1. Home
  2. /
  3. Psychologie
  4. /
  5. Sprachen des inneren Teams
  6. /
  7. Skepsis: Fragen und Denken
5. März 2023

Skepsis: Fragen und Denken

Alles was gesagt wurde, wurde von jemandem gesagt. F. Varela

Selber-denken ist unbeliebt.

Fragen unterbricht den Fluß automatisierter Handlungsabläufe:

  • Ein armer Schneider, der eigentlich einen Drachen töten wollte, bleibt stehen. Statt die Prinzessin zu gewinnen, die ihm schemenhaft auf einem Balkon erschienen war, schleicht er sich jetzt in ein schlichteres Bett, das ihn ohne Mühen empfängt.
  • Eine von inneren Stimmen Getriebene stürzt sich doch nicht, wie vom Wahn befohlen, in den Fluss, sondern schläft ihren Rausch aus.
  • Ein Soldat rettet lieber die eigene Haut, und überlässt es anderen (für Generäle und heilige Ziele) den Heldentod zu sterben.
relativ
Alles ist relativ

Die ersten Menschen, die selber dachten, waren Überlebende chaotischer Zeiten.

Als überkommene Wertesysteme zusammenbrachen, mussten sie eigene Lösungswege finden. Als ihnen der Boden unter ihren Füssen verrutschte, waren sie auf sich allein gestellt. Die Weisheit der Gruppe half nichts angesichts neuer Gefahren.

Vielleicht hatten Söldner ihre Dörfer und Götterstatuen niedergebrannt, die ihnen bisher Halt gaben. Vielleicht war alles, was ihnen bisher sicher und beständig erschien, zerstört worden.

In vergleichbaren Situationen handeln die meisten Menschen nach dem „Erfolgsmodell Donald Trump“: Schnelle Entscheidungen treffen. Wenig Informationen zulassen. Mit dem Kopf durch die Wand rennen. (Golman 2017)

Stresstypisch verengt sich dann die Wahrnehmung der Wirklichkeit auf einen Tunnel. Ungünstige Nachrichten werden verdrängt. Persönliche (eingetrichterte) Meinungen werden verteidigt. Wie ein materieller Besitz, dessen Verlust Schmerzen verursacht. Unerwünschte Informationen werden verdrängt, und konservative Lösungsmuster aufgerufen: Man muss gegen etwas kämpfen oder auf Tauchstation gehen.

Seit etwas über 2.500 Jahren wird aber auch von Menschen berichtet, die gerade im Chaos ruhig blieben, sich umschauten und nicht sofort handelten. Von wenigen, die erst versuchten zu begreifen, was eigentlich vor sich ging. Bevor sie nach ungewöhlichen Lösungen suchten.

Sie entdeckten eine weitere Fähigkeit, die Menschen von Tieren (und von rechnenden Maschinen) unterscheidet: Sich etwas vorzustellen, was bisher noch niemand anderes erdacht hatte.

Die Geburt der Skepsis

Xenophanes (6. Jhh. v.u.Z.) war einer der ersten, die innere und äußere Wahrheiten relativierten:

„Etwas Klares hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch keinen geben, der es gesehen hat … Denn sogar wenn es einem in außerordentlichem Maße gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, würde er sich des­sen trotzdem nicht bewusst sein: Bei allen Dingen gibt es nur An­nahme.“ (nach Karl Popper 2005).

Er hielt das „All“ für eins, ewig und unbewegt. Die Gottheit sei mit der Gesamtheit der Dinge verwachsen, und jedem Leiden und jeder Veränderung entrückt. (sinngemäß nach Sextus Empiricus).

Als 250 Jahre später die Armee Alexander’s die Stadt Taxila (in der heutigen Nordwestregion Pakistans) erreichte, trafen griechische Philosophen auf indische Denker. Einer von ihnen war der Demokrit-Anhänger und Maler Pyhrron aus der Stadt Elis. Er begegnete dort Yogis, die er Gymnaso-Sophisten nannte: Nackte Weise, die auf Plätzen und in Tempel Tempelanlagen lehrten, und ihre Körper in merkwürdigen Haltungen verrenkten.

Damals standen der rechtgläubigen (orthodoxen) Lehre indischer Brahmanen („Es ist!“) eine Reihe von querdenkenden (heterodoxen) Lehren gegenüber, die das heilige Dogma verneinten. Sie bezweifelten überlieferte Weisheiten, leugneten die absolute Wahrheit (Veda) der Priester und Herrscher, und behaupteten: „Es ist nicht!“. Aus ihren Lehren gingen der Jainismus, der Buddhismus und später die Advaita-Vedanta hervor (Nicht-Veda, Nicht-Dualität).

