14. Oktober 2023

Intension und Wille

Stillstand und Trennung gehen vorüber.

Panta rhei (πάντα ῥεῖ):
Alles fließt. Heraklit (520-460 v.u.Z)

Die Realität, die wir erleben und deren Teil wir sind, fließt. Komplex und ungewiss. (BANI / VUKA)
Alles ändert sich – wenn auch unterschiedlich schnell. Selbst „im-Weg-stehendes“, das wir nicht verändern können, bleibt nicht, wie es ist.

Unsere Wahlmöglichkeiten sind begrenzt:

  • Wir können hilflos in dem Geschehen treiben, oder
  • gewaltsam gegen etwas kämpfen, es aushalten oder fliehen, oder
  • es annehmen, begleiten und vielleicht beeinflussen.
Noch steht er still. Bild ronin@posteo.de

Artur Schopenhauer prägte den Willens-Begriff für eine unbestimmte Lebensenergie, die alles Wachsende und Sich-Entfaltende durchdringe. Sie wirke auch in uns, stehe aber nicht unter unserer Kontrolle. Andere Philosophen versuchten ein „Ich“ zu definieren, dass (unabhängig von anderem) selbständige Entscheidungen treffen könne.

Besonders in unserer Kultur hielt man lange an der Vorstellung fest, es gäbe eine alles entscheidende Kommandozentrale irgendwo im Gehirn. Mittlerweile wissen wir, dass es unser Zentralnervensystem, ohne einen Körper nicht gäbe, und es im Wesentlichen der Bewegungskoordination dient. Unser Gehirn ist nötig, um körperliche Beziehungen aufzunehmen und mit der Umwelt zu kommunizieren. Konkrete Entscheidungen (z.B. wann ein Fuß beim Gehen gesetzt oder Hand sich anderen entgegenstreckt) trifft aber nicht allein ein Anteil des Gehirns, sondern sie ergeben sich aus dem Zusammenklang vieler Zellen und Funktionen. Zum Beispiel durch Dehnungen und Entspannung elastischer Strukturen und Verbindungen, die außerhalb und innerhalb der Zellen wirken.

Menschen können als Kolonien von Viren, Bakterien und Zellen aufgefasst werden. Als ein Superorganismus zahlloser, untereinander verwobener und miteinander wechselwirkender Mitglieder. Entscheidungen innerhalb dieses komplexen Schwingungssystems werden in einem Gesamtklang getroffen. Und der bleibt den bewussten Hirnanteilen meist verborgen.

Einen „freien Willen“ (der losgelöst von allem anderen entscheide) kann es daher nicht geben (Dörner 2004).

Bewusst getroffene Befehle können zwar einen Bewegungsfluss unterbrechen. Sie steuern ihn aber nicht.

„Ich-bezogene“ Willensäußerungen reagieren auf etwas. Um es dann zu verändern oder zu beeinflussen. Sie benötigen deutlich mehr Zeit, als unbewusste Prozesse, die einer Bewegung vorauslaufenden.

Im Folgende versuche ich etwas besser zu verstehen, was mit dem Begriff „Intention“ umschrieben werden könnte. Dabei beziehe ich mich weniger auf theoretisches Studium, und mehr persönlicher Erfahrung die sich allmählich aus direktem Erleben entwickelte. Und fast alles, was wir körperlich zu verstehen glauben, bleibt einem begrifflich-trennenden Bewusstsein verschlossen und ist mit Worten nur unzureichend beschreibbar.

„Freier“ oder „unfreier“ Wille

Vor dem Stier weglaufen? Gegen ihn kämpfen? Oder dableiben, Dynamik annehmen, ihn zu einer Seite leiten und zur anderen ausweichen? Bild: Screen-shots aus Video-gif-Sequenz, 2010, Quelle unbekannt

Eine der ersten Schilderungen einer willentlichen, „Ich“-geleiteten Entscheidung findet sich im Gilgamesch-Epos. Vor vielleicht 5.000 Jahren ging dort ein „früh-moderner Mensch“ <sich selbst bewusst> gegen die Zusammenhänge der „göttlichen Ordnung“ vor. Dazu muss er einen Natur-Beschützer bekämpfen und vernichten, bevor er abgeschlagenes Holz für seine <ich-egoistischen> Ziele abtransportieren konnte.

Unsere Kultur betont „willentliches Handeln“.

