21. Mai 2022

Intension und Wille

Einstimmung

Artur Schopenhauer prägte den Willens-Begriff für eine unbestimmte Lebensenergie, die alles Wachsende und Sich-Entfaltende durchdringe. Sie wirke auch in uns, aber stehe nicht unter unserer Kontrolle. Viele andere Philosoph:innen versuchten ein „Ich“ zu definieren, dass trotz allem (völlig selbständig) bestimmte Entscheidung treffen könne. Mittlerweile ist aber bekannt, dass das Gehirn, dessen frontale Anteile unsere Kultur so wichtig nimmt, nur ein Teil des Bewegungszentrums ist. Es ist notwendig, um körperliche Beziehungen aufzunehmen und mit der Umwelt zu kommunizieren. Bewegungsentscheidungen (z.B. wann ein Fuß gesetzt oder angehoben werden muss) trifft aber nicht allein das Gehirn.

An allen Bewegungen sind in hohem Maße elastische Zell-Strukturen und Bindegewebs-Verspannungen beteiligt. Zudem können Menschen als Kolonien von Viren, Bakterien und Zellen aufgefasst werden: Als Superorganismus untereinander verwobener, wechselwirkender Mitglieder. Entscheidungen werden immer in einem Gesamtklang getroffen, der den bewussten Hirnanteilen verborgen bleibt.

Noch steht er still. Bild ronin@posteo.de

Einen „freien Willen“ (der losgelöst von allem anderen entscheidet) kann es daher nicht geben (Dörner 2004).

Bewusst getroffene Befehle unterbrechen einen Bewegungsfluss, aber sie steuern ihn nicht. Ich-bezogene Willensäußerungen reagieren auf etwas. Um es dann zu verändern oder zu beeinflussen. Sie benötigen deutlich mehr Zeit, als die einer Bewegung vorauslaufenden, unbewussten Prozesse.

Der folgende Text ist eine Annäherung an den Begriff „Intention“. Meine Einschätzungen beruhen weniger auf theoretischem Studium, als auf Erleben und persönlicher Erfahrung. Sie beziehen alle unbewussten Anteile meines (subjektiven) Selbst mit ein.

Stillstand und Trennung gehen vorüber.

Auch scheinbar „Im-Weg-stehendes“ ändert sich.

Die Realität ist (unverkennbar und in allen Lebensbereichen) komplex und ungewiss (BANI und VUKA).

Wir haben die Wahl. Wir können:

  • hilflos in einem Geschehen treiben,
  • gegen etwas (gewaltsam) kämpfen,
  • oder es annehmen, begleiten, beeinflussen.

Panta rhei (πάντα ῥεῖ):
Alles fließt. Heraklit (520-460 v.u.Z)

Vor dem Stier weglaufen? Gegen ihn kämpfen? Oder dableiben, Dynamik annehmen, ihn zu einer Seite leiten und zur anderen ausweichen? Bild: Screen-shots aus Video-gif-Sequenz, 2010, Quelle unbekannt

„Freier“ oder „unfreier“ Wille

Eine der ersten Schilderungen einer willentlichen „Ich“-geleiteten Entscheidung findet sich in der Erzählung des Gilgamesch-Epos. Dort geht (vor vielleicht 5.000 Jahren) ein erster „moderner Mensch“ <sich selbst bewusst> gegen Zusammenhänge der „göttlichen Ordnung“ vor. Dazu muss er den Beschützer eines großen Waldes bekämpfen und vernichten, bevor er das abgeschlagene Holz für seine <ich-egoistischen> Ziele abtransportieren kann.

Unsere Kultur betont diese Art willentlichen Handelns. Wir bevorzugen Interventionen, die auf begrifflichen Trennungen, Einzelfakten-Analysen, Problem-Bewusstsein und Zielorientierung beruhen. Belohnt wird Geschicklichkeit. Unsere Handlungsdynamik soll Widerstände beseitigen und Gewinn einfahren.

Die Illusion, Willensentscheidungen seien frei, beruht auf den Geschichten, die nach Handlungs-Entscheidungen erzählt werden. Die eigentlich aktions-auslösenden Befehle sind meist unbewusst. Aber weil „Ich es getan habe“, glaubt das „Ich“, es auch „gewollt zu haben“.

