10. November 2022

Religion: Über- & Ausblick

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Dietrich Bonhoeffer

Inhalt

  • Auslaufmodell oder Renaissance?
  • Macht zur Unterdrückung der Psyche
  • Covid-19 und Religionskrieg

Andere Artikel

Auslaufmodell oder Renaissance?

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Clodwig Poth: Das Religion-Hassblatt. Poth zeigt die furchtbare Seite der Religionen: den todbringenden Terror und die mentale Versklavung. Die andere Seite der Religionen: Ruhe, Integration, Ordung und „gute Ethik“ wird dabei vergessen.

Religiöse Wahrheit ist sehr jung

Tiere kennen keine Wahrheit. Sie fügen sich ein, in das, was sie umgibt und bestimmt. Die Welt ist für sie einfach so wie sie ist.

Die Vorstellung, etwas sei unabhängig von einer persönlichen Sicht „wahr“ hat sich im Rahmen der menschlichen Evolution erst allmählich entwickelt. Und sie hat zu Überlebensvorteilen geführt. Möglicherweise stabilisierte diese Idee den Zusammenhalt immer größerer sozialer Gruppen. Und senkte das Risiko für Gewaltakte innerhalb des Sozialverbandes. (Boyer 2002, 2008).

Schon vor 40.000 Jahren konnten sich Neandertaler und ihre afrikanischen Zuwanderer (Homo sapiens) bei ihren  Beerdigungszeremonien vorstellen, dass sich hinter der sichtbaren Welt eine weitere verbergen könnte. Warum sonst hätten sie sich um einen Verstorbenen kümmern sollen?

Mammutjäger und Stammesmütter kannten noch keine (aussenstehend-existierende) Wahrheit. Sie beherrschten zwar die Natur mit ihrem Feuer, handelten sozialen Rollenbildern und folgten den Tabus und Befehlen. Sie hörten (im Stress oder im Traum) innere Stimmen, die sie Geist, Ahne oder Gott nannten. Sie waren besessen und konnten nicht gut zwischen einem selbstständigen „Ich“ und der Erinnerung an Trance-Befehle unterschieden. Heute würde man diesen Zustand der Ich-Schwäche als Psychose bezeichnen. Noch vor 4.500 Jahren (im Gilgamesch Epos oder vor 3.000 Jahren in der Ilias war der (psychische) Entscheidungsspielraum der Menschen sehr schwach: Ihre Tun war noch eindeutig von befehlenden Hirn-Programmen dominiert (die Ich-Programmen antagonistisch gegenüberstanden). Diese inneren Trance-Götter, für die besonders Schaman*innen und Prophet*innen anfällig waren, intervenierten oft egomanisch, brutal, willkürlich, rachsüchtig, unberechenbar, bösartig, gemein-gefährlich und eifersüchtig, und mussten beschwichtigt und versöhnt werden.

Uroborus: Die Schlange des ewigen Werdens und Vergehens

Menschen unterscheiden sich besonders von anderen Lebewesen durch ihre Fähigkeit, liebevolle Beziehungen einzugehen (Maturana 1996).  Dafür spricht auch, dass in Tests zum allgemeinen Denkvermögen und Erfassen von Situationen Schimpansen genauso gut abschneiden wie Kleinkinder. Ihnen fehlen allerdings Sozialkompetenzen, die bei Menschen bereits sehr früh auftreten (de Waal 2015): Schon einjährige Kinder erfassen intuitiv, was jemand denkt, wünscht oder plant, und handeln entsprechend.

Menschen sind zu intensiven Bindungen fähig, die auch dann stabil bleiben, wenn sie sich längere Zeit, vielleicht sogar Wochen oder Monate, nicht sehen. Dieses Verhaltensmuster wird unter anderem von dem Hormon Oxytocin geprägt, das u.v.a. die zwischen-leibliche Verbindung zwischen Mutter und Neugeborenem vermittelt. Aber auch nach dem Sex wird Oxytocin ausgeschüttet: wenn Paare nach einem Orgasmus in liebevoller Umarmung einschlafen. Und auch Dopamin ist wichtig für Bindungsverhalten. Dopamin vermittelt ein Belohnungs-Gefühl bevor eine Leistung erbracht wurde, von der erwartet wird, das sie zu einer Bedarfsbefriedigung führen wird. Was Lebewesen beglückt, ist also nicht die Erfüllung eines Bedürfnisses, sondern die Vorstellung ein beglückenden Zukunft. Bei Menschen kann die Dopamin-Ausschüttung schon durch die Vorstellung eines – nicht gegenwärtigen – geliebten Menschen aktiviert werden. (Sapolski 2011)

Allein ein inneres Bild eines „angebeteten“ Menschen verleiht Kräfte, die „Berge versetzen“ können (Chapais 2013). Diese grandiose Leistungsfähigkeit scheint im menschlichen Gehirn stabil und kultur-unabhängig angelegt zu sein (Porges 2007, Tomasello 2008).