Wir bevorzugen Interventionen, die auf begrifflichen Trennungen, Einzelfakten-Analysen, Problem-Bewusstsein und Zielorientierung beruhen. Belohnt wird Geschicklichkeit. Unsere Handlungsdynamik soll Widerstände beseitigen, andere manipulieren, Gegner vernichten und Gewinne einfahren.

Unsere Illusion, Willensentscheidungen seien frei, beruht auf den Geschichten, die nach Handlungs-Entscheidungen erzählt werden. Die eigentlich Aktionen auslösenden Befehle sind meist unbewusst. Aber weil „Ich es getan habe“, glaubt das „Ich“, es auch „gewollt zu haben“.

Das uns „bewusste Ich“ ist ein erlerntes Referenzprogramm des Gehirns. Es erlaubt, etwas, das geschieht, als günstig oder schlecht zu bewerten. Das ist nützlich und oft auch nötig, um (schnell und kraftvoll), dynamischen Entwicklungen eine andere Richtung aufzuzwingen.

Das „Ich“ gleicht einer Messlatte zur Einschätzung von Chancen und Risiken. Es wird durch aktive, Energie verbrauchende Prozesse erzeugt. Und durch Narkosemittel unterbunden. Neugeborene verfügen bisher nicht über dieses „Ich-Programm“. Sie benötigen innige Verbundenheit. Erst nach einigen Jahren der Entwicklung stabilisiert sich ihr Ausdruck für Gefühle. Und schließlich auch für ein anfangs, noch schwaches, Ich-Bewusstsein. Erst allmählich können sie sich als etwas eigenständig Lebendes begreifen. Als eine Person, die von anderem getrennt ist.

Die Auslösung von Bewegung

Körperlichen Handlungen geht (vor der Wahrnehmung im „Ich-Bewusstsein“) die Bereitstellung zellulärer Energie voraus. Nerven- und Bewegungszellen stimmen sich (unbewusst und schnell) auf das ein, was möglicherweise kommen wird. Diesem Bewegungsimpuls folgt eine Erregungs-Lawine. Und dieser dann ein (unbewusster) körperlicher Ausdruck. Erkennbar durch Mimik, Haltung, Geste. Erst wenn die Handlung beginnt, wird sie auch bewusst wahrgenommen. Und kann dann ausgestaltet, überhöht oder unterdrückt werden.

Im Bewusstsein des „befehlenden Ich“ wird willentlich, zielorientiert gehandelt: man reagiert, bewegt oder manipuliert etwas, oder verändert eine Situation. „Ich-bewusste“ Entscheidungen sind relativ langsam (im Vergleich zu den ultraschnellen unbewussten Bewegungssignalen u.a. des Stamm- oder des Kleinhirns oder des Faszien-Apparates). Wenn z.B. ein Kursteilnehmer der Anweisung seiner Yogalehrerin folgen will, und innerlich, bewusst den Befehl „Einatmen“ erteilt, hat sein Stammhirn möglicherweise gerade (unbewusst) mit einer Ausatmung begonnen.

Das, was (fälschlicherweise) als „freier“ Wille bezeichnet wird, beruht auf Befehlen, die von außen gebahnt oder antrainiert wurden: durch Erziehung, Marketing, Medien, Propaganda, direkte Anweisungen, Gehorsam oder Wahn. Der Wille gründet sich auf auswendig gelernten Einzelfakten, Handlungsanweisungen oder einem antrainierten Denken, was in einer bestimmten Situation (reagierend) zu tun sei, weil es sich in der Vergangenheit so bewährt hat.

Bewussten Willensäußerungen, die Handlungen bewirken, sind daher ihrem Wesen nach konservativ, da (in der Vergangenheit) antrainierte Handlungsmuster auf noch unbekannte (künftige) Situationen angewandt werden.

Um bewusst zu handeln, ist es nicht nötig, zu wissen, was eigentlich los ist. Denn bei problem- und ziel-orientiertem Tun wird nur eine Entscheidung getroffen, dass etwas Einzelnes (von anderem getrenntes), das nicht so ist, wie es sein soll, verändert werden muss. Erforderlich sind dann nur Techniken, um Objekte oder Gegebenheiten zu manipulieren. Der Weg zum Ziel ist festgelegt: eng und manchmal Pfeil-gerade, wie in einem Tunnel oder in einem Gewehrlauf. Die Einfluss-Parameter ändern sich nicht, oder sie werden ignoriert. Die Interessen des „Ich“ (oder der Kräfte, die es von außen beherrschen) werden gegen Widerstände durchgesetzt: mit Gewalt, Schnelligkeit oder Schlauheit.