Das bewusste „Ich“ ist ein erlerntes Referenzprogramm des Gehirns, das es erlaubt, etwas, das geschieht, als günstig oder schlecht zu bewerten. Das ist nötig, um (schnell und kraftvoll) dynamischen Entwicklungen, eine andere Richtung aufzuzwingen.

Das „Ich“ gleicht einer Messlatte zur Einschätzung von Chancen und Risiken. Es wird durch aktive, Energie verbrauchende Prozesse erzeugt. Und durch Narkosemittel unterbunden. Neugeborene verfügen noch nicht über dieses „Ich-Programm“. Sie benötigen innige Verbundenheit. Erst nach einigen Jahren der Entwicklung stabilisiert sich ihr Ausdruck für Gefühle. Und schließlich auch für ein Ich-Bewusstsein. Erst dann können sie sich als etwas eigenständig Lebendes begreifen. Als eine Person, die von anderem getrennt ist.

Die Auslösung von Bewegung

Körperlichen Handlungen geht (vor dem Ich-Bewusstsein) die Bereitstellung zellulärer Energie voraus. Nerven- und Bewegungszellen stimmen sich (unbewusst und schnell) auf das ein, was möglicherweise kommen wird. Diesem Bewegungsimpulses folgt eine Erregungs-Lawine. Und ihr ein körperlicher Ausdruck: Mimik, Haltung, Geste. Und erst wenn die Handlung beginnt, wird sie auch bewusst wahrgenommen. Und kann dann ausgestaltet, überhöht oder unterdrückt werden.

Im Bewusstsein des „befehlenden Ich“ wird willentlich, zielorientiert gehandelt: man reagiert, bewegt oder manipuliert etwas, oder verändert eine Situation. „Ich-bewusste“ Entscheidungen sind relativ langsam (im Vergleich zu den ultraschnellen unbewussten Bewegungssignalen u.a. des Stamm- oder des Kleinhirns oder des Faszienapparates). Wenn z.B. ein Kursteilnehmer der Anweisung seiner Yogalehrerin folgen will, und innerlich, bewusst den Befehl „Einatmen“ erteilt, hat sein Stammhirn möglicherweise gerade (unbewusst) mit einer Ausatmung begonnen.

Das was (fälschlicherweise) als „freier“ Wille bezeichnet wird, beruht auf Befehlen, die von außen gebahnt oder antrainiert wurden: durch Erziehung, Marketing, Medien, Propaganda, direkte Anweisungen, Gehorsam oder Wahn. Der Wille gründet sich auf auswendiggelernten Einzelfakten, Handlungsanweisungen oder einem antrainierten Denken, was in einer bestimmten Situation (reagierend) zu tun sei, weil es sich in der Vergangenheit so bewährt hat.

Bewussten Willensäußerungen, die Handlungen bewirken, sind daher ihrem Wesen nach konservativ, da antrainierte Handlungsmuster auf noch unbekannte Situationen angewandt werden.

Dafür ist es nicht nötig, zu wissen, was eigentlich los ist. Denn bei problem- und ziel-orientiertem Handeln wird nur eine Entscheidung getroffen, dass etwas Einzelnes (von anderem getrenntes), das nicht so ist, wie es sein soll, verändert werden muss. Erforderlich sind nur Techniken, um Objekte oder Gegebenheiten zu manipulieren. Der Weg zum Ziel ist festgelegt: eng und manchmal pfeil-gerade, wie in einem Tunnel oder in einem Gewehrlauf. Die Einfluss-Parameter ändern sich nicht, oder sie werden ignoriert. Die Interessen des „Ich“ (oder der Kräfte, die es von außen beherrschen) werden gegen Widerstände durchgesetzt: mit Gewalt, Schnelligkeit oder Schlauheit.

Ein Reiter kann so sein Pferd (manchmal gewaltsam) zu etwas zwingen, was diesem widerstrebt. Das wirkt dann hart, unschön, widersprüchlich, ungelenk.

In anderen Kulturen stehen Verbindung, Einheit, Beziehung im Vordergrund.

