21. Mai 2017

Hände

29.12.2019

Hände
Cueva de las Manos, Perito Moreno, Argentina. Alter: 10-15.000 Jahre

Die Sprache begann mit Zeigen und Berühren

Im Gehirn nehmen Wahrnehmung und Steuerung der Hand so viel Platz ein wie das Gesicht. Viele Wissenschaflerinn/en glauben,

  • die Gesten der Hand die Grundlage der Sprachentwicklung bilden (siehe unten),
  • die Hand- und Körpermotorik der Entwicklung der motorischen Programme der Kehlkopf-Steuerung vorausginng, und
  • bereits intensiv kommuniziert wurde, bvor die ersten gesprochenen Worte und Sätze gebildet werden konnten. (Wilson 2001)

Die Kommunikation mit Dingen: Geschickt oder Gewand

Tiere können sich mit ihrem ganzen Körper elegant und effizient bewegen. Einige von ihnen können sogar zielorientiert und geschickt mit Dingen zu hantieren. Rabenvögel z.B. können mit Werkzeugen nach Gegenständen angeln.

Vor wenigen Millionen Jahren gelang es erstmals menschenähnlichen Affen die Aufmerksamkeit über die Hand hinaus in einen Gegenstand fließen zulassen, so als sei dieser ein Teil ihres Körpers. Diese Erfahrung der Körpererweiterung und des Gestaltens muss beglückend gewirkt haben. Moderne Menschen können darüber gewandt, zeit- und raumentrückt, im „Flow“ des Gestaltens mit einem Gegenstand verschmelzen und, Emotionen und Hunger vergessend, durch ihn hindurch fühlen.

Die bewusste Wahrnehmung der Hand erweitert sich über das Ding, den Stock, den Stein, mit dessen Spitze jetzt gefühlt wird: die Bewusstheit fließt dabei weit über die Körpergrenze hinaus.

Diese Art der Kommunikation mit der Umwelt ist so wichtig, dass sie am Kern des evolutionsgeschichtlich älteren Mittelhirns in einer Datenautobahn vorbeirauschen muss, damit Bewusstheit und Emotion nicht mit störenden Gefühls-Impulsen dazwischen funken. Uns wird also erst im Nachhinein „bewusst“, was unsere klavierspielende Hand da so alles tat. Mit etwas Übung können wir mit der Hand ebenso gut reden wie mit der Stimme, besonders intensiv, wenn wir im Kontakt direkt in den anderen hineinfühlen können. Handarbeit und Kunsthandwerk wird trotzdem nur selten als Hochintelligenzleistung wahrgenommen. Entfällt sie aber, verkümmern die „grauen Zellen“.

Aus der Abfolge komplexen Hand-Fertigkeiten kann ein Bewegungsfluss entstehen, gleichsam ein Tanz mit den Dingen.

Pincetten-, Wurf- und Stockgriff

Im Gegensatz zu Schimpansen können Menschen ihren Daumen den übrigen vier Finger der Hand gegenüberzustellen. Dazu befähigt sie die Struktur der Handwurzelknochen (insbesondere die Gestaltung des Haken- und Vieleckbeins), die es ermöglichen, Daumen- und Fingerspitzen  oder die jeweiligen Muskelballen am Ursprung der Glieder in Opposition zu bringen.

Aufgrund dieser anatomischen Besonderheit können u.a. Werkzeuge wesentlich fester mit dem Körper verbunden werden:

  • Stockgriff durch Druck des Daumenballens Richtung Kleinfingerballen für die Verbindung mit groben Geräte oder Waffen, oder
  • Pinzetten-Griff mit Daumen und Zeigefinger (oder mit allen Fingern) für fein-motorische Aufgaben (Nadel und Faden) oder sicher entspannte Verbindung mit einem Pinsel oder einem Jonglierball.
Handarbeit
Gewandtheit: Handarbeit im Flow
(Bild: Konrad s.u.)

