Wahn-Sinn
Inhalt
- Zivilisations-Psychose
- Ur-Psychose (Ilias, Gilgamesch)
- Waren Psychosen früher normal?
- Die Psyche früher Künstler
- Macht-Psychose
- Amok-Psychose
- Massen-Psychose
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Zivilisations-Psychose
Sind wir psychisch krank?
Die Weltgesundheitsorganisation hält jeden achten Menschen auf diesem Planeten für psychiatrisch behandlungsbedürftig. (WHO 2022)
Wurden dabei die vielen Patient:innen mitgezählt, die der Medizinbetrieb „depressiv“ nennt? Oder, die, die an chronischer Erschöpfung leiden, oder an „Burn-out“ oder an anderen immunologischen Störungen? Oder die vielen anderen, die Psychopharmaka konsumieren, oder Schmerzmittel, oder virtuelle Sucht-Produkte, oder psychoaktive Drogen, oder andere Suchtmittel?
Seit 2020 schwappte eine Welle von Angstbotschaften, Überinformation und Kontrollmaßnahmen um die Erde. Seither hat die psychische Not deutlich zugenommen. Gesteigert durch Krieg, Umweltkatastrophen und soziales Elend. Die, die sich nach Sicherheit sehnen, finden immer weniger Halt, um sich an einem Glauben festzuklammern.
Besonders ausgeprägt scheint das Post-Covid-Stimmungstief bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu sein. (BZ 23.04.2024) Ihnen fehlen Perspektiven und Sinn.
Die Grundlagen unserer Existenz rutschen.
Wir stehen auf Morast und spüren es. Unsere körperlichen Alarm-Sensoren klingeln ohne Pause. Wir starren auf Müllhalden zersplitterter Einzelteile, die in kein Gesamt-Puzzle passen. (Bronner 2022)
Wir sind unruhig. Und wissen nicht, wie wir kämpfen sollen, oder wohin wir uns zurückziehen können. Wir ahnen, dass jede Kultur, die (wie unsere) in eine evolutionäre Sackgasse hineinschliddert, sich radikal anders verhalten müsste. Oder dass sie scheitern wird.
So stehen vor einem Abgrund, der sich nicht verdrängen lässt. Und sind unglücklich.
„Es ist eine Zeit der Monster. Die Alte Welt liegt im Sterben.
Die neue ist bisher nicht geboren.“ (Antonio Gramsci, 1936)
Was blockiert uns?
Der Psychiater Ian McGilchrist hält modernes, ir-rationales Verhalten für eine Folge einer Verzerrung der Realitäts-Wahrnehmung. Für einen Wahn, der auf einer Anpassungsstörung unserer archaischen Gehirnsoftware beruht.
Unsere psychischen Leistungen haben die Natur bis zur Erschöpfung geprägt (Anthopozän). Nun siegen wir uns zu Tode. Und es fällt uns schwer, Wechselwirkungen, Dynamiken und Beziehungen innerer und äußerer Systeme zu verstehen.
Der Sinnzusammenhang geht uns verloren. Eine in sich ruhende Radnabe des Verstehens, auf die sich die vielen, zusammenhanglos herum-verwirrenden Einzelinformationen beziehen könnten.
Liegt es an ihrer Hardware, dass moderne Menschen gegen etwas kämpfen, was sie ausmacht oder trägt? (NZZ 2022) Und dass sie sich so selten auf die Anteile ihrer selbst beziehen, die besonnenes Handeln ermöglichen?
Das Leben aufräumen
Urs Wehrli zeigt in seinen Bildern, was Ian McGilchrist in rational-detaillierter Form beschreibt: Das Ende der Kunst, durch Zergliedern und Aufräumen. Lebendes erscheint unordentlich und unberechenbar zu sein. Weil nur das Tote und Sinnlose wirklich verfügbar ist. (Rosa 2018)
Wir trainieren auf der Höhe unserer Zivilisation das, was die sogenannte „künstliche Intelligenz“ besser kann: Einzelfakten und trennende Begriffe verarbeiten. Und wir verlieren den Bezug zu dem, was lebt und wimmelt. Wir rennen in Tunneln und verlassen uns weniger auf unsere Assoziationen, Kreativität, Beziehungen, Verbindungen und eigene Dynamiken.
„Wir müssen handeln! … Wir gleichen Schlafwandlern, die sich (immer schneller) auf den Abgrund zu bewegen … mit (einem Hirnteil) sehen wir in der Regel nur eine einfache Sichtweise von etwas, glauben, dass diese Sicht immer richtig ist, … wir suchen nach Macht, die manipuliert, die es uns ermöglicht, zuzugreifen, die Kontrolle zu erlangen, alles wegzuräumen, was im Weg steht, … dieses Denken hat uns in den Schlamassel geführt, weil sie nur nach Nutzen strebt … (die alternative Hirnfunktion) hingegen sieht, dass alles letztlich miteinander verbunden ist, dass die Dinge niemals statisch und fest sind, sondern sich entwickeln und verändern, dass sie sich bewegen und komplexe Schönheiten schaffen … das, was das Leben ausmacht, und das finden wir jetzt nicht mehr …“ (Zitat: McGilchrist, Sept. 2022: https://www.youtube.com/embed/686heq5QFPk?feature=oembed)
Was tun?
Seit Jahrtausenden haben sich Kriege bewährt. Probleme, die im Weg stehen, werden einfach erschlagen. Das ging so lange gut, wie die angerichteten Schäden im Gesamtsystem vernachlässigt werden konnten. Jetzt beißen „die Dinge“ zurück.
Kann uns Eigenverantwortung, radikal-rationales Selber-Denken und Potenzialentfaltung aus den Zivilisations-Psychosen führen? Ein Interviewpartner von Ian McGilchrist, der kanadische Psychologe Jordan B. Peterson, glaubt an diesen Lösungsweg (2018, 2021a, 2021b). Er fordert auf, wir sollten uns gegen Diskurse wehren, die zu dem verkümmern, „was heute (noch) gesagt werden kann, soll und muss“.
