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10. März 2023

Religion, Wahrheit, Gesetz

Das Dogma des Glaubens an „Die Wahrheit“ ist relativ jung.

Reine Wahrheit
Einige Spielarten der Wahrheit: Gesetz (Legalismus in Rom, Qin-China), Wissenschaft (Aristoteles: Epistheme), politische Ideologien, Religionen mit externem Gott (Urformen: Echenaton, Zarathustra, Kybele, Mithras, Veden) und ohne Gott (Buddha, Jain, Monismus, Dao) und die vielen Mischformen aus allem, die zur Massenbeeinflussung oft mit Tranceauslösung vermischt werden.

„Ego te placebo (Ich werde dir gefallen und dich beruhigen) lautet die einzig sichere Verheißung der Religionen“. Lütkehaus (1943-2019)

Steinzeit: Alles war eins.

Alles drehte sich in einem ewigen Zyklus des Werdens und Vergehens. Die Religionen der Früh-Menschen boten ihnen eine innere Stütze: Sie hörten in Träumen oder in Besessenheit Stimmen, die ihnen konservativ befahlen, was nach Stammessitte zu tun sei.

Götter waren wichtige Ahnen, die in Erzählungen verherrlicht wurden, und später übernatürliche Kontrollinstrumente zunehmend großer Gemeinschaften. Hypothese der übernatürlichen Überwachung und Kontrolle. Und schließlich folgten die moralisierenden (dogmatischen) Götter vermehrter sozialer Komplexität. (Norezaran 2015, Whitehouse 2019)

Götter waren keine Voraussetzung für die Entwicklung der sozialen Komplexität, aber sie konnten helfen, komplexe multiethnische Reiche zu erhalten und zu erweitern, nachdem sie sich etabliert wurden.

Die Religion der Jäger und Sammler: Alles ist eins und der Mensch ist ein schwacher Spielball. Graphik Jäger

Nach der bäuerlichen Revolution und der zunehmenden Stadtgründungen, vor vielleicht 10.000 Jahren, herrschten Priester mit Trance-Ritualen und Kulten der Bessenheit. Sie hörten die Befehle ihrer Götter in sich, und konnten diese inneren Stimmen hören und verstehen.

Vor etwa zwei- bis dreitausend Jahren (in wirren Kriegszeiten) begann das schleichende Gift des skeptisch-kritischen Selber Denkens die Macht der Trance zu zersetzen. Die Menschen hörten nicht mehr auf ihre inneren Stimmen und begannen sich (an sich selbst denkend) gegen Tabus zu versündigen. Die alten Besessenheitkulturen erwiesen sich als unfähig große, multi-ethnisch zusammengesetzte Massen zusammenzuhalten, die (mit Ausnahme ihrer Propheten) „in sich“ keine Götter mehr hören konnten. Die neuen gottlosen Kulturen egoistischer Tyrannen und Heerführer flößten ihren ausgebeuteten Untertanen kein Vertrauen ein, und wurden daher von den wenigen Propheten, die noch Stimmen hörten, zu Hölle verdammt.

Die Religion der seßhaften Dörfler und Städter: Die Zukunft führt in die Vergangenheit und von dort wieder in die Zukunft. Das Schicksal ist (durch Priester) beeinflußbar. Graphik Jäger

Die vor 2.500 Jahren aufkommenden Großreiche verlangten aber einer vereinigenden Ideologie, die die ehemalige Macht der inneren Stimmen, die nahezu gänzlich verstummten, zu ersetzen. Daher musste die Psyche der Abhängigen von außen eingerüstet und stabilisiert werden: entweder durch Gesetze, oder einen externen Gott, oder durch allgemein verbindliche Regeln des Zusammenlebens.

Und so wuchsen Systeme externer Wahrheiten, die selbst den Mächtigen, den Reichen und den Herrschenden übergeordnet waren.

Diese äußeren Gerüstsysteme der Psyche erwiesen sich in der Evolution als äußerst erfolgreich:

„A lot of religion seems to be contradictory,
but it is all true depending of your level of understanding.“
Daoistisch

Trennung von Gott und Welt

Moderne Religion und lineares Denken. Graphik Jäger

Der Buchstabe ist nicht der Geist,
und die Bibel ist nicht die Religion.
G. E. Lessing, 1729-1781

Der erste, der einen externen äußeren Gott erkannte und verehrte, war Echen-Aton (Amenophis IV, um 1.300 v.u.Z). Er erklärte den Priestern der bis dahin herrschenden Bessenheits- und Muttergottes-Kulte den Krieg. Folgerichtig wurde er später als Ketzer aus der Liste der Pharaonen gestrichen. Seine revolutionäre Ideologie lebte weiter bei den Sklaven, die sie dann nach einer Fluchtaktion aus Ägypten weiter verbreiteten.