Es ist nur ein kleiner Schritt von der Vorstellung, dass ein Geliebter weit entfernt kämpft und mit reicher Beute zurückkehren wird, zu dem Glauben, dass auch der verstorbene Stammesfürst nun in ewigen Jagdgründen umherstreift und sich weiterhin um seine Sippe sorgt. Zumal er den Ur-menschen weiterhin in Träumen oder verklärten Geisteszuständen erschien und sprach, ermahnte und drohte.

Besonders begabte Menschen konnten als Schaman:innen, Zauberer oder Heiler:innen das Unsichtbare deutlich erkennen und deuten, und – wenn nötig – die Stimmen der längst Verstorbenen auch in sich selbst aufrufen. Wir würden solche Menschen heute vielleicht als psychisch labil bezeichnen. Berauscht von Pilzen, Räucherwerk und Trommeln waren sie von mystischen Kräften besessen, und konnten, noch besser als die weniger Trance- Begabten, mit den Ahnen und Geistern in Kontakt traten. (Wahnsinn)

Erste klar erkennbare Göttinnen und Götter

Seit 30.000 Jahren erschufen Menschen weibliche und männliche Idole und Tiergestalten, die ihnen möglicherweise heilig waren, oder die dazu dienen sollten, das nicht sichtbare zu beschwören. Die ersten durch bleibende Zeugnisse eindeutig identifizierbaren Göttinnen und Götter sind nur 10.000 Jahre alt.

Möglicherweise lohnte es sich erst für sesshafte Bauern, einer verstorbenen Stammesmutter oder einem großen Krieger einen bleibenden Grabhügel (Zikkurrat) zu errichten, dessen Geist dann die Bewirtschaftung der umliegenden Felder beaufsichtigte. Erst dann entstand die Notwendigkeit, Symbole zu erfinden, Altäre zu errichten und Opfergaben zu erbringen.

Die vielleicht älteste Göttin, die in den ersten Städten in Anatolien (Katalhöyük, und ggf. zeitgleich in Armenien) verehrt wurde, lebt bis heute als „Mutter Gottes“ unter wechselnden Namen: Kybele, Isis, Mater ideae, Maria uva.

Im ersten großen Epos der Menschheit wird die Zivilisierung des Tier-Mannes durch die Frau beschrieben: Gilgamesch um 2.000 v.u.U. Und weiter die beginnende Epoche der Zerstörung der Natur zur Festigung menschlicher Macht. Und schließlich die endgültige Beseitigung des Eros-Herrschaft durch einen immer gott-ähnlicheren Fürsten.

Im zweiten Teil des Epos geht es dann um das Ende des „ewigen“ Kreislaufes von Werden und Vergehen. Um die Geburt einer linearen Vorstellung von einem einzigartigen Leben, das beginnt und wieder endet: Es sei denn, man fände als besonders Mächtiger ein Schlupfloch und würde (wie Gilgamesch) selbst „göttlich“.

Spätere Schöpfungsmythen (Enuma Elish u.a. um 1.700 v.u.Z.) erschufen sich starke einheitliche Volks- oder Staatsgötter, die sich den Lebenden als von Gott besessene Fürsten zeigten, durch deren Münder Gott direkt sprach und Gesetze diktierte (u.a. Hammurapi).

Sich als Auserwählte auf der Seite des jeweils stärksten Stadt-Gottes zu wähnen, brachte den ersten, blutrünstigen Staaten der Menschheit entscheidende Vorteile im Kampf mit räuberischen Nomaden, deren Götter schwächer zu sein schienen. Das starke Gemeinschaftsgefühl der Städter, die ihren allmächtigen Gott auf ihrer Seite wussten, garantierte, dass für die höhere Wahrheit alle persönlichen Interessen untergeordnet wurden.

Wenn ein großer Mann oder eine wichtige Frau starben, wurden sie zu Halb-göttern ernannt. Daher wimmelten nach wenigen Jahrtausenden in den polytheistischer Religionen zahllose Wesen, die den Menschen übergeordnet waren, sich aber allesamt sehr menschenähnlich verhielten, und die sich von ihren fernen Instanzen ständig – und oft auch launisch, bösartig und willkürlich – in das Leben auf der Erde einmischten.

Skepsis-Intermezzo

Erstmals vor 2.500 scheinen einige Menschen dazu in der Lage gewesen zu sein, kritisch selber zu denken. Ihre skeptische Sicht auf die Welt vertrieb die innern Trance-Gestalten des Aberglaubens. Das Ich-programm begann das Gehirn zu beherrschen. Die ersten kritischen Selberdenker, waren Menschen, die sich, wie Odysseus ins Chaos geworfen, irgendwie durchschlagen mussten. Sie zerstörten kindlichen Aberglauben, aber boten keinen ethischen Ersatz des sozialen Zusammenhaltes. Menschen fehlt aber meist der Mut, ohne Sicherheit, ohne Gewissheit, ohne Autorität, ohne durch ein höheres Prinzip geleiteten Führer zu leben. Und wenn die inneren Stimmen nicht mehr gehört werden konnten, oder nichts mehr mehr zurzeit Passendes zu sagen hatten, wie bei uva. bei den Mayas, Osterinsulanern oder Inkas zerfielen die Reiche.