Pyrrhon von Elis erkannte, dass jede Münze aus zwei Richtungen betrachtet werden kann.

Zu allem, was Gesagt wurde, müsse es unterschiedliche Anschauungen geben. Die Entscheidung für „eine Wahrheit“ sei folglich nicht sinnvoll. Zurückgekehrt nach Griechenland gründete er eine eigene philosophische Richtung: Die phyrronische Skepsis.

Seine Lehre beruhte nicht nur auf einer radikalen Form des Zweifels gegenüber positiven Philosophien, sondern auch gegenüber den eigenen Annahmen. Der Erkenntnis, nichts mit absoluter Sicherheit wissen zu können, folge, dass jeder Streit um absolute Wahrheiten müßig sei. Umgekehrt führe das Annehmen des eigenen Unwissens, die Einheit von Körper und Seele in einen Zustand inneren Friedens.

Pyrrhon, Sextus, Epikur
Sextus Empirikus, Pyrrhon von Elis, Epikur

Der im zweiten Jahrhundert lebende Arzt Sextus Empirikus schrieb über diese Art, Geschehnisse und Dinge zu betrachten:

„Die Skeptiker hofften, die Seelenruhe dadurch zu erlangen dass sie über die Ungleichförmigkeit der erscheinenden und gedachten Dinge entschieden. Da sie das jedoch nicht zu tun vermochten, hielten sie inne. (Dann) .. folgte ihnen wie zufällig die Seelenruhe, wie der Schatten dem Körper“.

Ein Skeptiker sei also wie ein Maler, der das schäumende Maul eines Pferdes malen wolle, dem es aber misslingt, und der wütend den Pinsel an die Leinwand werfe, die verlaufende Farbe mit einem Schwamm abgewischte und dadurch das schäumende Maul zustande bringe.

Das Ziel der Skepsis werde erreicht, wenn es gerade nicht erreicht werden soll. Wenn das Begehren nach einem Ziel aufhöre.

Innehalten, loslassen, entspannen

Wenn keine Entscheidung über „richtig“ oder „falsch“ getroffen werde, könne man sich zurückhalten (Epoché). Man nähme mit „Seelenruhe“ (Ataraxie) hin, dass man nichts mit Bestimmtheit über irgendwelche Ursachen sagen könne. Und ebenso wenig über die Zukunft. Alles, was für sicher gehalten werde (das „Sein“), sei nichts weiter als bloße Annahme (ein „Schein“).

Diese klassische Skepsis setzte sich ab von

  • Innerer Wahrheit (Besessenheit, Schamanismus, …) (u.a. Dionysos Kult),
  • Äußerer Wahrheit (Dogma, Gott, Gesetz, … ) (u.a. Stoa),
  • Reiner Erkenntnis (u.a. Episteme des Aristoteles)
  • Beliebigkeit austauschbarer Standpunkte (u.a. Sophismus)

Klassische Skeptiker lehnten selbst Wahrheiten, die offensichtlich zu sein schienen. Denn alle Wahrnehmung sei fehlerhaft, weil wir nicht alles erfassen können, was wir zu erfassen glauben, und weil die Art der Beobachtung das Ergebnis der Beobachtung bestimme. Unsere Sinne erzeugten nur Vorstellung. Nichts von dem, was wir zu erfassen scheinen, habe Bedeutung ohne eine Beziehung zu den Umständen der Wahrnehmung. Es gäbe nichts, was nicht relativ auf ein System von Überzeugungen bezogen wäre, die von irgendwelchen Autoritäten abgesichert wurden. Genau genommen seien alle Phänomene Erscheinungsformen von Gepflogenheiten und Bräuchen, die Dinge zu betrachten.

Die ersten griechischen Skeptiker „wussten nicht“, ob es gestern „eine Sonne“ gab, oder ob sie morgen „wieder aufgehen“ werde. Sie akzeptierten nur, dass es praktisch sei, sich so zu verhalten, „als ob es so sei“. Aber sie leugneten den Wahrheitsgehalt nützlicher Unterscheidungen. Sie hielten es für sinnvoll, sich auf dem offenen Meer an Gestirnen zu orientieren, die scheinbar am Horizint aufstiegen, aber sie bezweifeltem, dass diese Erscheinungen von selbst oder von irgendetwas bewegt würden.