Ur Religionen
Vier Ur-Religionen: Zoroaster, Echenaton, Mutter-Gottes, und die chinesischen Essigkoster (Konfuzius, Buddha, LaoTse)

Vielleicht zeitgleich (oder auch Jahrhunderte früher oder auch später) dokumentierte Zarathustra in Baktrien (heute nord-Afghanistan) die Wahrheit als ein Gutes, das sich vom Bösen abhebt. Er schuf eine ideale Geisteshaltung für eine imperiale Kriegsmaschine, und eine Ideologie, von der bis heute noch alle Hollywood-Filme zehren. (Antequil 1773)

Zarathustra wollte der Barbarei der Trance (Mithras-Kult) und der Herrschaft von Willkür ein übergeordnetes, gutes Gesetz entgegensetzen. Die Reinheit des Feuers, das Symbol einer segensreichen Macht, sollte über den Menschen stehen. Auch über dem König.

Dieses eher friedfertige Denken verhalf der ersten monotheistischen Großmacht zum Durchbruch (dem medisch-persischen Großreich). (Holland 2011)

Gute Gedanken, gute Worte, gute Taten!
Ahura kommt herab zu dem, der den Armen Gutes tut
.
Zarathustra, um 1.000 (?) v.u.Z.

Die Wahrheit und die Macht des Gesetzes

Die römischen  und chinesischen Imperien gründeten sich auf dem Dogma des Gesetzes. Schlagkräftige Hierarchien aus (Militär, Beamte, Soldaten, Bauern) wurden durch starre Regeln, Moral und Rituale zusammengehalten.

Konfuzius holte in China noch den Ahnenkult, die alte schamanistische Trance, mit ins „Staats“-Boot. Und in Rom versuchte man später erfolgreich den Völkerstaat durch die Mithras-Religion, Muttergottes-Kult und schließlich das Christentum zu vereinen.

Ein Gesetz zwingt die kontinentalen Autofahrer auf die rechte Straßenseite. Auf „der Insel“ ist es genau umgekehrt. Dennoch sind beide (sich widersprechenden) Wahrheiten in der jeweiligen Örtlichkeit absolut: als heilige Regeln, gegen die zu verstoßen hart bestraft wird.

Am Anfang (des Dogmas) steht der Begriff

„Jedes Wort ist ein Missverständnis.“
  Nietzsche

Die Herrschaftsgrundlage aller Wahrheitssysteme ist das schriftlich fixierte, begrifflich-definierte Wort. Die Trennung von „Gut und Böse“. Von „Richtig und Falsch“. Das eindeutige Gesetz, der äußere Gott, die zu Ideologien geronnenen Ideen.

Dogma Überlegenheit
Überlegenheit des Dogma gegenüber der Trance-Herrschaft. Einer kleinen (von Priestern gesegneten) Mörderbande unter Pizarro gelang es ein hochgerüstetes 80.000 Mann-Heer zu besiegen, in dem man einfach dem lebenden Gott (Atahualpa) die Kehle durchschnitt. Den vom Geist besessenen Kriegern fehlte damit die innere Stimme, die ihnen sagte, was zu tun sei. In Trance wird nur in der Vergangenheit bewährtes abgespult. Dogma dagegen setzt einen (starren) Rahmen, in dem sich etwas entwickeln kann und soll.

Letztlich sind Begriffe bodenlos, denn wir können auf keinen Test zurückgreifen, der einwandfrei bestimmte, was ein Wort „eigentlich“ meint, ohne auf die Bedeutungsregeln der Kommunikation zurückgreifen zu müssen. Jedes Wort kann je nach dem Kontext, in dem es verwendet wird, vieles zum Ausdruck bringen, und ist vielfältig interpretierbar. Schließlich verwendet jede Erklärung wiederum andere Begriffe oder Methaphern, deren Bedeutungsregeln für uns ebenfalls offen und ungeklärt sind.

Seit also Worte erfunden wurden, streiten Menschen über ihre Bedeutung. Und das umso heftiger, je mehr uralt-nebelhafte Bedeutungen in modern-eindeutige Begriffe gegossen werden. Es wird bei Streitgesprächen meist vergessen, dass „alles Gesagte ist von jemandem gesagt“  wurde (H. Maturana, F. Varela). Das, was „ist“, kann nur auf bestimmte Blickwinkel bezogen sein: Begriffsdefinitionen und -deutungen sind zwangsläufig „relativ“ (zu anderen Sichtweisen und Grenz-Ziehungen).

Nur das Dogma (irgendeiner Kirche) stellt sie dar als unzweifelhaft und absolut.

Die Wahrheit verkündet klar und eindeutig, was zu tun ist.

Abweichung wurde betraft, Trance für ideologische Zwecke missbraucht, Eros unterdrückt und die Emotionen beherrscht. Die Belohnungen dieser Art des Seins waren und sind Ordnung, Klarheit, konsequent einfache Reduzierung der Komplexität (der Realität), und die betörende Schönheit eines steuerbaren Glaubens-Modells.

„Grau, teurer Freund, ist alles Leben, und grün der goldne Baum der Theorie.“
Mephisto in Goethes Faust – religiös verdreht

Mit der Konstruktion der reinen Wahrheit hatte das fröhlich-kritische Denken der Vorsokratiker ein Ende (Popper 1998, Rovelli 2019). Die Welt war nun berechenbar, beherrschbar, sicher und stabil. Alle seither entstandenen Dogmen, Wahrheiten und Rituale halten effektiv große Menschenmassen und Hierarchien mit alternativlosem Glauben zusammen. Sie isolieren nach außen oder zähmen nach innen, all ihre Untertanen, die theoretisch zu aufrührerischem Denken fähig wären.