Skepsis bedeutete, ohne Ahnen, Götter und Geister: selber-denken. Das ist sehr anstrengend und äußerst unbeliebt. Und es begünstigte sozial die Tyrannis, den egomanischen, unmoralischen, gottlosen Herrschaftsstil von Räuberhauptmännern, die versuchten, durch Machtspielchen und Tricksereien ihre Truppen zusammenzuhalten.

Modere Religionen sind dreitausend Jahre jung

Der kleine Fisch fragte: ‚Ich habe immer vom Meer gehört, aber was ist das, dieses Meer? Und wo ist es?‘ Und die Fischkönigin antwortete: ‚Du lebst, bewegst dich und hast dein Sein im Meer. Das Meer ist in dir und außerhalb deiner, du bist aus Meer gemacht, und du wirst im Meere enden. Das Meer umgibt dich als dein eigenes Wesen.‘“ Inayat Khan

Das moderne religiöses Weltbild gründet sich auf ein erstarktes Ich, das sich entscheiden kann zwischen Gut und Böse, und das dem „guten, wahren“ Über-ich untergeordnet ist.  

Die ersten modernen Religionen räumten auf mit dem Chaos der inneren Stimmen von Gottheiten, die immer wieder von den Menschen Besitz ergriffen und sie irrational lenkten. Sie vertrieben die Geister, Teufel und olympischen Machtgestalten, die ständig als innere Gewalten in Unwesen trieben. Die Menschen begannen sogar in Einzelfällen sich selbst erkennend, bewusster zu denken.

Religionen ersetzen die alten Besessenheit-Kulte durch ein neues „rationales“, allumfassendes Prinzip, das außerhalb der menschlichen Körper und Gehirne, die ganze Natur regierte und durchflutete.

Zustände der Besessenheit erforderten u.a. ein starkes Seitenhirn, in dem Stimmen gehört und erinnert wurden. Rationalität dagegen machte sich stärker breit, wenn die frontalen Anteile des Gehirns den Rest des Denkorgans beruhigten.

Von einer höheren Macht besessen sein, wurde nicht mehr toleriert, es sei denn in Ausnahmen bei bestimmten, anerkannten Propheten oder bei einem zweifelsfreien Sohn oder einer Inkarnation Gottes.

Wenn der König aber nicht (wie zuvor in den Trance-Religionen) Gott ist, und noch nicht einmal von Gott besessen, sondern nur ein gewöhnlicher Mensch, dann ist seine Autorität schwach. Nach dem Zerfall der „Bessenheit als Herrschaftsprinzip“, war es daher notwendig, ein externes Universalgesetz zu entwickeln, um große Staaten zu stabilisieren. Etwas das höher stand als der König. Und dem König und Volk, bedingungslos, und ohne zu zweifeln, gehorchen mussten.

Alles durchdringender Gott

Um 1340 v.u.Z begründeten Pharao Amenophis IV. (Echnaton oder „der in der Wahrheit lebende“) und seine Frau Nofretete, die erste bekannte Religion. Sie beteten zu einer, von der menschlichen Psyche getrennten, Gottheit, die alles Sein durchwebt. (Nagib Machfus)

Bild: Ägyptische Bildnisse, Piper 1959

Nofretete und Echnaton erscheinen in Bildern, in denen sie sich der Macht des alles durchdringenden Gottes unterordnen:

„… Herr all dessen, was die Sonne umkreist. Herr des Himmels, Herr der Erde … Du bist fern, doch deine Strahlen sind auch auf der Erde … Deine Strahlen reichen bis ins Innere der Meere. … du bist im Blickfeld, deinen Lauf kann man aber trotzdem nicht erkennen … du schaffts Millionen Dinge aus dir allein … o Alleiniger … mein Handeln geschieht für dich, denn du bist in meinem Herzen …“ (Großer Sonnenhymnus ~1345 v.u.Z, Quelle Reklam 2007)

Der König sollte kein Gott mehr sein. Auch keine göttliche Inkarnation mehr. Sondern ein dienender Herrscher, der über der menschlichen Ordnung waltet, als Hüter eines umfassenden moralischen Systems.

Al-Fātiḥa: Die Eröffnung, die erste Sure de Koran.
Sie erinnert mich an Echnatons Hymne an das Allumfassende. Und gleichermaßen auch an die Philosophie des Baruch de Spinoza, der die Einheit des Universums aus einem alles durchdringende Prinzip postulierte.

Echenatons Ideen konnten sich damals noch nicht durchsetzen: Er wurde nach seinem Tod als Ketzer aus den Ahnenreihen der Pharaonen gestrichen.