Sie konnten nicht entscheiden, ob „der Wal ein Säugetier und ein Fisch“ sei. Denn um diese Aussage zu definieren, wäre es zunächst nötig gewesen, Fisch und Säugetier als Begriffe voneinander zu trennen. Erst danach könnte begründet werden, dass das eine nicht das andere sei. Die Trennung zwischen Fisch und Wal sei eine Konvention, die dazu diene, Erdachtes fein säuberlich auseinanderzuhalten. Sie habe mit der Realität, die keine Unterscheidungen kenne, nichts zu tun.

Sie erzeugten keine Wahrheiten. Alternatives Geglaube erschien ihnen keinen Deut besser zu sein als die Dogmen, die von Priestern und Fürsten als richtig erkannt wurden.

Sie verzichteten auf „Besserwissen“ und suchten nach innerer Ruhe. Durch Nicht-Unterscheiden und Nicht-trennung verlöre sich die Angst, liebewordene Glaubensmodelle zerfallen zu sehen. Nichts von dem unendlichen Reichtum vielfältiger Dogmen und Wahrheiten werde wirklich gebraucht.

„… der Zurückhaltung im Urteil folgt wie ein Schatten,
die unerschütterliche Gemütsruhe.“ Pyrrhon von Elis, ~360 v.u.Z.

Wer nichts benötige, erspare sich viel Mühe, um nach etwas zu suchen, oder es gegen andere zu verteidigen. Er, oder sie, sorge sich weniger, sei freier und gelange zu einer „bewegten Meeresstille des Gemütes“ (Sextus).

Huineng (Begründer des Zen, 8. Jhh. n.u.Z.) zerreißt die Sutren (die Weisheitslehren der frommen Buddhisten). (Bildquelle)

Nahezu zeitgleich lehrten im Osten Gleichgesinnnte. U.v.a. Zhuangzi, der sich um 300 v.u.Z. als Lackbaumpächter über die Wortklaubereien seiner Zeitgenossen lustig machte:

“Die Fischreuse existiert wegen der Fische. Wenn man den Fisch gefangen hat, kann man die Reuse weglegen. Die Kaninchenfalle gibt es nur wegen des Kaninchens. Wenn du das Kaninchen erwischt hast, kannst du die Schlinge vergessen. Wörter (Begriffe) existieren wegen ihrer Bedeutung. Wenn man die Bedeutung (Idee) verstanden hat, kann man sie vergessen“. (Mehr zu Zhuangzi: guenter-wohlfart.de)

„Skepsis“ als Waffe

Häufig wird der Begriff Skepsis anders als hier verwendet:

Darrius und die Lügner
Der erste dokumentierte Sieg über krude Querdenker, Fake-News-Verbreiter und Verschwörungs-Schwurbler: Darius der Große vernichtet die neun Lügenkönige. Sie hatten behauptetet, er habe den legitimen Thronfolger umgebracht, und sich an die Macht geputscht. Felsrelief am Berg Behistun nahe Kermanshah. Über Darius schwebend: Zahrathustra’s „Reine Wahrheit“. Bild Wiki

Skeptiker gelten vielen als Menschen, die eine „paranoide kritische Vernunft“ besitzen:

Sie denken ohne Unterlass, dass sie (von Kollegen, Familienmitgliedern, Politikern, Medien …) ständig belogen und betrogen werden. Sie betrachten jeden neuen Skandal als Spitze des Eisberges eines immer weiterlaufenden Verdummungs-Programms. Sie klammern sich so an ihr eigenes Wahrheitsmodell, landen also von der Skepsis zu ihrem eigenen Dogma, das von außen bedroht zu werden scheint.

Von dieser Geisteshaltung ist es dann nicht weit zu den „skeptischen Experten“ oder „Pseudo-Experten“:

Die sehen ihre wichtigste Aufgabe darin, Unglauben (z.B. den „alternativer Fakten und Glaubensmodelle“) zu bekämpfen (als als Irrsinn, Lüge, Betrug, Verschwörung, krude Theorie …).

Die Streitgespräche zwischen „Skeptikern“ einer Mehrheitskirche, die genau wissen, was wahr ist, und den Gläubigen einer Minderheit, die das Gegenteil für wahr halten, sind meist unerfreulich, stressig und unproduktiv.