Wenn sich die Hände mit einer Nadel oder mit einem Blindenstock verbinden „fühlt“ nicht etwa die Kontaktstelle der Haut-Nadel-oder-Stock-Verbindung, sondern der ganze Körper: Alle Signale und Schwingungen, die in das in das Kleinhirn eingehen, und deren inneren Auswirkungen werden dann zu einem sinnvollen Bild „hochgerechnet“. (Schahmann 2019) Die Hand wirkt deshalb erst dann einzigartig gelassen, wenn sie über die hoch-bewegliche und elastische Schulter mit dem ganzen Körper verbunden wird (Young 2013, 2009, 2003).

Energieübertragung bei Druck (Faustschlag) oder Zug (Seil ziehen) erfolgt dann nicht aus einer Kontraktion der Armmuskulatur, sondern aus einer Bewegung des ganzen Körpers, deren Energie sich in tastend-fühlend verbundene Hände überträgt. Die Hand wirkt daher ideal in der Wechselwirkung mit  innerer und äußerer Bewegungs-Dynamiken. Hände können so:

  • Etwas ergreifen und zerdrücken (Hand- und Unterarmmuskeln)
  • Ein Werkzeug wie ein Körperteil mit dem Rest des Körpers verbinden (Daumenballen in Opposition und in Verbindung mit Oberarm-Schulter-Rücken-Brust: Muskulatur und Faszien, die zur Kraftentwicklung weiter in Becken und die Füße verbinden)
  • In etwas hinein tasten, spüren, fühlen (Bewegung der Hände und Arme wie bei Marionetten, über Faszienverbindungen in den Rücken, Hände völlig frei und gelöst beweglich)
  • Sich lenkend und leitend mit etwas verbinden (Kombination aus „Tasten und Fühlen“ und „mit einem Werkzeug eins-werden“, wie im Paar-Tanz oder beim Töpfern)
  • Zielgerichtet gestikulieren, zeigen oder sich durch Gebärden sprachlich ausdrücken
  • Sich mit dem Atemfluss verbinden (Ein: Hände sich öffnen lassen, Aus: Loslassen), und ggf. so den eigenen Rhythmus vermitteln, oder den des anderen verstehen.

Im Kontakt mit anderen kann bei einer Berührung, die zu einer stabilen Verbindung führt, über die Hand die Basis „des andern“ erreicht werden, so als würde er oder sie „durch den Körper des anderen an dessen Füße fassen“, oder so als wäre der oder die ander eine Blindenstock. „Der oder die andere“ würde dann das Gleiche umgekehrt erleben. In therapeutischen Begegnungen kann so über die Hände gleichermaßen Information aufgenommen und vermittelt werden.

Bevor es aber zu einer idealen Verbindung mit andernen Personen oder mit Gegenständen kommen kann, muss man sich lassen und entspannen. Ungeübte Anfänger, denen das (noch) nicht gelingt, hantieren hektisch und ineffizient und versuchen gestresst Resultate zu erzwingen. Oder sie geben auf.

Erst nach langem Training wirken Großhirn (Hand), Mittelhirn (Emotion und Bewusstheit), Basalganglien und Kleinhirn (Koordination) und Stammhirn (entspannte Aktivierung) und die Faszien, Muskeln und Knochen des Bewegungsapparate harmonisch miteinander zusammen.

Basil Pao. 365 Berührungen in aller Welt. www.frederking-thaler.de

Die Hand-Kommunikation erzeugt Bedürfnisse

Manchmal erleben Menschen einen Glückszustand der Verbundenheit mit einem Gegenstand: mit einem Bumerang, einem Schwert, einem Musikinstrument, einem Tonklumpen oder einem Kochlöffel. Für die Gemeinschaft mit solchen Gegenstände, und für die Macht, die aus der Verschmelzung mit ihnen entwickelte, lohnte es, Emotionen und Gefühle zu verdrängen.

Stress, Ärger, Liebe, Hass oder albernes Lustig-Sein, vertragen sich nicht mit guter Handarbeit, z.B. wenn sich ein Schnitzmesser, Holz und Hand in einer Trance vereinen. Kommunikation mit der Hand und Sprache mit Worten erfordern jeweils die Aktivierung motorischer Programme, möglicherweise sind sie daher parallel in wechselseitiger Resonanz entstanden. Und beide Formen der Sprache (Klang des Kehlkopfs, Bewegung der Hand) lassen sich im Inneren, quasi im Leerlauf ohne äußere Bewegung ausführen.