Aber offenbar erkannten Sklaven sehr unterschiedlicher ethnischer Herkunft, in Echan-Atons externem Gott eine vereinigende Kraft, die sie vielleicht drei- oder vierhundert Jahre später zu einer gemeinsamen Flucht befähigte. Damit war das Samenkorn gelegt, aus dem später die großen westlich-monotheistischen Religionen erwachsen sollten.

Zarathustra: Das Gute, für das sich Menschen entscheiden können

Die erste politisch erfolgreiche Welt-Religion entstammt aus Baktrien, dem heutigen Nord-Afghanistan. Dort hatte vor dreitausend Jahren der Prediger Zarathustra gegen den willkürlichen Mithraskult gewettert, an den wir uns bis heute u.a. mit dem Tannenbaum erinnern. Den Besessenheits-Kulten setzte Zarathustra einen klaren, reinen, allmächtigen, gleichbleibend-guten Gott (Ahura Mazda) gegenüber und einem schwächeren, launischen, bösartigen Teufel (Ahriman).

Den Menschen sei die Wahl gegeben, zwischen Gut (sozial, bescheiden, ruhig, gesittet, wahr) und Böse (zerstörerisch, verlogen) zu entscheiden.

Zarathustras Religion bildete Grundlage des persischen Großreiches. Sie wirkte in dem Vielvölkerstaat integrierend und stabilisierend. Offbar war diese Religion erolgreich darin, Menschen zu moralisches Verhalten anzuhalten. Bürgerkriege scheint es in diesem Großreich jedenfalls nicht gegeben zu haben.

Teppich mit Bildern der großen Herrscher des medisch-persichen, monotheistischen Vielvölkerstaates, der den Dualismus von Gut und Böse zur Staatsreligion erhob. Oben unter dem Zeichen des Zorastrismus (dem erleuchteten Menschen, dessen gute Gedanken, Taten und Handlungen ihm Flügel verleihen) sitzt Kyros II der erste zoroastrische Herrscher. Ateshgar, Aserbaidschan (Jäger 2019)

Der Kampf zwischen „Gut und Böse“ begegnet uns bis heute in jedem Hollywood-Streifen. Und sie wird auch, nach wie vor, bei allen virtuellen oder realen Kriegsritualen gepflegt. Der Wanderprediger Zarathustra wäre schnell vergessen worden, wenn nicht Kyros, ein persischer König die neue Ideologie benötigt hätte. Er musste sein Fürstentum mit dem der Meder vereinigen, und brauchte daher ein den volks-bezogenen Göttern übergeordnetes Konzept. Seine neue Staatsreligion glich der echnaton-monotheistischer Sklaven, die sich damals in der babylonischen Gefangenschaft befanden. Folglich wurde er von diesen, als er sie befreite, als gott-gesandter Erretter gefeiert. Persien mutierte erst eine Generation später unter Dareios I zum ersten wirklichen Gottesstaat der Menschheit. Möglicherweise deshalb, weil der ehemalige Offizier Dareios sich durch einen Mord an einem Sohn des Kyros hochgeputscht hatte, und sich anschließend mit Legitimationsproblemen herumschlagen musste. Er benötigte daher eine besonders starke Glaubes-Konstruktion, um den Vielvölkerstaat, der im zugefallen war, auch zusammenzuhalten (Holland 2008).

Das erste heilige Riesenreich der Perser und Meder währte nur wenige hundert Jahre, bis es von Alexanders Armee zerschlagen wurde. Im Befreiungskampf gegen die (olympisch-dionysos-kybele-orientierten) Mazedonen und Griechen, und später gegen den kaiserlich-römischen Gesetzes-Staat, festigte sich dann der jüdische Glaube. Der christliche speiste sich später aus vielen Quellen: Nazarener, Mater deum, Dionysos, Mithras, Kyniker, Jain, Buddhismus, Keltisch-germanische-Kulte, uva. Und schließlich erwuchs auf dem Boden, den das schriftlich fixierte Judentum und das arianisch-monotheistische Ur-Christentum bereitet hatten, der Islam, der wieder „alles“ zusammenfasste und vereinheitlichte: Ethik, Gesetze, Regeln, Verhaltensvorschriften, Rituale und Wahrheiten.

Wahn und Zerstörungswut. Einige Wissenschaftler (u.v.a. Dawkins, Kurtz, Assmann, Deschner), halten die vor einigen Jahrtausenden entstandenen montheistischen Religionen für gefährliche Störungen des Geistes. Für gewalttätige Systeme gezielter Kontrolle und Machterhaltung. Sie schildern detailliert die furchtbaren Verbrechen, die im Namen der Religion begangen wurden und werden. Und sie träumen von einer aufgeklärten, friedlichen, wissenschaftsbasierten Welt ohne Priester.

Im Osten ging die Religion andere Wege.