Auch ein anderer Philosoph, Omri Böhm, plädiert für eine Renaissance der Aufklärung (engl. Enlightenment). Nur die Ideen des Universalismus, der Gleichheit vor dem Gesetz und der rationalen Vernunft (im Sinne Kants), könnten aus dem psychischen Elend führen, das Irrationalität und Ausbeutung anrichten. (Spiegel 29.10.2022, Israel eine Utopie 2020)
Ich wünschte, es wäre so.
Tatsächlich sind aber immer nur Minderheiten an Klarheit interessiert. Mehrheiten verlangen nach „Wahrheiten“, die geglaubt, und an Anweisungen, die befolgt werden können. An scharfe Trennungen von Gut und Böse. An Führungen, denen man trauen kann. Und an siegreiche Kriege. Damit alles so bleiben (und weitergehen) kann wie bisher.
Ja, auch ich halte rationales Nachdenken für unverzichtbar, um uns von dem zähen Meinungsbrei zu befreien, der in unsere Gehirne schwappt.
Selber-denken ist mühsam und unverzichtbar. Aber es reicht nicht.
Denken muss ergänzt werden durch emotionale, sinnliche, körperliche Realitäts-Wahrnehmung. Erleben, spüren, anfassen, fühlen, erfahren: So werden einströmende Informationen in einen persönlichen Bezug gesetzt. Verstehen beruht auf Begreifen. Unser Geist ins verkörpert.
Auch die Intension „anders“ zu handeln beruht auf körperlichen Einstellungen. Und auf der Rückbesinnung zu dem, was unsere Gattung Mensch eigentlich ausmacht: die Fähigkeit, sinnvolle Beziehungen einzugehen.
„Wer nichts von Tieren lernen will, muss zivilisiert bleiben“. Sapolsky (Primatenforscher)
… oder sie oder er wird im Verlauf der Evolution ausgesondert.
Ur-Psychose
Irren ist menschlich
Säugetiere erzeugen u. a. mit ihren Mittelhirnstrukturen ein (Kern)-Bewusstsein. Sie bündeln die Informationen ihrer inneren und nach außen gerichteten Sinne. Sie vergleichen sie mit einem inneren Bild. Sie beurteilen, ob das, was da geschieht, gut oder schlecht ist für „Sie“ ist. Höhere Säugetiere (Katzen, Hunde, …) können dieses Mini-Bewusstsein auch noch zu einfachen Gefühlen ausbauen, indem sie Vergangenheitsbilder und Zukunftsvorstellungen damit verknüpfen.
Aber keinem anderen Tier, auch nicht bei uns nahestehenden Primaten, wurden je Anzeichen von „Bewusstseinsspaltung“ (oder anderen Schizophrenie ähnlichen Symptomen) gefunden. Zwei Persönlichkeiten in sich zu tragen, die um die Herrschaft ringen, scheint ein Menschen-typisches Krankheitsbild zu sein.
Vielleicht galt es sogar vor vielen Jahrtausenden als normal, wenn Menschen innere Stimmen hörten (in einem Hirnteil), die dem „Ich“ (in einem anderen Hirnteil) befahlen, was zu tun sei. Denn linke und rechte Hirnsoftware (die unmittelbar zusammenwirken sollten) waren bei der überstürzten Entwicklung menschlicher Gehirne anfangs bisher nicht optimal koordiniert. Später in der Entwicklungsgeschichte, waren es immer Menschen, die noch spontan (ohne Drogen und Trommeln) „von Geistern oder Göttern“ besessen werden konnten.
Schaman:innen oder Prophet:innen standen in hohem Ansehen, weil sie eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllten. Heute dagegen gälten Personen als krank und würden medikamentös behandelt, wenn sie den Einflüsterungen höherer Mächte lauschten und davon erzählten. Als dann (allmählich seit 3.000 Jahren) die beiden menschlichen Gehirnhälften optimal koordiniert waren, verschwanden „die Stimmen“ der „Ahnen“, und die Bevölkerung großer Reiche musste durch übergeordnete, äußere, ethische Konzepte zusammengehalten werden (Religionen, Wahrheiten, Dogmen, Gesetze). Ab dann gab es zwei psychische Krankheiten: Besessen sein (inneren Befehlen zu folgen) oder radikal selbst denken (äußere Befehle hinterfragen).
Ich träume: also bin ich! Die Guajiro in Venezuela nutzen den Begriff Alapühaa, der mit dem Wort „träumen“ übersetzt wird. Sie verstehen darunter einen Weg, der in die Welt der Doppelgänger, Geister und Götter führt. Dort könne man sehen, was geschehen werde. Für die Guajiros sind „Träume“ Gebote. Sie können z. B. verlangen, weit entfernten Menschen zu Hilfe zu eilen. Folge man diesem Befehlen nicht, geschehe ein Unheil. (Mutiges Träumen. Villodo 2008)
Waren „früher“ Psychosen normal?
Dafür spricht vieles, wie u. v. a. die Ilias-Sage oder das Epos vos Gilgamesch.
Nach der langen Phase der „Normalität von Besessenheit“ blitzte vor zwei bis dreitausend Jahren in Eurasien eine relativ kurze Phase kreativen, rationalen Denkens auf. Sie hielt aber nicht lange an. Ab ~300 v.u.Z. wurde sie allmählich durch staatstragende Formen von „Religion oder Gesetz oder Wahrheit oder Esoterik“ abgelöst (Dodds 1951, Kommentar 2018)
Etwa zeitgleich veröffentlichte Erich Neumann (ein Schüler C.G. Jungs) seine umfassende Geschichte des Bewusstseins, wobei er sich auf die Mythen und Überlieferungen stützte. Er sah in mündlichen Überlieferungen, die erst viele Jahre später aufgeschrieben wurden, die wesentliche Zeugnisse für eine systematische Archäologie der menschlichen Software. (Neumann 1949) Auch er schließt, dass die Geisteszustände unserer Ahnen sich vor 10.000 Jahren sehr deutlich von heutigem Denken und Fühlen unterschieden haben müssen.