Dogmatiker:innen, die von einer Wahrheit beseelt sind, wollen die Lügen der Ketzer und Heiden bekämpfen. Beide glauben an ihre jeweiligen Gewissheiten und nutzen Skepsis als Waffe gegen Argumente, die dem eigenen Glaubensmodell widersprechen. Sie wollen die Irrlehren der Häresie bekämpfen und am liebsten ausrotten

Papst Innozenz III, 1208 n.Chr: „Ihr sollt danach trachten, den ketzerischen Unglauben auf jede Art und Weise und mit allen Mitteln, die Gott euch offenbaren wird, zu vernichten.“. 1209 n.Chr dann Arnaud Amaury, Abt des Klosters Cîteaux: „Schlagt sie alle tot. Der Herr kennt die Seinen.“

Graphik Jäger 2020, angelehnt an einen Essay von Edgar Wunder (1998):

Die „skeptische Dogmatiker“, die gerade als Minderheit bekämpft oder vernichtet werden, erscheinen nur deshalb sympatischer zu sein, weil man als schwache, wehrlose Opfer niedermacht.

Kämen sie durch eine Revolution an die Macht, verhielten sie sich aber ähnlich wie ihre ehemaligen Unterdrücker, oder sogar (voller Rachegelüste) noch schlimmer.

Neurobiologische Grundlagen

Erwachsene Menschen können die Gefühle anderer verstehen. Sie können Mimik und Körperhaltungen richtig deuten. Sie fühlen was ein anderer fühlt, in dem sie ähnliche sensorische und muskuläre Reaktionsmuster in sich aktivieren. Es ist ihnen sogar möglich anderes Denkens annehmen, und als eine Breicherung wertzuschätzen.

Für diese Fähigkeiten benötigen wir die beiden über den Augen liegenden Gehirnanteile (die Frontalhirne). Sie ermöglichen es uns, einen Handlungslauf zu unterbrechen und zurückzutreten. Um andere Nervengeflechte, Programme, und Reaktionsmuster zu beruhigen und zu dämpfen: wie schnell ablaufende Handlungsprogramme, wie Trance (Großhirn), Emotion (Mittelhirn) und Stress (Stammhirn).

Neugeborene verfügen noch nicht über die Fähigkeit, sich zu beruhigen und klar zu sehen. Ihre Frontalhirnanteile sind noch unfertig, und müssen erst durch intensives, jahrelanges Training gestaltet und und ausgeformt werden.

Entwicklungsgeschichtlich mussten die Anlagen für diese einzigartigen Fähigkeiten über viele Millionen Jahre ausreifen. Bei modernen Menschen benötigt ihre Ausgestaltung mindestens vier Jahre.

Julian
Kaiser Julian, ein Skeptiker (in Bezug auf Sinn und Nutzen des Christentums), hört einen philosophischen Diskurs. Armitage 1875. Wiki Commons

Erst ab dem Kasperle-Alter sind Kinder in der Lage zu „denken, das ein anderer denkt, dass sie denken, usw. …“.

Sie können dann (in sich) eine so genannte Theory of Mind konstruieren. Auch andere Tiere sind (in Ansätzen) dazu in der Lage, aber Menschen können es am besten: Wir können lügen und pokern.

Ab dem Kasperle-Alter zweifeln Kinder dann an allem, was als Wahrheit daherkommt.

Das ist hochgefährlich. Deshalb muss den Kindern der Spaß am Selberdenken und am kritischen Forschen möglichst schnell wieder ausgetrieben werden: Durch die Erziehung. Damit sie Nachbeten, was bestimmte Erwachsen für „alternativlos wahr“ halten..

Die Geschichte des Selberdenkens

In der entwicklungsgeschichtlich längsten Frühphase der Bewusstwerdung der Menschen herrschten die inneren Stimmen: Geister, Teufel, Träume oder phantasierte Machtgestalten, die dafür sorgten, dass Einzelinteressen den Notwendigkeiten einer großen Gemeinschaft unterordnet wurden. Diese inneren Über-Ich-Gestalten entsprachen dem, was in der Erziehung an Tabus, Riten, Ritualen und Befehlen gehört und eingebrannt worden war.

Das war sinnvoll: Denn so konnte das Wissen der Gruppe in einer Gefahr (re-kombiniert) abgespult werden.

Im Gilgamesch-Epos wird erstmalig über einen Mensch berichtet, der sich seiner selbst bewusst wurde, wenn auch nur in engen Grenzen. Er wird geschildert als ein früher Mensch, der es wagte, eigenmächtig gegen innere Stimmen zu handeln. Und der in einer fundamentalen Krise seiner anfangs noch archaischen Psyche den linearen Zeitstrahl und damit den Tod erkannte.