„Ich bin nicht. Na und?“ D. Suzuki. Zen-Buddhist

Dem Brahmanismus (dem heutigen Hinduismus) gelang es, die verschiedensten Trance-Götter in ein all-umfassendes, alles vereinendes Konzept hinüber zu retten. Alles was ist oder erscheint oder sich unsichtbar bemerkbar macht, sei Teil eines großen Ganzen, in dem aber das einzelne weiterhin wiedergeboren wird.

Die logische Konsequenz dieser Vorstellung war Jain, die lebensabgewandte Religion Mahatma Gandhis, die die unsterbliche Seele erfand, und sie missionierend nach Europa brachte. Und der ebenfalls negativ-leidensorientierte Buddhismus, der vorübergehend zur Staatsreligion indischer und griechischer Königreiche aufstieg, und der auch intensiv in Richtung Europa missionierte. Und schließlich harte die Logik des Vedanta durch Shankara, der klar erkannt zu haben glaubte, dass alles einfach und schlicht Nichts sei.

Die chinesischen Religionen benötigten keinen Gott. Der Konfuzianismus beließ dem einfachen Volk den Glauben an die Ahnen, Volks- und Vermittlungs-Gottheiten, solange sie sich dem großen ethischen Prinzip des guten Handelns unterwarfen. Und der chinesische Buddhismus, verwarf schließlich heiliges Geschwafel über die Nichtigkeit des Nichts und orientierte sich an der Lebens-praxis: Ch’an (jap. Zen).

Ein Mönch fragte Fuketsu: ‚Ohne zu sprechen, ohne zu Schweigen, wie kann man da die Wahrheit ausdrücken?‘ Fuketsu bemerkte: ‚Ich erinnere mich immer an den Frühling in Süd-China. Die Vögel singen inmitten unzähliger Arten duftender Blumen.‘

Der religiöse Daoismus, der u.a. auch kritisch-philosophische Wurzeln hat (Zhunangzi),  gab sich schließlich später der Mystik hin, mit alchemistischen und auch christlichen Einflüssen, die dazu verhelfen sollten das Ganze bewusst zu erkennen und zu erleben und möglichst lange (körperlich) zu erleben.

Der Nutzen der Religion

The truly adult view is that our life is as meaningful,
as full and as wonderful as we choose to make it.” Richard Dawkins

Religion schafft in Bereichen Sicherheit, die der normalen Wahrnehmung nicht zugänglich sind. A-Thesisten glauben, dass dort wo sie nichts erkennen, auch nichts sei. Diese reduzierte Wirklichkeit ist für die meisten Menschen nicht besonders attraktiv, weil in unserer Realität offensichtlich mehr komplexe Zusammenhänge und Dynamiken wirken, als in Experimenten messbar sind. Und auch, weil sich der wissenschaftlich beschreibbare Raum unseres Erkennens stetig erweitert. Wir sehen in immer kürzeren Abständen immer mehr, was wir vorher nicht erahnen konnten.

Glaubenssysteme sind deshalb für viele ein nützliches Symbol der Realität, wie sie sein könnte. Das erlaubt ihnen, im Einklang mit der vermuteten Wirklichkeit, etwas als „gut und wahr“ erkanntes zu tun, z.B. durch die Ausführung eines Rituals. Damit erreichen sie ein intensives Gefühl der Verbundenheit und glauben auch die nahe, oder auch eine sehr ferne Zukunft günstig beeinflussen zu können.

Gewahrsein: Verbundenheit erkennen und erleben (Enlightenment, Erleuchtung, Satori, …)

Es ist überprüfbar möglich, den Horizont des Wahrnehmbaren durch Training zu erweitern (Lutz 2007). Die Mystiker aller Religionsformen bemühen sich daher um körperliche Übungen, die zu messbaren Veränderungen der körperlichen und geistigen Fähigkeiten führen: durch Meditation, Gebete, Singen, Dehnen, meditative Bewegungen, konzentrierende Körpertrainings: uva. bei Yoga, Dao, Konfuzianismus, Sufi-Islam, christlicher Mystik, Zen, Buddhismus, tibetischem Tantra, …

„Lass dich das ist dein Bestes!“. Ekkehard, christlicher Mystiker

Das Ziel bewegter Philosophie-Religionen ist es, durch stetiges, ernsthaftes Üben körperlich-geistige Kompetenzen zu erwerben. Die es dann ermöglichen, mehr von der Realität zu erleben, als es Menschen möglich wäre, die es bei der Alltagserfahrung belassen oder medien-berieselt nur das nötigste erfahren wollen: die unmittelbare Bedarf-Befriedigung. Um das erleben zu können, muss man sich auf einen religiösen Übungsweg einlassen, um ihn lernend nachzuvollziehen und ihn, wenn er persönlich nützlich zu sein scheint, auch zu üben.