Ein Reiter kann so sein Pferd (manchmal gewaltsam) zu etwas zwingen, was diesem widerstrebt. Das Ergebnis wirkt dann auf Beobachter hart, unschön, widersprüchlich, ungelenk.

In anderen Kulturen stehen Verbindung, Einheit, Beziehung im Vordergrund.

In der ostafrikanischen Hoch-Sprache Swahili zum Beispiel gibt es kein Wort für „haben“.

Bei der Sprachentwicklung in Ostafrika wurden Objekte, die zu einer Person gehörten, in Beziehung zu ihrem Besitzer gesehen, und nicht von ihm getrennt. In Europa ist das anders: „Ich habe ein Haus oder einen Acker“ bedeutet, dass es zwei getrennte Objekte gibt: Das „Ich“, und ein anderes, was von dem Ich bleibend beherrscht wird. In der Swahili-Sprache muss „Besitz“ durch die Bezeichnung einer Beziehung umschrieben werden: <(Mimi) ni><na><nyumba / shamba> bedeutet <(Ich) bin><in Beziehung mit> einem Haus, oder einem Acker. Das hat praktische Konsequenzen, denn wenn ein Haus nicht bewohnt oder ein Feld nicht bestellt wird, gehört (traditionell) wieder allen.

Weitere Beispiele

Links: Massaker aus Profitgier. Ergebnis Ego-gesteuerten Willens (Bildquelle: https://allthatsinteresting.com/buffalo-slaughter ). Rechts: von Intension geleitete Jagd. Zusammenfließen und leben, in der Verbundenheit des gleichen Lebensraumes. (Bildquelle: https://www.notesfromthefrontier.com/post/buffalo-indians und https://www.notesfromthefrontier.com/post/every-dead-buffalo-is-an indian-gone )

Intension

Deutsche Wörterbücher übersetzen „Intension“ u.a. mit „innerer Anspannung“, „Eifer“ oder „Antrieb“. Worte, die nicht gut zu den Zusammenhängen passen, die ich zu beschreiben versuche: Innere Ruhe, um sich aufmerksam, mit etwas, das ist oder das geschieht, zu verbinden. Sich leiten lassen, etwas beeinflussen und ausgestalten. Eine widerstandslose Beziehung einzugehen, Prozesse begleiten und, dem, was gerade läuft, in eine günstige Richtung zu geben.

Von Intension geleitetes Handeln

Heinrich von Kleist (1777-1811): Über das Marionettentheater: „ … Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gewandtheit, auf ihn aus, eines Menschen Brust würde ich ohnfehlbar getroffen haben: der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. … Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, Stöße und Finten wechselten sich, mir triefte der Schweiß: umsonst! Nicht bloß, daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlag­fertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft ge­meint waren, so rührte er sich nicht. …“

Menschen, die künstlerisch tätig sind, und die wach-unbewusst-geleitet handeln, öffnen sich für Möglichkeiten. Sie betrachten die Welt so, wie sie gerade erscheint. Sie erkennen z.B. Farben und Linien, wie ein Kleinkind, während normale Erwachsene das Gesehene sofort mit einem Begriff benennen („Baum“) und es bewerten. Das Kleinkind lässt angesichts des Gesehenen unbekümmert-spontan ein mit einem Stift ein kleines Kunstwerk entstehen. Ohne es zu wollen. Das Kindergarten-Kind dagegen hat schon gelernt, zielorientiert und willentlich ein Objekt zu kritzeln, das toll aussehen soll, und (gerade deshalb) schräg und komisch wirkt. Obwohl Mama es natürlich loben wird.

Erwachsene, die intensiv gedrillt wurden, aufgrund innerer und äußerer Befehle zu handeln, müssen intensionales (körper-un-bewusstes) Handeln neu lernen. Dabei hilft es (in sich) zur Ruhe zu kommen: Für sich zu sorgen, um sich mit einer Situation zu verbinden.

Sie können „etwas betrachten“. Und das Angeschaute versuchen zu verstehen, weil sie es mit dem eigenen Erleben abgleichen. Mit zunehmender Ruhe können solche Bewertungs-Schablonen verblassen. Man kann dann spielerisch die Realität auch „anders“ betrachten: z.B., wenn ein Foto eines Baumes umdreht wird, um die dann „sinnlosen“ Linien abzuzeichnen, ohne dass ein inneres „Baum-Muster-Bild“ erscheint.