Eine der ersten Schilderungen einer willentlichen „Ich“-geleiteten Entscheidung findet sich in der Erzählung des Gilgamesch-Epos. Dort geht (vor vielleicht 5.000 Jahren) ein erster „moderner Mensch“ <sich selbst bewusst> gegen Zusammenhänge der „göttlichen Ordnung“ vor. Dazu muss er den Beschützer eines großen Waldes bekämpfen und vernichten. Erst dann kann er das abgeschlagene Holz für sein <ich-egoistisches> Ziel, den Ausbau der Stadt, abtransportieren .

In der ostafrikanischen Hoch-Sprache Swahili dagegen gibt es kein Wort für „haben“. Also für den „Besitz eines Objektes, das von einem „Ich“ getrennt“ wäre. Die Bedeutung eines Zustandes, den Europäer mit „Ich habe ein Haus“ übersetzen würden, wird dort umschrieben: „Ich <bin> in <Beziehung mit> einem Haus“ (<ni><na> nyumba“).

Links: Massaker aus Profitgier. Ergebnis ego-gesteuerten Willens (Bildquelle: https://allthatsinteresting.com/buffalo-slaughter ). Rechts: von Intension geleitete Jagd. Zusammenfließen und leben, in der Verbundenheit des gleichen Lebensraumes. (Bildquelle: https://www.notesfromthefrontier.com/post/buffalo-indians und https://www.notesfromthefrontier.com/post/every-dead-buffalo-is-an indian-gone )

Intension

Deutsche Wörterbücher übersetzen „Intension“ u.a. mit „innerer Anspannung“, „Eifer“ oder „Antrieb“. Worte, die nicht gut zu den Zusammenhängen passen, was ich damit zu beschreiben versuche: Innere Ruhe, um sich aufmerksam, mit etwas, das ist oder das geschieht, zu verbinden: Innere Ruhe, um sich aufmerksam, mit etwas das ist oder das geschieht, zu verbinden. Sich leiten lassen, etwas beeinflussen und ausgestalten. Eine widerstandslose Beziehung einzugehen, Prozesse begleiten und, dem, was gerade läuft, in eine günstige Richtung zu geben.

Von Intension geleitetes Handeln

Heinrich von Kleist (1777-1811): Über das Marionettentheater : „ … Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gew andtheit, auf ihn aus, eines Menschen Brust würde ich ohnfehlbar getroffen haben: der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. … Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, Stöße und Finten wechselten sich, mir triefte der Schweiß: umsonst! Nicht bloß, daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlag­fertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft ge­meint waren, so rührte er sich nicht. …“

Menschen, die künstlerisch tätig sind, und die intensions-geleitet handeln, öffnen sich für Möglichkeiten. Sie betrachten die Welt so, wie sie gerade erscheint. Sie erkennen z.B. Farben und Linien, wie ein Kleinkind, während normale Erwachsene das Gesehene sofort als „Baum“ bezeichnen oder es bewerten. Das Kleinkind lässt (angesichts des Gesehenen) unbekümmert-spontan ein kleines Kunstwerk entstehen. Ohne es zu wollen. Das Kindergarten-Kind het schon gelernt, zielorientiert und willentlich ein Objekt zu kritzeln, das toll aussehen soll, und (gerade deshalb) schräg und komisch wirkt. Obwohl Mama es natürlich loben wird.

Erwachsene, die intensiv gedrillt wurden, aufgrund innerer und äußerer Befehle zu handeln (geleitet von „ihrem freien Wille“), müssen intensionales Handeln neu lernen. Dabei hilft es (in sich) zur Ruhe zu kommen: Für sich zu sorgen, um sich mit einer Situation zu verbinden. Also „etwas betrachten“. Und das Angeschaute verstehen, weil es mit dem eigenen Erleben abgeglichen wird. Mit zunehmender Ruhe können die Bewertungs-Schablonen verblassen. Man kann dann spielerisch die Realität auch „anders“ betrachten: z.B. wenn ein Foto eines Baumes umdreht wird, um die dann „sinnlosen“ Linien abzuzeichnen, ohne dass ein inneres „Baum-Muster-Bild“ erscheint.

Yogis stellen sich dafür auf den Kopf. Im Coaching nutzt man die Technik „Reframing“: Das was ist, wird „radikal“ aus einem anderen Blickwinkel angesehen. Ein eindeutiger „Kreis“, von der Seite betrachtet, kann sich als eine „Rolle“ entpuppen, die in der Aufsicht als „Rechtweck“ erscheint.