„Bewusstseinserweiterung“ gleicht den verschiedenen Arten, wie Musik gehört werden kann: Man kann es bei dem engen Frequenzbereich eines PC-Lautsprechers belassen, oder mehr hören auf einer Stereo-Anlage, oder in ein Konzert gehen, oder schließlich sein Ohr trainieren und selber singen und musizieren. Oder schließlich als Spitzenmusiker ein „absolutes Gehör“ entwickeln. Je nachdem wie intensiv geübt wird, verschiebt oder verengt sich die Grenze des Erlebbaren.

Die religiösen Bemühungen um „Bewusstseins-Erweiterungen“ müssten sich (eigentlich und prinzipiell) positiv auswirken können, vorausgesetzt Menschen seien grundsätzlich „gut“. Das wäre die ethisch-wertvolle Seite der Religionen, die sich möglicherweise auch tatsächlich in der Evolution ausgewirkt hat. Denn die Menschen sind, aller heutigen Schreckensmeldungen zum Trotz insgesamt friedfertiger oder „zivilisierter“ geworden.  (Pinker 2011)

Das Gefährliche an Religionen ist die Wahrheit.

Religionen gründen sich auf Gewissheiten, die helfen, einen größeren Zusammenhang besser zu verstehen und zu beeinflussen.

Religiöse Wahrheit definiert sich aber besonders klar durch die Un-Wahrheit: Das ist der Glauben anderer, die die Wahrheit bisher noch nicht erfahren haben, oder sich noch in einem vor-religiösen Ur-Zustand des besessenen Heidentums befinden.

Da eine eigene religiöse Sicht die Richtige sein muss, kann die eines anderen nicht gleichzeitig zutreffend sein. Manchmal besteht noch Hoffnung, dass der andere sich doch, durch Einsicht und gute Argumente, schließlich zur richtigen Ansicht bekehren könnte. Sonst spricht man besser nicht über Glaubensdinge, sondern koexistiert nur, sich gegenseitig tolerierend.

Der Friede des praktisch-nützlichen Nebeneinander-her-lebens ist allerdings brüchig. Seit es Religionen gibt, sind sie mit Pogromen, Massakern und Kriegen vergesellschaftet. Dem relativen Frieden im inneren des Glaubenssystem steht Brutalität gegenüber: gegen die Ungläubigen. Alle Religionen brüten auch Dogmatiker aus, die die absolute Wahrheit zu erkennen glauben, gewaltsam missionieren, Ungläubige töten oder für die gute Sache auch sterben wollen. Oder die berechnenden Religionen missbrauchen, um bei bösen Machtspielen die gläubigen Massen in die Irre zu leiten.

„Gott ist tot.“ Nietzsche

Nietzsche ist tot.

Nietzsche hatte, wenn man die Zeit betrachtet, die seit seinem Tod vergangen ist, unrecht: Die Religionen leben weiterhin, sie wachsen und gedeihen. Aber könnten Sie sich auch zum Positiven entwickeln?

Die „Corona-Krise“ ab 2020 bietet vielleicht eine Chance: Man könnte wieder über „den Sinn“ nachzudenken. Und über Möglichkeiten, unsere Einstellungen zu einem „sinnvollen Leben“ zu verändern.

Die alten religiösen Wertesystem, die einmal der „werte-losen“ Kapital-Finanz-Dynamik übergeordnet waren, zerfallen (uva. die protestantische Ethik). Erfahrungsgemäß zerbröseln Großreiche relativ zügig, wenn ihnen der Zusammenhalt einer gemeinsamen Ideologie, an die ihre Bürger glauben, abhandenkommt. Leider implodierten „sinn-entleerte“ Imperien in der Vergangenheit aber nicht lautlos und friedlich.

Die geistlose Wachstums-Ideologie des protestantischen Kapitalismus, der vor 400 Jahren ausgehend von Amsterdam die Welt eroberte, zerstört heute die menschlichen Lebensgrundlagen. Er ist langfristig nicht mehr zukunftsfähig.

Aber an was sollen die Konsumenten in der Stag-flation alternativ glauben? An die „Gesundheit“ als höchstes, der Politik übergeordnetes Wertesystem? Oder an eine Wissenschaft, die nicht fragt, sondern nur Antworten liefert, für die, die gut dafür bezahlen? Wie lange wird sich eine Neo-Ideologie halten können, die einer werte-losen, ethik-enthemmten Raubtier-Mentalität („We first!“) unterworfen ist?

In China wird die alte Religion des Konfuzianismus mit Kontrolle und Ritualen neu erfunden („Null-Covid“ als Erzwinger von Gehorsam und Unterwerfung). Konfuzius war nur die Ethik und ritualisiert-gesittetes Verhalten wichtig. Die Diskussion übergeordneter Wahrheiten lehnte er ab. Daher steht die Neo-Kunfutius-Religion weder im Widerspruch zu den modernen Naturwissenschaften noch zur kapital-orientierten Ökonomie.

Der Dalai-Lama, eigentlich ein Feind Chinas, hat eine wesentliche Botschaft des Konfuzius übernommen: Ethik sei wichtiger Religion!