Ende des 20. Jahrhunderts behauptete dann der Psychologe Julian Jaynes, bis vor wenigen tausend Jahren seien Geisteszustände, die wir heute als Psychose, Schizophrenie oder Wahnsinn bezeichnen würden, völlig normal gewesen.
Ihm war aufgefallen, dass Psychosen bei anderen großen Affenarten nicht vorkommen, also offenbar Menschen-typisch sind. Er vermutete daher, dass die kulturellen Errungenschaften zu einer rasanten Anpassung des Gehirns an neue, soziale Zusammenhänge geführt hätten.
Weil die Koordination zwischen den Großhirnhälften noch sehr instabil und manchmal verzögert abgelaufen sei, war es seiner Ansicht nach normal, dass ein „Ich“ (einer Hirnhälfte etwas tun wollte), und eine Stimme (ein Geist, ein Gott) im Geschwister-Hirnteil heftig untersagte (etwa: „Ich will heiraten!“ Und das Gegenteil: „Spring von der Klippe!“). Ein „Ich“, das selbstbewusst behaupten konnte, aus freiem Willen heraus zu handeln, sei nicht vorhanden oder nur sehr schwach ausgeprägt gewesen.
Der Psychologe Nicolas Humphrey ging noch einen Schritt weiter und behauptete, dass den Menschen, die die genialen Höhlenmalereien hinterließen, begriffliches Denken weitgehend fehlte. Die Funktionsweise ihrer Gehirne habe eine geringe zentrale Kontrolle aufgewiesen, bei einer gleichzeitig hohen Fähigkeit, alles Umgebende unbewertet, spontan und fotografisch-klar zu spiegeln. Humphrey erinnerte das, dem Autismus, mich eher an Geisteszustände, die Zen-Buddhisten oder Bewegungskünstler anstreben, um gleichzeitig glasklare Wachheit und Gedanken-leere Ichlosigkeit zu erleben.
Die Knochen der Frühmenschen zeigen, dass sich die grobe, äußere Form der Hirnstruktur seit über 200.000 Jahren nicht oder kaum verändert hat. Wie sich dieses fantastische Instrument der immer intensiveren Sozialisation anpasste, kann aber vor dem Hintergrund früher Schriften nachvollzogen werden.
In den ältesten Schriften der Menschheit scheint immer „jemand“ (ein Geist, ein Ahne oder ein Gott oder eine Göttin) durch die handelnden Personen hindurch zu sprechen, oder sie durch Träume oder herrische Zwischenrufe zu lenken oder auch zu absurd-grausamen Reaktionen zu zwingen (Lugalbanda und Gilgamesh ~2.700 v.u.Z, oder Enuma Elish und Hammurapi ~1.800 v.u.Z.). Selbst in den ein- bis zweitausend Jahre später aufgeschriebenen Geschichten (Ilias, Thorah/Mose, Nevi’im/Propheten u.a.) wimmelt es von Menschen, die Geisteszustände aufweisen, die wir heute als „produktive Psychose“ bezeichnen würden.
Die Schwelle zur Auslösung solcher Erscheinungen stieg vor zweitausendfünfhundert Jahren im weiteren Mittelmeerraum bei vielen Menschen aus weitgehend unbekannten Gründen an. Immer mehr Menschen begannen damit, selbst zu denken, sich als handelnde Personen wahrzunehmen und die Gegebenheiten selbst kritisch zu hinterfragen, ohne auf die Träume der Einflüsterungen zu warten
(Beispiel: Odysseus in Homers zweitem Epos).
Die den Herrschern übergeordneten Instanzen lebten dann nicht mehr in ihnen, sondern wurden in höhere, externe Räume verlagert, als Gottheiten außerhalb des Menschen.
Besonders radikal als Monotheismus: Zuerst in Ägypten in der Periode des Echnaton, dessen Anhänger später als Sklaven vertrieben wurden. Und kurz darauf mit Zarathustra, dem geistigen Vater des ersten Gottesstaates in Persien (Schmoekel, Kurtz, Assmann, Holland)
In anderen Erdteilen verzögerte sich der Wandel der Gehirnnutzung offenbar, z. B. bei den großen Kulturvölkern Lateinamerikas. Das könnte erklären, warum es so einfach war, dass eine kleine Gruppe goldgieriger Abenteurer unter Pizarro die hochgerüstete, disziplinierte 80.000 Mann-Armee des Inka besiegen konnte: Weil der lebende Gott Atahualpa, von dem alle Soldaten besessen waren, kurzerhand getäuscht und umgebracht wurde. Bei Besessenheit-zuständen können eben alt-bewährte Verhaltensmuster konservativ abgespult werden. Sie taugen aber nicht für Innovation und Kreativität, die angesichts vollkommen unerwarteter Dynamik nötig wäre.
Im Prinzip stellte sich Jaynes die Frühmenschen wie moderne Großstadtbewohner vor, die ebenfalls einen ununterbrochenen Strom elektronischer Botschaften empfangen, sich in virtuellen Realitäten verlieren, durch beides irrational und manchmal sprunghaft gelenkt werden, und sich dabei ständig erzählen, dass sie es seien, die da ihr Leben handelnd steuern. Mit dem kleinen Unterschied, dass
die antiken Ur-städter diesen gewaltigen medialen Fluss in sich noch selbst erzeugen mussten.
Solche Ur-Geisteszustände finden sich bei Völkern, die bis in jüngster Vergangenheit oder heute noch in der Phase des Jagens und Sammeln befanden oder befinden (in Brasilien, Nordamerika oder Papua).
Bei all diesen Menschen waren (oder sind noch) die Kommandos ihrer Häuptlinge, Väter/Mütter oder Könige/Königinnen als feste (nicht-bewusste) Programme abgespeichert. Ihre Aufgabe ist es, das alltägliche Geschehen kommentieren und bei Tabu-Gefährdungen dazwischenzureden. Oder um in sozialen Stresssituationen als hilfreich-konservative Stimmen der Geister, Ahnen und
Götter abgerufen zu werden.