In dynamisch veränderten Situationen ist es möglich, in einer Beziehung zu erkennen, was „es jetzt braucht“, um Harmonie im Geschehen herzustellen. Das erfordert das Erfassen eines Gesamtzusammenhangs. Bei intensionalem Handeln erhält, das was nicht-gewusst oder verstanden wurde, immense Bedeutung, während zielorientiert (gewaltsam) Handelnde fest glauben, „Richtig-Falsch, Gut-Böse, Schwarz-Weiss, Virus-Zelle uv.a., unterscheiden zu können. Man zielt, schießt und fragt anschließend. Bei intensionsgeleitendem Handeln fragt man vorher: gerade im Kontakt. Man handelt im Einklang mit einer Veränderung. Man verzichtet auf überstürzte oder vorschnelle Antworten. Gerade zu Beginn einer Begegnung oder einer neuen Situation geht man langsam und sorgsam vor, weil es sonst „scheppern würde“.

Zu viele einzelne (von allem anderen getrennte) Detailinformationen sind dafür nicht hilfreich. Es ist vielmehr nötig, die Entwicklungsdynamik zu verstehen, die Gegebenheiten, die Möglichkeiten. Natürlich ist immer jedes Detail wichtig. Aber kein Detail ist so wichtig wie das Ganze. Es hat nur eine Bedeutung im Zusammenhang von Beziehungen und Wechselwirkungen. Bei intensionsgeleitetem Handeln wird erfasst, ob etwas in sich stimmig ist, oder ob es sich stimmig entwickeln könnte. Ich-orientiertes Handeln analysiert dagegen, welcher Einzelfaktor im Gesamtgetriebe zu stören scheint, und wie er durch das Ablaufen von Standardreaktion (die zu Standardsituationen passen) beseitigt werden kann.

Intensionales Handeln beruht auf Selbstvertrauen, Souveränität und Ruhe. Es hilft zu erkennen, „was eigentlich abgeht“. Und zu „spüren“ (in ich-los-unbewusster Wahrnehmung) „was es gerade braucht“. So eröffnen sich Möglichkeiten, um begleitend und lenkend dafür sorgen, dass es der Situation (und damit den Handelnden selbst) gut und vielleicht auch besser geht. Die Chancen wachsen, wie sich die Zukunft günstig entwickeln könnte.

Intention entsteht aus den Gegebenheiten, wie sie sind oder sich entwickeln. Sie ist in einer Situation „noch nicht da“. Sie wächst mit der (überwiegend unbewusst-ich-losen) Wahrnehmung. So entsteht ein zukunftsgerichteter Fluss. Ein Sog dorthin, wo etwas störungsfreier, reibungsloser zu sein scheint. Wie bei einem spielenden Kind, das, mit einem Stöckchen einem Rinnsal im Sand, Hindernisse aus dem Weg räumt. Oder wie bei einem Sog nach einem befreienden Siegestor, der alles Fans jubelnd von den Bänken reißt.

Intension bildet sich aus einer Vorstellung.

Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen. Sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“- Antoine de Saint-Exupéry –

Dem Vorausahnen muss eine gewisse Zeitspanne folgen, um Geist und Körper zu erlauben, sich zu sortieren und zurückliegendes Erleben aufzurufen:

  • „den Lehm fühlen, bevor er gespürt wird.“
  • „die Tönen hören, bevor das Konzert erklingt.“,
  • „die Haut fühlen, bevor eine Nadel angesetzt wird.“
  • „die Gestalt des kindlichen Kopfes spüren, bevor er geboren wird.“
  • „die Farbe riechen, bevor der Topf geöffnet wird.“

Intensional Handeln bedeutet „etwas immer wieder neu erleben“. Daraus entwickelt sich allmählich Handlungs-Kompetenz und Selbst-Vertrauen. „Ich-Konstruktionen“ haben in störungsfrei ablaufenden Prozessen der Verbundenheit keine Bedeutung. Denn alle Körperzellen sind am Erkennen beteiligt.

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Letzte Aktualisierung: 27.05.2022