Für eine radikale Abkehr vom Trance-Bewusstsein, das die großen Gemeinschaften zusammenhielt, waren noch weitere zwei Jahrtausende nötig. In sozialen Wirren, endlosen Kriegen, Krisen und Katastrophen entwickelte sich nach und nach ein Überlebensvorteil für einzelne Menschen und deren Kleinfamilien, wenn sie für sich neue Handlungsmöglichkeiten erdachten.

Schließlich waren sie in der Lage, die Möglichkeiten eigenverantwortlicher Entscheidungen zu erkennen. Denn in wirren, unsicheren Zeiten, konnten ihnen die inneren Bilder und Stimmen der Ahnen und Trancegötter keine vernünftigen Lösungen mehr anbieten. Und so lösten sich immer mehr Menschen von den konservativen Zwängen ver-alteten Denkens. Sie erkannten (schlau und egoistisch) Schlupflöcher, die den Besessenen, die weiter den Gemeinschafts-Ideologien vertrauten, verborgen blieben.

Sie schlugen sich als Einzelkämpfer, oder als Mitglieder loser Räuber- oder Freibeuter-banden durch. Nahezu zeitgleich wurde aus dem Chaos sich zerfleischender Kleinstaaten in Griechenland und China von Menschen berichtet, die die Götter und Geister der anderen verhöhnten und verbrannten, die sich vom Handlungsstrom der Masse lösten, und die ihre inneren unbewussten Tyrannen rational-berechnend kontrollieren konnten.

Der neue Mensch, der die Welt aus einer „Meta-Ebene“ betrachtete

Odysseus
Odysseus wehrt sich gegen innere Stimmen (Herbert James Draper, 1909)

Odysseus brachte (vor vielleicht 2.600 Jahren) die alten Götter „in sich“ zum Schweigen. Er folgte nicht mehr blind dem über Jahrtausende angesammelten Wissen. Sondern schlug sich allein, tricksend mit immer neuen selbst-erzeugten Ideen durchs Leben.

Durch die Thermophylen fahrend, trotzte er (qualvoll leidend) dem Gesang der Sirenen. Er hatte seiner Mannschaft befohlen, ihn an einen Mast zu fesseln, und sich selbst die Ohren mit Wachs zu schließen. So konnte er zwar „innere“ Stimmen (die scheinbar von außen kamen) hören, wurde aber nicht mehr von ihnen verwirt.

Odysseus liebte Sex, aber er leitet aus Genuss keine Bindung oder gar Liebe ab. Er handelte aus eigenen Entschluss, und folgte nicht mehr dem Befehl innerer Geister-Stimmen. Und wurde auch noch nicht beherrscht durch übergeordnete Dogmen (Wahrheit, Gesetz, externern Gott).

Ihm selbst scheint das Verdrängen innerer Bilder beim seinem Überleben geholfen zu haben. Dagegen kamen seine Gefährten nach und nach alle um. Selber-denken machte (schon damals) einsam.

Viel später mauserte sich der Mensch mit dieser Art des Denkens zum Maß aller Dinge.

Philosophen verabschiedeten sich von der Epoche der inneren Stimmen, die ihm früher als Ahnen oder Geister einflüsterten, was konkret zu tun sei. Man begann die alten Propheten, die die Götter noch in sich hörten, für schizophren zu halten. Fragen, Hypothesen, Modelle wurden für kurze Zeit als wichtiger angesehen, als die Sicherheit der Antworten, die Glaube und Dogma vermittelten.

Man

  • entdeckte die Neugier am Nutzlosen: „Wieso verändert sich die Form des Mondes?“,
  • baute Modelle, die eine Realität erklären könnten: „Irgendjemand hängt Lampions ans Firmament!“,
  • freute sich, wenn das Modell dann versagte, weil es offenbar unsinnig war,
  • baute ein neues Modell („Schatten gleiten über die Mond-Scheibe!“), und
  • staunte, wie schwer diese neue Hypothese zu widerlegen war.

Mit der Lust am Selberdenken, der Anti-These der Ameisenhaufen-Mentalität der Trance, schufen sich Menschen die Möglichkeit, sich etwas vorzustellen oder virtuell zu erschaffen, was noch keiner bisher ersonnen hatte, oder was noch keinem zuvor je gelungen war. Der Mensch wurde zum Schöpfer seiner selbst. Er entdeckte den Humor, die Kunst, über sich selbst zu lachen.

Allerdings erwiesen sich die kritischen Selber-denker und fröhlichen Zweifler als unfähig, große Staaten zusammenhalten. Generäle, die sich in solchen Geisteszuständen zu Tyrannen emporschwangen, waren nicht mehr von einem höheren Prinzip einer übergeordneten Ethik besessen. Sie erwiesen sich als egoistisch und asozial.