„… Wenn der Wagenradmacher ein Rad aus-stemmt und geht zu langsam vor, ist die Arbeit zwar einfach, aber nicht solide. Wenn er zu schnell vorgeht, ist die Arbeit bitter und nicht passend. Weder zu langsam vorzugehen noch zu schnell: so geht es von der Hand und entspricht Gegebenheiten …“ Zhunagzi ~350 vuZ (Wohlfart)

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Literatur

  • Flusser V: Gesten.Versuch einer Phänomenologie. Fischer 1994
  • Konrad G: Asmat: Leben mit den Ahnen, Brückner 1981
  • Roach NT et al: Elastic energy storage in the shoulder and the evolution of high-speed throwing in Homo. Nature 2013 498:483-487
  • Wilson F: Die Hand Geniestreich der Evolution. Ihr Enfluss auf Gehirn, Sprache und Kzltur des Menschen. Klett-Cotta 2001
  • Schmahmann JD: The cerebellum and cognition. Neuroscience Letters 688 (2019) 62–75
  • Young R.W.:Human origin and evolution. CreateSpace Independent Publishing Platform, 2013. The ontogeny of throwing and striking, Hum Ontogenet 3(1), 2009, 19–31 ; Evolution of the human hand: the role of throwing and clubbing,  J. Anat. 2003, 202:165–17

Gesten

„Die Geste ist eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeuges für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt.“ (Flusser)

Wird ein Arm, zum Beispiel nach Stich und einer heftigen Schmerzempfindung, wegbewegt, handelt es sich um einen Reflex. Und dem liegen klare kausale Verkettungen von Ursachen und Wirkungen zugrunde. Gesten dagegen sind körperliche Ausdrucksformen, die aus wesentlich komplexeren Zusammenhängen entstehen.

Verlegenheit, Bild: Jäger Tansania 1983

Gesten spiegeln eine Intension.

Spontane Gesten spiegeln im Körper den Wunsch herauszureichen und den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Sie sind in ihrer grundlegend-spontanen Formen unbewusst (Llinas).

Manchmal aber können sie während sie geschehen, wahrgenommen werden. Sie lassen sich aber nicht bewusst erzeugt werden, sondern lassen sich nur in ihrer Spontanität (mehr oder wenig linkisch) korrigieren oder unterdrücken. Deshalb lügen (spontane) Gesten nicht.

Spontane Gesten sind nichts Gesendetes. Sie gleichen einer Schwingung, die aus einer unwillkürlichen, zukunfts-gerichteten Absicht entsteht.

Bei der spontanen Geste gibt kein „Ich“, das etwas will, und kein Objekt, das etwas erleidet. Stattdessen entsteht eine Beziehung, aus deren Dynamik sich neue Möglichkeiten eröffnen. Gesten laden ein oder wehren ab.

Von der spontan-unbewussten zur bewusst-absichtsvollen Geste

Die Fähigkeit, mit einem Finger sehr klar und eindeutig auf etwas zu zeigen, ist menschentypisch. Anderen hochentwickelten Säugern fehlt diese geistig-körperliche Fähigkeit. Durch Gesten konnten unsere Vorfahren ihre Artgenossen auf ein Objekt verweisen, und dann deren Reaktion auf diesen Hinweis durch (verkörperte) Reaktionen wieder in sich spiegeln. Damit war es ihnen möglich geworden zu begreifen, dass es viele unterschiedliche Sichtweisen auf das Gleiche gibt. Möglicherweise entstanden so die ersten Worte aus gezeigten Befehlen: „Stein bearbeiten!“.

Gesten (ob spontan oder absichtsvoll) bilden so vermutlich eine der Grundlagen menschlicher Kommunikation.

Die Grundlage der Geste ist eine Gestimmtheit.

 „Gestimmtheit löst die Stimmungen aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus und lässt sie ästhetisch (formal) werden-in Form von Gesten.“ (Flusser)

Die Geste lädt einen Prozess mit Bedeutung auf. Nach einem Schmerz folgt eine Reflexantwort, die dann zu einer bedeutsamen Geste (z.B. der Abwehr) erweitert wird. Der Schmerz ist real und unmittelbar, die absichtsvolle Geste aber bedeutungsgeschwängert und kann übertrieben werden.