Diejenigen, die sich ideologisch nicht unterordnen wollen, wurden und werden als Heiden, Feinde und Ketzer gnadenlos verfolgt, unterdrückt und ermordet.

Da allen Wahrheiten etwas Gewalttätiges innewohnt („die Bekämpfung der Un-Wahrheit“) hat es sich in vielen späteren Kulturen als sinnvoll erwiesen, intern für eine „Gewaltenteilung“ zwischen den Wahrheitssystemen zu sorgen (Gesetz, Kirche, Staat).

Wo Politik, Wahrheit, Gesetz und Gott zu einem einzigen System verschmelzen, leben Menschen, die (im Stillen) noch selber zu denken versuchen, sehr gefährlich.

„Der Begriff „Gott“ erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben … Der Begriff „Jenseits“, „wahre Welt“ erfunden, um die einzige Welt zu entwerten, die es gibt … Der Begriff „Seele“, „Geist“ .. „unsterbliche Seele“ erfunden, um den Leib zu verachten … Der Begriff „Sünde“ erfunden samt dem zugehörigen Folterinstrument … der Begriff „freier Wille“, um die Instinkte zu verwirren, um das Misstrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen.“ Nietzsche (2)

„Du sollst ‚denken“!“ verstehen Kinder ab dem Kasperle-Alter.

Wahrheiten, Regeln, Gesetze, Dogmen, Ideologien sind kulturell unterschiedlich ausgeprägt. Sie werden erst ab dem vierten Lebensjahr erworben. Die feste Überzeugung an die Macht eines Modells der Realität, das von Experten (Lehrern, Juristen, Priestern, Meistern …) beherrscht wird, schafft Vertrauen, das Richtige zu tun. Der Sinn des „Lernens ohne etwas zu fühlen“ ist es, anschließend etwas „fest zu glauben“, oder etwas „sicher zu wissen“. Es stabilisierte ein Gedanken-Modell in einer in Wirklichkeit unsicheren, wandelbaren, unberechenbaren, zufälligen Realität.

Sünde
Sünde: Erotik, Heiden, Denker oder andere Dogmatiker

Die indoktrinierende Erziehung beginnt im Kindergarten, Schule oder im Religionsunterricht und sorgt für die Kontrolle über die anderen menschlichen Kommunikationsformen:

Fröhliches Ballspielen findet dort, wo die Straßenverkehrsordnung gilt, ein jähes Ende.

Gesetz, Moral und Glaube führen später zwangsläufig zu Konflikten, mit den eigentlichen, menschlichen Bedürfnissen („Romeo und Julia“).

„Genauso ist es!  Und nicht anders!“

Nach dem kurzen Intermezzo der Skepsis, die die Legitimation der inneren Götter beseitigt hatte, musste zwangsläufig eine neue Kommunikations-Form für Untertanen und Herrscher entwickelt werden, um Staaten, Armeen und Reiche zusammenzuhalten.

Die Verkündung von Dogmen geschah, als die Zahl der Menschen anstieg, die innere Stimmen und Wahrheiten in Trance nicht mehr wahrnehmen konnten (Weil interne Großhirnhälften-Kommunikation störungsfreier ablief). Damals als die skeptischen, „demokratischen“ Debattierer oder egoistischen Tyrannen daran scheiterten, große Staatsgebilde zusammenzuschweißen.

Dogma ist nicht nur blutrünstig.

Gesetze und Recht sind, ebenso wie die ethischen Prinzipien der Weltreligionen, in einer zunehmed komplexen Welt unverzichtbar für positive Entwicklungen.

Sie sind die Basis des Aushandelns und Vereinbarens von Regeln, die einzuhalten sind, damit friedvolle Entwicklungen gesichert werden. Das Gedeihen jeder Gemeinschaft braucht einen Schutzraum.

Es ist eben beruhigend zu wissen, dass sich Autofahrer an Geschwindigkeitsregeln halten, und bei Rot stehen bleiben werden. Und ein Dogma (wie „ein Mensch darf nicht getötet werden“) ist sehr nützlich, ebenso wie die Repressionen, wenn man gegen es verstößt.

Ohne Dogmen, Begriffe oder „das Wort“, das etwas von etwas anderem trennt, gäbe es (außer der Zusammenarbeit im direkten Kontakt) keine Möglichkeit, von anderen zu lernen.

Am Anfang war das Wort. 
Alles ist durch das Wort geworden
und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.
Johannes, Kap. 1, Vers 1, um 100 n.u.Z.

Johannes irrte

Das begriffliche Wort stand sicher nicht am Anfang der Entwicklung der menschlichen Kommunikationsformen. Und begrifflich-lineares Denken kennzeichnet möglicherweise auch nicht das Ende der psychischen Evolution des Homo sapiens.

Links zu weiteren Artikeln

Literatur

Letzte Aktualisierung: 22.11.2023