Da aber immer weniger Menschen (wie die Propheten) ihre inneren Trancegötter in sich aufrufen konnten, musste ein Rahmen gefunden werden, um die kritischen Egoisten wieder einzufangen. Also entstanden fasst gleichzeitig mit der Entdeckung des Selberdenkens die großen dogmatischen Wahrheitssysteme. Die Gesetze und Religionen, die allem übergeordnet waren. Selbst den Mächtigen.

Karl Jaspers nannte diese Umbruchperiode der Menschheit die Achsenzeit (800-200 v.u.Z).

Die skeptische Grundhaltung

„…Wer hinsichtlich der natürlichen Güter oder Übel keine bestimmte Überzeugung hegt, der meidet oder verfolgt nichts mit Eifer, weshalb er Ruhe hat. … Unsere wesentliche Krankheit ist das vorschnelle Urteil, der dogmatische Glaube! … Jedes Urteil erzeugt ein Gegenurteil, unendliche Argumentationsketten und jeder Beweis setzt etwas voraus, was noch zu beweisen bleibt. .. Halte dich an die Erscheinungen, lebe undogmatisch nach der alltäglichen Lebenserfahrung, darin wir gänzlich untätig sein können.“ Sextus Empirikus, 2. Jh. n.u.Z.

Verzicht auf Besserwissen.

Die skeptische Grundhaltung hilft, den Zustand von Nicht-Wissen und maximalen Unsicherheit zu akzeptieren. Selbst angesichts des Todes. Skeptiker wie Epikur, Zhuangzi, Sextus Empiricus, Huineng u.v.a., die sich in einer ruhigen Geisteshaltung übten, erwarteten Nichts, und lebten bescheiden. Zufrieden in ihrem Garten, in einer Einsiedelei oder einem Lackbaumhain. Fern von Reichtümern, Amt und Würden. Ihnen war gemeinsam, dass sie auch sich selbst, mit allen Erfahrungen bis zu den Grundwerten nicht allzu ernst nahmen. Darin lag ihrer Ansicht nach der Schlüssel zur Seelenruhe, weil alle Sicherheitskonzepte und Wahrheiten als Illusion entlarvt nicht mehr nötig waren.

So beruhigt konnten sie die „zehntausend Dinge“ bescheiden betrachten, wie sie sind, und die Zufälle des Schicksals hinnehmen, wie sie kamen. Es gab für sie nur viel Raum und Zeit, um das, was gerade war, zu genießen. Keine andere Form der sozialen Kommunikation eröffnete so unendlich viele Möglichkeiten des Denkens und Handelns.

Selberdenken (und andere zu eigenständigem Denken zu verleiten), konnte sich nie als Massenphänomen behaupten.

Bis Ende 2019 galt Querdenken (de Bono 1967) als eine wesentliche Voraussetzung für Innovation, Kreativität, Zukunftsfähigkeit und Veränderungsmanagement. Seit Anaximander (dem ersten bekannten Wissenschaftler) ist Anders- oder Neu-Denken die Essenz der Natur-Philosophie und -Wissenschaft: Nach-denken, sich gewiss sein, nichts zu wissen und stattdessen neugierig zu fragen und zu imaginieren. Die „richtige Antwort haben“ und „Es genau wissen“ kennzeichnet dagegen Glaubenssysteme, Religionen, Schamanismus und Lehrmeinungen. Wer es wagt, anders-zu-denken hat in den jeweiligen „Kirchen“, die Dogmen hüten, nichts zu suchen und wird als Heid:in verdrängt.

Dazu bringt es zu wenig direkten, praktisch verwertbaren Nutzen, schafft Konflikte mit den Mächtigen und behindert Karrieren. Normverletzungen führen zu Widerstand. Erfolg in einer normierten Gesellschaft verlangt Anpassung.

Kritische, kreative Menschen blieben in der Geschichte Randerscheinungen. Sie waren unbeliebt, aber wurden doch immer wieder als unentbehrlich neu entdeckt, wenn technische Entwicklung oder Kurswechsel erforderlich waren.

Auch im modernen Alltag sind Selberdenken und Skepsis seltene Ereignisse des sozialen Zusammenlebens.

Nur manchmal reißt diese Art des Seins schmerzhaft und verletzend den sicheren Boden auf, auf dem man zu stehen meinte. Wenn essentielle Krisen alles bisher Dagewesene erschüttern oder gar zusammenbrechen lassen. In den meisten Menschen entsteht dann ein unerträgliches Gefühl, als würden sie von einer Welle weggespült.