Trotz vieler Belege scheint es manchen Wissenschaftler:innen schwer vorstellbar zu sein, dass es einmal Sprache, Schrift, Kultur und Staatswesen ohne ein starkes „Ich-Bewusstsein“ gegeben haben könnte. (Williams 2010).
Das mag daran liegen, dass diese Expert:innen, die Funktion des Ich-Bewusstseins überbewerten (Bräuer). Oder auch daran, dass sie sich selbst zu wenig bewegen. Wer bewegungslos da-sitzt und das Hirn ohne körperliche Rückmeldungen flimmern lässt, der muss sich zwangsläufig ein „Ich“ schaffen, dass da eins nach dem anderen denkt, und die Dinge analysiert und bewertet. (Llinas). Wer sich dagegen im Verbund mit dem, was geschieht, elegant und verbunden bewegt, ist ein „kontrollierend-befehlendes ich“ eher hinderlich. (Wolpert) Dafür ist „Jonglieren“ ein anschauliches Beispiel. Ein „Ich“ kann natürlich entscheiden, den ersten Ball zu werfen. Aber selbst dieser Befehl ist in der Hand bereits angelangt, und umgesetzt, bevor das „Ich“ sich erzählt, dass es gerade etwas entschieden habe. Denn das „Ich“ hängt dem Bereitstellungspotential vor einer Bewegung um 0,3 Sekunden nach. Wenn die Jonglierbälle dann fliegen, gibt es endgültig keinen Platz mehr für ein „Ich“. Denn wenn es doch mit Befehlen in dem Bewegungsfluss herumfummeln wollte, fielen die Bälle herunter. Selbst die Impulse der unbewussten Hirnprogramme, die am „Ich“ des Mittelhirns vorbeisausen, sind im schnellen Flug der bunten Kugeln vergleichsweise langsam, z. B. gegenüber den beteiligten Rückenmarksreflexen und den Signalen der Faszien-Dehnungen und -Entdehnungen in den Armen und Händen. Jonglieren erfordert also klare Wachheit und Gedankenleere, aber sicher kein steuerndes „Ich-Bewusstsein“, das vielen Wissenschaftler:innen so wichtig zu sein scheint.
Elegante Bewegungen geschehen im Flow harmonischer innerer und äußerer Dynamik, bei dem „Ich“ höchstens eine wohlwollende Betrachtung des Geschehens zukommt. Der noch intensivere Geisteszustand der Trance ist „Ich-los“. Er gleicht einem Sich-Verlieren in einen zeit-losen Zustand des Verbunden-seins. So entstehen Tanz, Musik, Gesang, Poesie, Malerei, Sport, mit einem Wort all das Schöne, zu dem die Menschheit fähig ist. Unter der Voraussetzung, all das geschieht ohne Stress und in einem geschützten Rahmen, der verhindert, dass in großer Not eine Sicherung durchbrennt.
Viele Details der Erklärungsversuche von Jaynes, wie sich das Zusammenspiel der beiden Menschen-typischen Großhirn-Hälften in seiner Funktion verändert haben könnte, sind heute durch die Ergebnisse der Hirnforschung überholt. Tatsächlich hat sich zwar die Art, wie die Hirn-Hemisphären zusammenspielen (kulturell-beeinflusst) erheblich verändert, aber anders, als Jaynes es sich vorgestellt hatte. (McGilchrist)
Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde von Seelenstörung, geistiger Krankheit oder Irresein gesprochen, wenn Menschen mit „gespaltenen Persönlichkeiten“ neben ihrem „Ich“ auch andere innere Stimmen wahrnahmen. Die neue Berufsgruppe der Psychiater definierte diesen sonderbaren Zustand (griechisch: -osis, -οσις) des Geistes oder der Seele (griechisch psychē, ψυχή) als ein behandlungsbedürftiges Krankheitsbild (Psych-ose). Weil die Patient:innen litten, und weil das Zusammenleben gestört war, in einer linear denkenden Gemeinschaft, die mit Prophet:innen, Wahrsager:innen, Seher- oder Schaman:innen nichts anfangen konnte.
Bei modernen Menschen kommen alle Übergangsformen optimaler und gestörter Großhirnfunktionen vor, mit einem „Ich“ oder auch zwei. Außergewöhnliche Belastungen, die zu Stress oder Panik führen, senken die Schwelle zur Auslösung eines Vollbildes dieser Art „Psychose“. In einem Krankenhausbereitschaftsdienst habe ich drastisch erfahren, dass bei mir drei Nächte Schlafentzug ausreichen, damit ich „Stimmen höre“ und die Realität wie in Trance erlebe.
Auch ohne ein singuläres Trauma können Belastungen, Stress, Sauerstoffmangel oder Schlafmangel psychisch stabile Menschen in den Wahnsinn treiben. Der Bergsteiger Jeremy Wenzel beschrieb wie beim Anstieg der Südflanke des Mount Everest, etwa bei 7.000 m Höhe, ein „Jeannie“ auftauchte. Über seine rechte Schulter sah er aus dem Augenwinkel seinen neuen Begleiter den Rest des Tages immer ein paar Meter hinter sich. Später beim Abstieg verschwand Jeannie so plötzlich er gekommen war.
Psychotische Episoden bei Gesunden:
- Erfahrungsbericht: Der „dritte Mann“
- Video: High altitude psychosis: https://www.youtube.com/watch?v=T4jz_Vf_MSs
- Hüfner (2017). Wir fanden „dass es eine Gruppe psychotischer Symptomen, die zwar mit der Höhe zusammenhängen, jedoch weder auf ein Höhenhirnödem noch auf andere organische Faktoren wie Flüssigkeitsverlust, Infektionen oder organische Erkrankungen zurückzuführen sind … Soweit bekannt, verschwinden die Symptome vollständig, sobald die Alpinisten die Gefahrenzone verlassen und vom Berg absteigen. ..“
- „Climbing Mt. Everest .. After leaving .. a strange feeling possessed me that I was accompanied by another … The “presence” was strong and friendly. In its company I could not feel lonely, neither could I come to any harm, it was always there to sustain me on my solitary climb up the snow covered slabs. Now as I halted and extracted some mint cake from my pocket, it was so near and so strong that instinctively I divided the mint into two halves and turned round with one half in my hand to offer it to my “companion.” (Windsor, BMJ 2008)
Versuche, frühe Menschen zu verstehen
Die moderne Menschheit entstand vor vielleicht 300.000 Jahren. Vor 200.000 Jahren wanderten dann die robusten Neandertaler nach Europa.