Eine weitere Prämisse des Konfuzius („Handele so, als ob „es wahr sei“), wurde in der „Corona-Krise“ im Westen populär: Denn es ist nicht bedeutend, ob Masken, Apps, Regeln, Impfungen wirksam sind, sondern nur, dass sie akzeptiert werden, als ob sie wirksam seien.

Als Ausbilder einer Methode, die entscheidend von Konfuzianismus geprägt wurde, schätze seine guten Seiten und kenne auch die negativen. Ein sinnentleertes Nachäffen konfuzianischer Regeln im Westen (im Rahmen eines „Gesundheitskultes“ gruselt mich. Unter Public Health Gesichtspunkten erwiesen sich die „Corona“-Kontrollmaßnahmen als ziemlich unwirksam, verursachten aber reichlich Kollateralschäden, dennoch waren sie wirksam zur Etablierung eines quasi-rligiösen „Neuen Normal“.

Tatsächlich neue ethische Ideen kamen ausgerechnet aus der katholischen Ethik, die viele schon totgesagt hatten. So forderte der Papst zaghaft ein „Umdenken der Menschheit“:

„Wenn die Politik nicht imstande ist, eine perverse Logik zu durchbrechen, und wenn auch sie nicht über armselige Reden hinauskommt, werden wir weitermachen, ohne die großen Probleme der Menschheit in Angriff zu nehmen.“ Papst Franziskus: Laudatio Si (Umweltenzyklika 2015)


Paquot, Thierry: Ivan Illich,
München 2017 ISBN
978-3-406-70704-9

Ein katholischer Priester war auch Ivan Illich, der fundamentale Kritiker des unkontrolliert krebsartig in alle Lebensbereiche wuchernden Medizinmarktes. Er sah sich beidem verbunden: einer ihn leitenden spirituellen Ethik und einer scharf kritisierenden, fragenden Wissenschaft. 1977 prophezeite er die „Covid-19-Krise“:

2020 fordert der katholische brasilianische Theologe Leonardo Boff ein Ende des geldgierigen Krieges gegen die Natur. Und eine radikale Wendung zu einer Transformation der Gesellschaft, wie sie Wissenschaftler*innen seit vielen Jahren angesichts der Klimakatastrophe verlangen .

„… Übergang zu einer lebenszentrierten Zivilisation: Jede Krise veranlasst Nachdenken, und den Entwurf neuer Fenster der Möglichkeiten. Das Corona-Virus hat uns diese Lektion gelehrt: die ERDE, die Natur, das Leben in seiner ganzen Vielfalt, die wechselseitige Abhängigkeit, die Zusammenarbeit und die Solidarität müssen in der neuen Zivilisation zentral sein, wenn wir überleben wollen. Leonardo Boff 2020

Boff’s Gedanken teilen auch Nicht-Katholiken und Skeptiker:innen: Der Menschheit könnte sich tatsächlich eine Überlebenschance eröffnen, wenn die Natur als friedvolles Wechselwirken aller Systeme verstanden würde. Und wenn das störungsfreie Gedeihen dieses Systemzusammenhangs „Natur“ als höchster Wert gesetzt würde, dem sich Politik & Kapital unterordnen müssten.  

Auch der Ökosozialist Bruno Kern, der 2019 über „Das Märchen vom grünen Wachstum“ schrieb, ist katholischer Theologe. Seine Vision, „eine solidarischen Gesellschaft, die mit weniger Ressourcen auskommt“, müsse bald verwirklicht werden, sonst sei es zu spät“.

Ganz ähnlich sieht das auch der Theologe Prof. M. Vogt: „Transformation – Amerkungen aus aus ethischer und theologischer Sicht“ 17.10.2020

Es gibt also viele Denker:innen, die sich, von der katholischen Soziallehre kommend, den Ideen des großen Religions-Wissenschaftlers des 17. Jahrhunderts (Baruch de Spinoza) annähern.

Spinozas Gott war die Natur. Gott (oder die Natur) sei das absolut unendliche Sein, die Summe aller Attribute. Alles was ist ist entweder in sich oder in einem anderen. Die absolut unendliche Substanz sei unteilbar. Alles was wahr sei, sei in Gott und nichts könne ohne Gott sein noch begriffen werden. Der Wille könne nicht eine freie Ursache genannt werden, sondern nur eine notwendige. Hieraus folge, dass Gott/Natur nicht aus der Freiheit des Willens wirke. Sondern alles, was wir in der Macht Gottes/der Natur Macht seiend denken, sei notwendig.

„Es gibt nur Eine, alle Determination und Negation von sich ausschließende, unendliche Substanz, welche Gott genannt wird und das Ein Sein in allem Dasein ist.“ Baruch de Spinoza, 17. Jhh.

Könnte sich aus diesem fruchtbaren Boden in Europa eine neue Ethik entwickeln? Die sich vielleicht sogar gegenüber dem chinesischen Tianxia behauptete?