Die Geste des Lebens: Absichtslos tun. Bild: Jäger Laos 2018

Die Geste des Machens (nach Flusser)

Machen, Probleme lösen, die Welt auf das wesentliche beschränken und zielgenau das tun, was nötig ist zu tun, sind besonders menschentypische Eigenschaften, die anderen großen Affen wie den Gorillas völlig fehlen. Sie resultieren aus aus der Hochkompetenz unser Hände die Werkzeug halten, über den Daumenballen auf sie Kräfte übertragen, und die den sensorischen Erfahrungsraum tastend fühlend erweitern.

„Die Symmetrie unserer Hände ist so, dass man die linke Hand in eine vierte Dimension drehen müsste, um sie mit der rechten Hand in Übereinstimmung zu bringen. Da diese Dimension der Hände nicht wirklich zugänglich ist, sind sie dazu verurteilt, sich endlos zu spiegeln.“ (Flusser)

Die Entgegensetzung unserer beiden Hände sei (laut Flusser) eine der Bedingungen des Menschseins.

„Aber wir können eine Geste machen, durch welche die beiden Hände zu Übereinstimmung gelangen. .. Wir können versuchen, die beiden Hände in einem Hindernis, in einem Problem oder in einem Gegenstand konstruieren zu lassen. (Flusser)

Diese „volle“ Geste sei die Geste des Machens. Diese Geste drücke von zwei Seiten auf den Gegenstand, damit die beiden Hände einander treffen können. Unter diesem Druck ändere der Gegenstand seine Form, und diese neue Form, diese der gegenständlichen Welt ausgeprägte „Information“ sei eine der Weisen, die menschliche Grundverfassung zu überschreiten.

„Denn es ist eine Methode, die beiden Hände im Gegenstand zu Übereinstimmung zu bringen.“ (Flusser)

Um diese Geste zu beschreiben, benutzen wir Worte, wie „nehmen, greifen ergreifen begreifen, fassen, handeln, hervorbringen, erzeugen, handeln, behandeln“. Wir haben zwei Hände, die die Welt von unterschiedlichen Seiten her erfassen können, und durch dieses Betasten die Welt von und für uns wahrnehmbare begreifbarer fassbaren behandelbar machen.

„Wir umfassen die Welt nicht von acht Seiten wie ein Krake.“ (Flusser)

Dank der Symmetrie unserer in einem Gegensatz zueinander stehenden Hände ist die Welt für uns „dialektisch“. Deshalb habe die Welt für uns zwei Seiten, eine gute eine schlecht, eine schöne eine hässliche, eine klare eine dumme, eine rechte und eine linke, ein Yin und ein Yang. Deshalb könnten wir eine Ganzheit nur erfassen, als Kongruenz zweier Gegensätze diese Ganzheit zu erreichen ist das Ziel der Geste des Machen’s.

Die Geste des Machens tut der Welt Gewalt an.

Machen heißt tun und verändern. Wenn die Welt nicht so ist, wie sie sein soll, kan sie neu gestalten und ihr unseren Willen aufzwingen. Bei der Geste des Machens steht die Behandlung des Objektes im Vordergrund. Es wird isoliert, behandelt, verändert. Im extremen führt die Geste des Machens zur Geste des Zerstörens. Das Objekt wird von einem lebenden in einem toten Zustand überführt. Es wird maximal entspannt ohnmächtig und in einem seiner Einzelteile zerlegt.

Aber die Geste des Machens könne auch in die Geste des Darreichens führen: in dem das gemachte in die Hände eines geliebten anderen übergeben wird. Oder das Machen vergehe in der Geste des Lebens, dem Verschwinden eines sich auflösen Wollens.

Literatur

  • Flusser V (1993): Gesten Versuch einer Phänomenologie, Bollmann Verlag Bensheim (pdf Download)
  • Linas R, Roy S (2009): The ‘prediction imperative’ as the basis for self-awareness, Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci.364(1521): 1301–1307. (pdf Download)

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Letzte Aktualisierung: 29.12.2019