Die ersten Homo-sapiens Menschen folgten vor etwa 150.000 Jahren (Callaway 2018, Hublin 2017). Aber erst vor 60.000 Jahren ein wanderte eine größere Zahl ein. Vor 40.000 Jahren entstanden die ersten Siedlungen von Homo sapiens in Europa, vor 30.000 Jahren emigrierten die Vorläufer der Aborigines nach Australien, und vor 15.000 Jahren wanderten die ersten Einwanderer nach Amerika.
Erinnerungen an solche sehr unterschiedlichen Migrationswellen, die zu starken Vermischungen untereinander und mit anderen Frühmenschen führten, tragen alle Menschen in Ihren Erbstrukturen (Gibbons 2017a, Gibbons 2017b , Nobelpreisträger Pääbo)
So beeinflussen die 2–3 % der Erbmasse, die von Neandertaler stammen, bei Europäern und Asiaten u. a. den Stoffwechsel und die Regulation des Körperfettes, und bringen u. a. ein Risiko für bestimmte psychische Erkrankungen mit sich. Afrikaner tragen keine Neandertaler Gene, möglicherweise aber Gene anderer Früh-Menschen, die bisher nicht bekannt sind.
Der Gehirnschädel von Homo sapiens hat sich seit mehr als 50.000 Jahren nicht mehr anatomisch verändert, aber die Art, wie sein Inhalt genutzt wird, muss, rasante Wandlungen durchlaufen, und zu merkwürdigen Geisteszuständen geführt haben.
Die Psyche früher Künstler
Symbolisch darstellende Kunst kam nicht erst mit Homo sapiens nach Europa. Schon die Neandertaler beschäftigen sich „mit dem Jenseits ihrer Vorstellungen“. Sie sollen auch in der Lage gewesen sein, Höhenkunst zu erschaffen. Möglicherweise hinterließen sie vor 64.000 Jahren Linien in spanischen und französischen Höhlen, Handabdrücke, rote gefärbte Muster und symbolische Zeichen.
Wenn aber bereits Neandertaler in der Lage waren, sich symbolisch auszudrücken, müssen die Ursprünge von Sprache, menschlicher Wahrnehmung und Denkvermögen hunderttausende von Jahren zurückliegen. (Hoffmann 2018)
Die Bedeutung der Totenrituale nahm bei Homo sapiens (gegenüber den Neandertalern) deutlich zu: Verstorbene wurden sorgfältiger gebettet und erhielten erstmals Grabbeigaben. Gleichzeitig mit dem Auftreten der frühen bildenden Kunst wurden auch Musikinstrumente erfunden: einfache Flöten und Harfen aus Knochen und Sehnen. Und begleitend zu Musik, Rhythmus und Tanz entwickelten sich Modifizierungen der wahrgenommenen Realität, die in der Malerei und der plastischen Darstellung auch visuell vermittelt werden konnten.
Im Gegensatz zu Neandertalern, die nur in sehr kleinen Gruppen umherzogen (Bergström 2017, Prüfer 2017), lebten Homo sapiens Menschen in relativ großen Stammes-Netzwerken.
Der Kit, der die Homo sapiens-Verbände zusammenhielt, spiegelt sich in den ersten Menschen-Darstellungen, wie der elf Zentimeter kleinen Venus von Willendorf, deren Mütze oder Frisur dem Typenkopf der ebenfalls ausgestorbenen Kugelkopf-Schreibmaschine ähnelt. Wie auch bei der wesentlich älteren, kopflosen Venus von Hohefels und anderen frühen Frauen-Figuren wird die Betonung großer Brüste, eines ausladenden Beckens und eines gewölbten Bauches rituell bedeutsam gewesen sein. Vielleicht als Mittel Auslösung rauschhafter Erinnerungen für Helden. Die sich angesichts ferner Belohnungen, in eine nahe Todesgefahr begeben mussten.
Kunst: Magisches Mittel zur Macht
Der Psychologe Nicholas Humphrey verglich die Kunst von Höhlenmalereien mit den Zeichnungen eines autistischen Mädchens (mit gestörter Koordination der Großhirnhälften). Er fand erstaunliche Parallelen: einen starken Naturalismus, das Erfassen von Bewegung bei gleichzeitiger Tendenz, einzelne Teile zu betonen.
Die Existenz von Höhenzeichnungen darf seiner Meinung nach nicht als Beweis für die Existenz moderner Gehirne gedeutet werden. Sie können auch von Menschen erschaffen worden sein, deren (vielleicht unbewusste) Geisteszustände sich von heute normal-gesunden Geisteszuständen stark unterscheiden. Die von Humphrey beobachtete Nadja z. B. war nicht sprachfähig: Sie konnte die Zeichnungen, die sie erstellte, nicht benennen. (Humphrey 1998)
Der Hirnforscher Ramachandran beschrieb acht Prinzipien, die den Reiz eines zweidimensionalen Bildes ausmachen. Das Wichtigste sei „Unwesentliches weggelassen und Wichtiges überhöhen“. (Ramachandran 1999)
Das für eine bestimmte Situation Entscheidende erstrahlt damit stärker, als es in der Realität möglich sein könnte. „Rot sehen“ bedeutet daher nicht, die Realität so wiederzugeben, wie sie ist, sondern bedeutsame Signale zu verstärken und zu modifizieren. (Humphrey 2009)
Mehrdimensionale Realitäten werden in zweidimensionale verwandelt und in den ZuschauerInnen entsteht wieder die Illusionen vieler Dimensionen, die aus sicherer Distanz betrachtet werden. Die Macht der Schamanen bestand u. a. darin, in anderen Menschen (sonst nicht sichtbare) Wirklichkeiten zu erzeugen, zu beeinflussen und zu bannen, und so deren Spüren, Fühlen und Denken zu beherrschen.
