. In diesem Fall wäre das Ohrgeräusch im Alltag verschwunden, könnte aber wieder auftreten, sobald die Alltagsaufmerksamkeit nachlässt, z.B. bei Erschöpfung oder bei erneutem Stress. Einige therapeutische Programme oder Geräte trainieren diese Funktion der Tinnitus-Überlagerung. Sie wirken ggf. lindernd, wenn stressbedingte Störungen der Lebensumstände gleichzeitig günstig beeinflusst werden. (z.B: Tinnitus-Retraining-Therapie)
Wenn seltene, spezielle Ursachen vorliegen (Akustikus-Neurinom), müssen sie gezielt behandelt werden.
In jedem Fall erfordert die Betreuung und Begleitung von Patient*Innen mit Tinnitus ein multidisziplinäres Team mit vielen Sichtweisen. Systemisches Coaching, Verhaltensbeeinflussung, Physiotherapie, Bewegungs- und Entspannungsmethoden, Retraining-Therapien können dabei zusammenwirken.
Heilung, im Sinne einer definitiven Problembeseitigung, durch eine gezielte Intervention, wäre meist ein unrealistisches Ziel. Allerdings können gestörte Zusammenhänge unterschiedlicher, miteinander verbundener Systeme günstig beeinflusst und Leidensdruck wirksam gelindert werden.
Das Auftreten eines Tinnitus ist in jedem Fall ein Warnsignal für die fehlerhafte Verarbeitung zu hoher Belastungen, die auch zu anderen Organschäden führen könnten.
Deshalb wird nichts so werden, wie es soll, wenn sich nicht alles ändert.
Mehr
- Skript: Atem
- Die Welt ist Klang –
- Beruhigung (Vagus)
Literatur
- Borg E et al: The Middle-Ear Muscles. Scientific American August 1989, 74-80
- Guitton MJ.: Tinnitus: pathology of synaptic plasticity at the cellular and system levels. Front. Syst. Neurosci. 2012, 6:12.
- Pilgramm M et al.: Das ambulante Tinnitusbewältigungs- und Hyperakusistraining, HNO 2012, 60(6):545-556
- Porges SW et al.: (2014). Reducing auditory hypersensitivities in autistic spectrum disorder: Preliminary findings evaluating the listening project protocol.Front ediatr. 2014; 2: 80., Porges ST: The Polyvagal Perspective Biol Psychol. 2007, 74(2): 116–143. – Web-Site: Stephan Porges
- Shen H Neuroscience: The hard science of oxytocin, Nature 24. Juni 2015, 522:4110-12
- Guitton MJ.: Tinnitus: pathology of synaptic plasticity at the cellular and system levels. Front. Syst. Neurosci. 2012, 6:12.
- Langguth B et al.: Neuroimaging and neuromodulation: complementary approaches for identifying the neuronal correlates of tinnitus. Front. Syst. Neurosci. 2012, 6:15