Yogis stellen sich dafür auf den Kopf. Im Coaching nutzt man die Technik „Reframing“: Das, was ist, wird „radikal“ aus einem anderen Blickwinkel angesehen. Ein eindeutiger „Kreis“, von der Seite betrachtet, kann sich als eine „Rolle“ entpuppen, die in der Aufsicht als ein ‚Rechteck‘ erscheint.

In dynamisch veränderten Situationen ist es möglich, in einer Beziehung zu erkennen, was „es jetzt braucht“, um Harmonie im Geschehen herzustellen. Das erfordert das Erfassen eines Gesamtzusammenhangs. Bei intensionalem Handeln erhält, das, was nicht-gewusst oder verstanden wurde, immense Bedeutung.

Zielorientiert (gewaltsam) Handelnde glauben fest an die Unterscheidung von „Richtig-Falsch, Gut-Böse, Schwarz-Weiß, Virus-Zelle u.v.a.. Sie zielen, schießen und fragen erst anschließend.

Bei Intension-geleitendem Handeln versucht man zuvor etwas zu verstehen. Man sucht den Kontakt zum Geschehen. Und handelt im Einklang mit einer Veränderung. Und verzichtet auf überstürzte oder vorschnelle Antworten. Gerade zu Beginn einer Begegnung oder einer neuen Situation, geht man langsam und sorgsam vor. Weil es sonst „scheppern würde“.

Zu viele einzelne (von allem anderen getrennte) Detailinformationen sind dafür nicht hilfreich. Es ist vielmehr nötig, die Entwicklungsdynamik zu verstehen, die Gegebenheiten, die Möglichkeiten.

Natürlich ist immer jedes Detail wichtig. Aber kein Detail ist so wichtig wie das Ganze. Es hat nur eine Bedeutung im Zusammenhang von Beziehungen und Wechselwirkungen. Bei Intension geleitetem Handeln wird erfasst, ob etwas in sich stimmig ist, oder ob es sich stimmig entwickeln könnte. Ich-orientiertes Handeln analysiert dagegen, welcher Einzelfaktor im Gesamtgetriebe zu stören scheint, und wie er durch das Ablaufen von Standardreaktion (die zu Standardsituationen passen) beseitigt werden kann.

Intensionales Handeln beruht auf Selbstvertrauen, Souveränität und Ruhe. Es hilft zu erkennen, „was eigentlich abgeht“. Und zu „spüren“ (in ich-los-unbewusster Wahrnehmung) „was es gerade braucht“. So eröffnen sich Möglichkeiten, um begleitend und lenkend dafür sorgen, dass es der Situation (und damit den Handelnden selbst) gut und vielleicht auch besser geht. Die Chancen wachsen, wie sich die Zukunft günstig entwickeln könnte.

Intention entsteht aus den Gegebenheiten, wie sie sind oder sich entwickeln.

Sie ist in einer Situation „noch nicht da“.

Sie wächst mit der (überwiegend unbewusst-ich-losen) Wahrnehmung. So entsteht ein zukunftsgerichteter Fluss. Ein Sog dorthin, wo etwas störungsfreier, reibungsloser zu sein scheint.

Wie bei einem spielenden Kind, das, mit einem Stöckchen, einem Rinnsal im Sand, Hindernisse aus dem Weg räumt. Oder wie bei einem Sog nach einem befreienden Siegestor, der alles Fans jubelnd von den Bänken reißt.

Intension bildet sich aus einer Vorstellung.

Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen. Sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“- Antoine de Saint-Exupéry –

Dem Vorausahnen muss eine gewisse Zeitspanne folgen, um Geist und Körper zu erlauben, sich zu sortieren und zurückliegendes Erleben aufzurufen:

  • „den Lehm fühlen, bevor er gespürt wird.“
  • „die Tönen hören, bevor das Konzert erklingt.“,
  • „die Haut fühlen, bevor eine Nadel angesetzt wird.“
  • „die Gestalt des kindlichen Kopfes spüren, bevor er geboren wird.“
  • „die Farbe riechen, bevor der Topf geöffnet wird.“

Intensional Handeln bedeutet „etwas immer wieder neu erleben“. Daraus entwickelt sich allmählich Handlungs-Kompetenz und Selbstvertrauen. „Ich-Konstruktionen“ haben in störungsfrei ablaufenden Prozessen der Verbundenheit keine Bedeutung.

Alle Körperzellen sind am Erkennen beteiligt.

Mehr

Letzte Aktualisierung: 19.11.2023