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Humphrey und Ramachandran kamen auch die Archäologen Jean Clottes (s. u.) und David Lewis-Willams, die archaische europäische und jüngere Höhlenzeichnungen der San in Südafrika zueinander in Bezug setzten. Beide interessierten weniger die Fragen, „Was“ (Beschreibung), „Wann“ (Chronologie), und „Wie“ (Techniken) Kunst entstand, sondern vielmehr „Warum“ (in welchem Sinn-Zusammenhang).
Möglicherweise drücken sich Menschen in vergleichbaren Geisteszuständen ähnlich aus. In ihren Vergleichen fanden Williams und Clottes in zeitlich und räumlich auseinander liegenden Kunstwerken, Indizien für das Gleiche: Visionäre Verzerrungen, stilisierte Formen und Muster, die für psychotische Zustände sprechen. Schamanen suchten solche Zustände veränderter Realitätswahrnehmung bewusst auf. Sie tauchten in Welten ein, in denen sich das Alltags-Bewusstsein verlor. Sie versetzten sich durch Rituale, Tänze oder Halluzinogene in Trancezustände und irrten dann durch das unsichtbare Paralleluniversum. Anschließend versuchten sie das, was sie dort erlebten, durch künstlerisches Schaffen oder prophetische Erzählungen wiederzugeben. Archaische Kunstformen seien also Zeugnisse schamanistischer Ausdrucksweisen oder psychotischer Zustände. Bei modernen Menschen läge die Schwelle zur Psychose-Auslösung nur etwas höher.
“The diversity of subjects represented demonstrated indeed a general stage of mind,
and not a search of a particular animal or theme.“ Clottes 2016
Das Risiko für Psychosen wird durch das Erleben psychologischer Traumata erhöht. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens psychotischer Störungen lag bei Flüchtlingen in Schweden 66 % höher als bei Migranten aus ähnlichen Regionen, die aber nicht geflüchtet waren. Und sie waren bei Frauen wie bei Männern etwa 3-4 mal so hoch wie bei Personen, die in Schweden geboren wurden. Ausgelöst wurden diese Störungen möglicherweise durch psychologische Traumata, Missbrauch, Gewalt, sozioökonomische Probleme, Stress, Unsicherheit, Diskriminierung und soziale Isolation. (Hollander 2016)
Mehr zu Kunst
Wahnsinn und Macht
„… die Liebe zur Macht ist der Dämon des Menschen.“ Nietzsche
Irre-sein wird durch Stress ausgelöst
Trance ist ein Notfallprogramm. Aktiviert wird es in dramatischen Situationen, wenn rationales Denken, empathisches Fühlen oder friedliches Miteinander-reden wirkungslos zu sein scheinen. Dann hilft nur noch „Alles oder nichts“: entweder der unausweichliche Selbstmord oder ein (wenn auch unwahrscheinlicher) Sieg.
So spülen ausweglose Krisen immer wieder „durchgeknallte Exzentriker“ an die Macht, die sich für Gott halten.
Wenn „Psychotiker“ in ihrer Raserei riesige Reiche zerstören und damit die Grundlage für neue Machtstrukturen legen, erhalten sie den Beinamen „der Große“. (Alexander, Qin Shihuangdi, Dschingis Khan,
Lässt man gestörte Persönlichkeiten (Hitler oder Napoleon) nur lange genug wirken, ziehen sie ihre eignen und viele andere „Untertanen“ in bodenlose Abgründe.
Ist Krieg ein Symptom psychischer Krankheit?
Kriegstreibende Dynamik beruht auf raubtierartigen Industrie- und Militärinteressen. Die jeweiligen „roten Knöpfe“ finden sich häufig in der Reichweite kranker Persönlichkeiten, die für rationale oder fühlend-empathische Hirnprogramme wenig zugänglich sind.
Was in solchen psychisch labilen Macht-Menschen vorgehen mag, wurde von dem Psychologen und Psychotherapeuten Hans-Jürgen Wirth sehr detailgenau untersucht und beschrieben:
Sie sind in ihrem Wesen schwach, und gerade deshalb hochaggressiv. Gäbe es eine Möglichkeit, ihnen so viel Sicherheit zu bieten, dass sie es wagen könnten, mehr „zu sich zu kommen“, würden sie vielleicht friedlicher werden, weil sie sich mehr um ihre eigentlichen Bedürfnisse kümmern könnten.
Diktatoren begeben sich nicht in Verhaltenstherapien. Sie empfinden sich nicht als krank, sondern eher als gottähnlich.
Mehr: Kriegsphilosophie
Trance beruhigen
Menschen in Trance sind weder für rationale Argumente noch für Gefühle, noch für übergeordnete Gesetze zugänglich. „Gegen“ Trance vorzugehen, ist (sofern man den anderen nicht erschlagen will) das Dümmste, was man tun kann, weil es den Stress verstärkt, der Trance auslöst.
Wirksamer wäre es, labile Persönlichkeiten zu beruhigen. Dazu müsste man ihnen zweierlei signalisieren: dass sie weiterhin in ihrem jeweiligen Bereich die „Größten“ bleiben dürften, und sich gerade in relativer Sicherheit befänden.
Es ist bei einem therapeutisch-wirksamen Verhalten angesichts von Wahnvorstellungen nicht nötig, auf die jeweiligem Wahngebäude einzugehen. Es reicht meist völlig aus, die irren Lebenswelten freundlich-distanziert so anzunehmen, wie sie eben sind.
Dann kann man beginnen, miteinander (in einer Kampfpause und in vorübergehender Sicherheit) Tee zu trinken. So entstehen später Räume, in denen man ohne Trance kommunizieren kann: Mit Gefühlen oder mit Rationalität.