Das ist dann das Ende.

Oder manchmal auch die Chance für ein Neuanfang. Wenn nur völlig neu-Denken aus einer Krise führen kann. Dann werden sogar Skeptiker toleriert oder gar wertgeschätzt.

Im normalen (noch relativ krisenberuhigten) Alltag ist aber mit einer skeptischen Grundhaltung ist kein großer Staat zu machen. Kritik bleibt für Herrscher und Beherrschte, für Ärzte und Patienten, für Wahlvolk und Politiker gleichermaßen unbequem. Kabarettisten, die ins Mark treffen, besitzen, anders als Spaßmacher, eine sehr überschaubare Fangemeinde.

Smart people are better of with few friends. Kanazawa 2016

Wissenschaftlicher Diskurs: produktiv streiten

Schließen sich Dogma und Skepsis aus?

George Spencer Brown
„Triff eine (subjektive) Unterscheidung“! Der Beginn jeder Wissenschaft sei, das ‚eine‘ mit ‚dem anderen‘ zu vergleichen. Das, was man dann fände sei „entweder richtig, falsch, sinnlos oder imaginär.“ Oder anders: „Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind in der Form, identisch gleich. Daher ist, dass alles und nichts formal gleich sind, leicht zu beweisen.“ G.S. Brown, Laws of Form 1969

Produktive Diskurse zwischen Skeptikern und Dogmatikern ereignen sich selten. Aber ohne sie gäbe es keinen wissenschaftlichen Fortschritt.

Wollte man voneinander lernen, müsste man zunächst annehmen, dass man zumindest nicht alles weiß, oder vielleicht sogar nur sehr wenig. Dann beruhigte man die Gefühle und könnte rational miteinander Argumente abwägen, ohne sich bekämpfen zu wollen

Um unproduktiven ideologischen Streit zu meiden, empfahl Konfuzius vor 2.500 Jahre sich vor Diskursen, gegenseitig zu erzählen, was man eigentlich damit meine, wenn man einen wichtigen Begriff benutze. So würden Mißverständnisse vermieden.

Das gilt auch heute noch für Streitgespräche unter selbst-erannten „Skeptikern“, die selbstverliebt ihre jeweiligen Dogmen pflegen, und den Irrsinn im Denken der anderen verabscheuen.

Wäre man weniger durch Vorurteile oder Dogmen festgelegt, könnte man stattdessen auch (selber denkend und fühlend) ausprobieren, ob es nicht doch anders sein könnte, als man vermutete. Oder neugierig, gemeinsam (als Dogmatiker oder Skeptiker) mit dem anderen etwas untersuchen und erforschen.

„Fakten-Checker“ der unterschiedlichen Parteien suchen dann intensiv nach Belegen, die ihre vorgefasste Wahrheit bestätigen könnten. Und sie finden dann (jeweils zu ihrem Glauben passende) Beweise, die das alternative Denken als Fake, Lüge, Betrug oder Blödsinn entlarven. Passt ein reales Ereignis zum Glauben, dann wird er bestätigt. Scheint die Realität aber der Theorie zu widersprechen, lag der Fehler in der Art der Untersuchung, der Beobachtung oder einer unglücklichen Anwendung.

Scheinbar wissenschaftliche Diskurse werden dann durch das Sendungsbewusstsein, jeweils Gutes zu tun, vergiftet. Wird die Welt in Gläubige (Beispiel GWUP) und Nicht-Gläubige (Beispiel ÄFI) aufgeteilt, geht es anschließend weniger um Inhalte, als um Machtfragen.

„Grau ist alle Praxis und grün der goldne Baum der Theorie“.
nach JW Goethe

„Wissen schaffen“ ist zukunftsorietiert

Wissenschaft beruht nicht nur auf vergangenen, aufgeschriebenen Erkenntnissen, die andere herausfanden:

  • spanisch saber: „Es gelernt haben“
  • Beispiel: „no (se) sabía la poesía“: „Er wusste es nicht auswendig“

Denn fast alles, was wir wissen, gründet auf eigener Erfahrung:

  • spanisch conocer: Etwas erfahren haben.
  • Beispiel: „conocer de vista“: „Es gesehen haben:“

Allerdings schrumpfen die Möglichkeiten, eigene Erfahrungen zu machen, in den modernen Gesellschaften immer mehr.

Eine dritte Säule der Wissenschaft ist (im Gegensatz zu Religion):

  • Radikales, kritischem Hinterfragen all dessen, was gegeben und sicher erscheint.