Amok
Oft ereignen sich Amok-Phänomene in Gruppen, die sich im Wahn einem höheren Ziel verbunden fühlen. Oder die nur einfach gemeinsam besoffen sind. Aber gelegentlich knallen auch vereinzelte Eigenbrötler durch, und reißen aus Frustration und Hass viele Unbeteiligte in den Tod.
Diese einsamen Wölfe scheinen im Stress neben sich zu stehen. Vielleicht erleiden sie einen Ich-Verlust und hören befehlende Stimmen, die sie in ihrer Raserei lenken:
- Im Juli 2011 ermordete Anders Breivik in Norwegen siebenundsiebzig Menschen. Er glaubte auserwählt zu sein, um das Christentum vor der Islamisierung zu retten.
- Im März 2015 starben beim Absturz des German Wings Fluges 9525 alle einhundertfünfzig Insassen. Der Co-Pilot Andreas Lubitz sei depressiv gewesen, sagt man.
- Im Juni 2016 erschoss Omar Mateen neunundvierzig Menschen in einem Nachtklub in Orlando. Möglicherweise, weil er Menschen anderer sexueller Orientierung hasste oder religiösem Fanatismus verbunden fühlte.
- Im Juli 2016 ermordete Mohamed L. Bouhlel mit einem Lastwagen über vierundachtzig Menschen während einer Festveranstaltung an der Uferpromenade. Er war bisher nur als Kleinkrimineller aufgefallen, und seine Motive blieben zunächst unklar. Der Spiegel vermutete, „er könne auch psychisch krank gewesen sein„.
Sind Amokläufer psychisch krank oder normal-zurechnungsfähig?
Natürlich ist es nicht gesund, die Kontrolle über sich zu verlieren und in Hassattacken viele andere zu töten. Aber ebenso natürlich sind solche Menschen in der Regel voll verantwortlich und schuldfähig, weil es bei ihnen zuvor meist klare Momente gab, in denen sie das, was sie taten, nüchtern planten.
Archaische Menschen, die plötzlich durchdrehen, randalieren oder toben und dabei ggf. andere umbringen, waren früher vielleicht einmal für das Überleben steinzeitlicher sozialer Gruppen nützlich. Zum Beispiel, wenn:
- angesichts einer Übermacht von Feinden das eigene Leben im Interesse der Selektion der Sippe keine Bedeutung mehr besaß, oder
- ungeachtet der eigenen Risiken andere aus höchster Gefahr gerettet oder auch gerächt werden mussten.
Indonesier nennen solchen anfallsartartigen, gewalttätigen Irrsinn meng-amok oder meng-amuk. Ein ähnliches Verhaltensmuster, das Latah genannt wird, ist in Südostasien verbreitet. Dabei wird jemand, „der von einem Tiger erschreckt wird selbst zum Tiger“. D. h. er schreit und greift einen übermächtigen Feind so kompromisslos an, dass dieser, seinerseits erschreckt, wegläuft. (Winzeler 1995)
Kulturell anders ausgeprägt, aber diesen Geisteszuständen sehr ähnlich, sind u.a.
- Grisi Siknis (Miskitos/Nicaragua)
- Chakore (Panama oder „Mala de pelea“ in Puerto Rico)
- Tinku (Aymara)
- Pibloktoq (Inuit)
- Koro (Asien)
- Kavadi Attam (Tamil Nadu)
- Datuk Chachar (Malacca)
In der afrikanischen Sprache Swahili nennt man Besessenheitszustände Uchawi (Sihiri, Ulozi). Gemeint sind damit unterschiedliche Formen von Trance, die europäisch-abwertend meist als Hexerei übersetzt werden.
In mir lösten die ersten hautnahen Begegnungen mit Uchawi um 1980 helles Entsetzen aus. Besonders, wenn ich als Arzt anschließend eine Leiche begutachten musste. Meine Ängste steigerten sich noch, als mir dämmerte, dass jeder Mensch, so auch ich, zu diesem „schrägen“ (oder besser) archaischen Verhalten fähig sein könnte.
Je länger ich dann in anderen Kulturen lebte, erschien mir die übliche Klassifizierung dieser Zustände als „kulturgebundene Symptome“ (culture bound syndromes) als Obelix-Beruhigung: „Die anderen spinnen!“
Mich interessiert, was den Wahnsinn ausgelöst:
- Wäre es möglich gewesen, frühzeitig zu helfen?
- War es ein Einzelfall oder ein gesellschaftliches Symptom?
- Oder steckt gar ein übergeordneter organisierter Irrsinn dahinter?
Amok als Symptom
Reflexartig wird bei Terrorereignissen in den präsidialen Botschaften ein äußerer Feind fantasiert, mit dem man sich im Krieg befände, und den es zu besiegen gälte. Bei organisiertem, ideologischen Massenwahnsinn mag diese Ansicht vielleicht noch einen rationalen Kern enthalten, bei individuellen Einzeltätern, die bisher nicht oder wenig aufgefallen waren, ergibt sie keinen Sinn.
Gerade solche Einzeltaten zwingen dazu, das Schreckliche als ein Symptom einer Krankheit zu betrachten, die einen gesellschaftlichen Zusammenhang betrifft. Die vom Terror Bedrohten sind deshalb nicht schuld, aber sie und ihr Verhalten sind sehr wohl Teil eines Problemzusammenhanges, den sie beeinflussen könnten.
Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen wird rasant nach einem äußeren Feind gesucht, der isoliert, bekämpft und vernichtet werden müsse. Dazu sind kurzzeitig Antibiotika, Chirurgie und Chemotherapeutika auch sehr nützlich. Sie allein aber heilen nicht. So wie immer mehr Polizei und Kampfeinheiten nicht für sozialen Frieden sorgen.
Bei Heilungsprozessen ist es mindestens ebenso nützlich, dass ein offensichtlich gestörter psychisch-körperlicher Prozess wieder zu seinem Gleichgewicht zurückfindet. Dazu sind die wichtigsten Voraussetzungen, mit der Problem-Löse-Trance des Vernichtens kurz aufzuhören, und die Situation so zu betrachten und anzunehmen, wie sie eben ist.
- War es etwa Zufall, dass gerade eine französische Stadt getroffen wurde, in der besonders viele Super-Reiche ihr Leben genießen, und gleichzeitig andere in hoffnungslos abgehängten Stadtteilen hausen, die aufgegeben wurden?
- War es ein Angriff auf die französischen Werte „Egalité, Fraternité und Liberté“ oder sind „Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit“ in der modernen Marktgesellschaft inzwischen völlig sinn-entleert?
- Gibt es eine Vision, die alle Menschen im Land begeistern könnte, oder geht es im reichen Europa nur noch darum, den Reichtum zu erhalten und abzuschotten und die Massen durch Medien und Events und Konsum abzulenken?
Der terroristische Albtraum löst natürlich Gefühle wie Panik, Ausgeliefert-sein und Schutzlosigkeit aus, die nach Sofortmaßnahmen schreien. Die immer neuen Bekämpfungsstrategien bringen aber ihrerseits polizeistaatliche Gefahren mit sich, und erzeugen vielleicht sogar neue Attentäter.
Es wäre also wichtig (mindestens zugleich) in einen qualitativen Umbau der Gesellschaft zu investieren. In gesellschaftliche Ziele, die „Egalité, Fraternité und Liberté“ wieder mit Sinn erfüllen. Und in eine menschliche Gesellschaft, die sozial und ökologisch nachhaltig und friedvoll gedeiht.
Dazu müssten die bisher vorherrschenden, rein Markt-wirtschaftliche Wachstumsziele langsam abgelöst werden durch Visionen, wie Menschen aller sozialen Schichten, Religionen und Kulturen, friedlicher zusammenleben könnten.
In Frankreich dagegen soll jetzt angesichts der neuen Terrorgefahr eine Milz mobilisiert und bewaffnet werden. Warum werden dort nicht tausende Sozialarbeiter:innen, Hebammen, Berufsausbilder:innen, Lehrer:innen, Kinderpädagog:innen u.v.a. rekrutiert, damit die Entwicklungschancen für Kinder verbessert und die ausgestoßenen Erwachsenen wieder in die Gesellschaft zurückfinden können?
Massen-Trance
Trance ist sehr nützlich. Als eine Art 4-Wheel-Drive des Gehirns, der normales Denken abschaltet, damit in Notsituationen konsequent gehandelt wird. Weil alles Erinnerte widerspruchslos abläuft, bis die Gefahr gebannt ist.
In Trance lösen sich Ich- und Zeitempfinden im Gemeinschaftsgefühl auf. Stress, Schmerz und Zweifel verschwinden, in einer absoluten Verschmelzung mit dem, was gerade geschieht. Alltags-Logik und Moral werden aufgehoben, und es scheint möglich zu sein, mit dem Kopf durch eine Wand zu rennen.
Dieses Empfinden ist (vor der Wand) so schön, dass viele gerne und oft Alkohol oder Drogen in sich einfüllen, damit solche Zustände leichter ausgelöst werden.
Trance kann Leben retten
Ein bergsteigender Arzt beschrieb, wie (in großer Höhe am Mount Everest) Jimmy zu ihm stieß und ihn beruhigte. Er werde es schon schaffen. Tatsächlich auf dem Gipfel angekommen, bestaunten dann beide das, im wahrsten Sinne des Wortes, atemberaubende Panorama. Und machten sich anschließend an den gefährlichen Abstieg, bei dem die meisten Himalaja-Gipfelstürmer zu Tode kommen. Als das Schlimmste dann überstanden schien, verabschiedete sich Jimmy wieder und verschwand. (Windsor 2008)
Ohne seinen Jimmy wäre Dr. Windsor vielleicht umgekommen, und niemand hätte dann etwas von ihm und seinem Begleiter erfahren.
Massen in Trance können verwüsten
Hochriskant und lebensbedrohlich wird es, wenn viele Menschen gemeinsam in eine „Jimmy-Trance“ verfallen. Etwa, weil sie so „wahnsinnig gut drauf sind“, wie bei einer Massenparty, oder vor sich, nach einem Fußballspiel, plötzlich viele Feinde erkennen.
Dann ist es nötig, dass kluge, nüchterne, vorausschauend und rational-denkende Polizeikräfte besonnen handeln, und den Wahn in geordneten Bahnen und Fluchtwegen führen. Sonst kommt es leicht zu Katastrophen wie 2010 bei der Love-Parade in Duisburg oder im September 2015 in Mekka.
Noch gefährlicher wird es bei einer Massen-Hypnose, bei der die Ordnungshüter, die eigentlich beruhigend lenken und leiten sollten, an der Spitze „ihrer Lemminge“ selbst auf einen Abgrund zu rennen. Alexander der Große war darin ein Spezialist.
Oder noch schlimmer, wenn sie, selbst ganz ohne Trance und sehr berechnend-rational, ihre Wahn-Gemeinde anfeuern, weiter in die Irre zu laufen. Damit sie von deren Massen-(selbst)-morden profitieren können. Berglemming (Wikipedia)
Massen-Wahn-Phänomene gehören eindeutig zu den menschlichen (irren) Verhaltensweisen. Sie haben mit den possierlichen Lemmingen nichts zu tun. (Chitty 1996)
Ich bin groß. Und ich enthalte vieles.
I am large! I contain multitudes! Walt Whitman.
Mehr
Literatur
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- Allocation attention – isolating a singel cue: Etwas heraus-isolieren, etwas betonen
- „Aha!“ sensation, perceptional grouping: Eine Gestalt in Betrachter entstehen lassen.
- Extraction of contrast: Kontraste (Linien, Flächen, Farben) verstärken
- Puzzle-Problem solving: Im Betrachter etwas entstehen lassen, was im Bild nicht ist.
- Abhorrence of suspicious coincidences: Abscheu unnatürlich-regelmäßiger „Zufalle“
- Metaphors of Art: Bild steht für einen Sinnzusammenhang
- Symmetry: Ausgewogenheit – alles gesund-lebende erscheint symmetrisch.
- Schleicher H: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren: oder Anleitung zum subversiven Denken, Beck 2004
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