„Wann immer eine neue und verblüffende Tatsache in der Wissenschaft ans Licht kommt, sagen die Leute zuerst, dass sie nicht „wahr sei“, dann, dass sie im Widerspruch zur Religion stehe“ und schließlich, dass es jeder schon „vorher wusste.“ – „Whenever a new and startling fact is brought to light in science, people first say, ‘it is not true,’ then that ‘it is contrary to religion,’ and lastly, ‘that everybody knew it before.’” Louis Agassiz, Biologe, gestorben 1873

Was nicht wahr sein kann, weil es der Lehrmeinung widerspricht, wird üblicherweise verlacht, solange es noch harmlos zu sein scheint, und schließlich heftig bekämpft, wenn es allmählich immer mächtiger wird. Denn das, was von Experten aufgeschrieben wurde, muss wahr sein: z.B. ein heiliger Text oder ein wissenschaftliches Lehrbuch oder ein methodisch-perfekter Artikel in einem berühmten Journal. Daher muss es gegen kritischen Blödsinn verteidigt werden. Wenn das nicht so einfach gelingt, oder wenn sich die „Heiden“ oder die „Ketzer“ nicht bekehren lassen, werden sie isoliert, aus dem Institut oder der Kirche herausgeworfen, oder auch beseitigt.

Wenn sich aber ein neuer Gedanke dennoch, durch den Zwang der Realität, durchgesetzt hat, weil die Realität es erzwang, wird er plötzlich wahr: Jetzt ist die (zuvor flache) Erde rund. Selbstverständlich war dieses neue Dogma dann für alle immer schon wahr.

Und so mutiert das Neue (durch skeptisches Denken entwickelte) zu einem Teil einer sich veränderten Religion: D.h. es wird zum Baustein eines nun modernisiert-angepassten Wahrheit-Gebäudes.

Religionen und Lehr-Wissenschaften (meist „Wissenschaft“ genannt) richten den Blick zurück auf das, was andere kluge Menschen festgeschrieben haben, weil sie es zu wissen glauben. Also auf das Bekannte und Sichere. Auf die liebgewordenen Überzeugen, Dogmen oder Ideologien von „richtig und falsch“. Ein Großteil der wissenschaftlichen Erkenntnis entstand aber nicht infolge einer systematischen Suche sondern durch Zufall. Sobald die Wissenschaft ein Konzept oder Modell gefunden hat, ist es möglich, innerhalb des Modells immer mehr Puzzle-Steine zu entdecken, die in dieses Modell hineinpassen.

Wenn zufällig neue Erkenntnisse gefunden werden, durch kreatives Suchen oder durch Neugier, wird das bisher als sicher Geglaubte infrage gestellt. Maschinen sind deutlich besser darin, auf der Basis von sicher bestimmten Grundannahmen Ergebnisse zu finden, die aus der Logik der Grunddaten heraus vorhergesagt werden. Menschen dagegen sind in der Lage, die Grund-Annahmen zu bezweifeln. Sie können kreativ denken, und sich eine Welt vorstellen die außerhalb des bisherigen Bekannten liegen mag.

Ein ‚klassisch ausgebildeter Homöopath’alternativer‘ Denker ein ‚Main Stream‘-Kollege, die versuchen wollten, etwas vom anderen zu verstehen, sollten also nicht gerade damit beginnen, sich mit den jeweiligen Auswüchsen der anderen Gemeinde auseinandersetzen. Stattdessen könnten sie sich, die Sprache der Dogmen verlassend, auf die Sprache des Zweifelns, des Zuhörens und der kritischen Fragen verständigen.

Das ist schwieriger als es scheint.

Denn, wer skeptisch nachfragen will, muss sich öffnen und die Begrenztheit der eigenen Sicht erkennen. Anders kann er nur das erfahren, was er vorher ohnehin schon wusste. Wer also durch sein Besser-Wissen mittels kluger Fragen die Position des anderen durchlöchern will, kann höchsten erreichen, dass die Argumentation des anderen schwächelt und in sich zusammenfällt. So kann er dann triumphieren. Er würde aber nichts lernen. Er richtete es sich nur im warmen Spiegelsaal seiner vertrauter Ansichten immer bequemer ein, könnte aber die Grundlagen seines Denkens nicht mehr überprüfen.

„Nicht-Wissend“ keine zu Wahrheit haben, erfordert Mut und Selbstvertrauen. Es bringt erfahrungsgemäß viel Mühen mit sich, große Widerstände und nur selten schnelle Erfolge.

Mehr

Letzte Aktualisierung: 08.04.2023