Ethik ist wichtiger als Religion. Dalai Lama Download

Literatur

  • Assmann I.: Ägyptologe, Religionswissenschaftler, Kulturwissenschaftler
  • Assmann J: Der Monotheismus und die Sprache der Gewalt. Picus 2004
  • Assmann J: Totale Religion. Picus 2018Boff L: Reflektionen zur aktuellen Weltkrise 2020, Download
  • Boyer P: Being human: Religion: Bound to believe? Nature 2008, 455:1038-1039 – Religion Explained, paperback, Basic Books, 2002 – Und Mensch schuf Gott [And Man Created God], Klett-Cotta, 2004
  • Chapais B: Monogamy, Strongly Bonded Groups, and the evolution of human structure. Evolutionary Anthropology 2013, 22:52-65
  • Dalai Lama: Ethik ist wichtiger als Religion. 2015 Download
  • Dawkins R: Der Gotteswahn, Houghton Mifflin 2006, Video 2012
  • der Wahl F.: Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können. (Carl Hanser Verlag, München 2011, Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote. Klett Cotta Verlag, 2015
  • Holland T: Persisches Feuer. Ein vergessenes Weltreich und der Kampf um Europa. Rowohlt 2011
  • Humphrey N.: Cave Art, Autism, and the Evolution oft the Human Mind, Cambridge Arch Journ, 1998, 8(2):165-91, pdf-download – Humphrey N.: Shamanism and cognitive evolution, Cambridge Arch Journ, 2002 (12):91-93, pdf-download
  • Illich I: Die Nemesis der Medizin. Beck 1975
  • Ioannides J: Why Most Published Research Findings Are False, PLOS 2005
  • Jaynes J: Der Ursprung des Bewusstsein, rororo 1993, pdf-download, Video-Vortrag – Kommentare: Bräuer K: Julian Jaynes und Bewusstsein, Philosophische Aspekte der modernen Physik, Uni Tübingen 2014, pdf-download  – Williams G: What is it like to be nonconscious? A defense of Julien Jaynes. Phenom Cogn Sci 2011, 10:217-239
  • Kurtz P.: The affirmation of humanism
  • Kurtz P: The transcendental temptation- a critique of religion and the paranormal, Prometheus Books, 1991, 516 Seiten, Download S. 1-155
  • Llinas R: The “I” of the vortex, New York, 2001, Video 2012
  • Lutz A et al.: Meditation and the Neuroscience of Consciousness in: Cambridge Handbook of Consciousness ed. Zelazo P., Moscovitch M. and Thompson E., 2007
  • Maturana und Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Deutsche Übersetzung von Kurt Ludewig. Frankfurt a. M. 2009, Ludewig K: Gespräche mit Humberto Maturana, 2006 (Org. Conversaciones con Humberto Maturana: Preguntas del psicoterapeuta al biólogo“ Temuco, Chile: Ediciones Universidad de La Frontera 1992)
  • Maturana und Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Deutsche Übersetzung von Kurt Ludewig. Frankfurt a. M. 2009, Interview 1992
  • Neumann E: Ursprungsgeschichte des Bewusstseins, 1949, mit Vorwort von C.G. Jung bei Walter Verlag 2004
  • Pinker St (2011): The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined
  • Porges S: The polyvagal Perspektive, Biol Psychol. 2007 74(2): 116–143. 
  • McGilchrist I.: Das geteilte Gehirn und  seine kulturelle Entwicklung 
  • Sapolski R: Dopamine ists not about pleasure but about anticipation, Fora-TV 2011
  • Schmoekel R: Die Indoeuropäer, Aufbruch aus der Vorgeschichte, Bublies-Verlag
  • Spinoza B: Tractatus Politicus, politisch theologisches Traktat, n.lat Amsterdam 1600, 1677 posthum, Alle Texte bei zeno.org
  • Thomaselo, M: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation Suhrkamp, Berlin 2009,  Origins of Human Communication, 2008 (MIT Press, Cambridge (Mass.)/ London)
  • Tinyang Z: Alles unter einem Himmel. Suhrkamp 2020

Macht zur Unterdrückung der Psyche

Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle Heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotential in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen. Dalai Lama (Der Appell an die Welt, Benevento, 2015)

Manche Menschen tollen fröhlich suchend durch die Welt: respektlos, selbstbewusst, antiautoritär, neugierig, wissbegierig. Andere halten sich lieber an die Ermahnungen Ihrer Eltern, der Lehrer und der Autoritäten. Sie bestaunen ehrfürchtig das Erschaffene, dessen Gegenwart sie nur bescheiden tätig werden können. Und wieder andere  schreiben bürokratische Ordnungsregeln auf, die sie in Handbücher und Arbeitsanleitungen abheften.

Alle drei Strategien verbessern das Gefühl für Sicherheit. Über Fragen entwickelt sich lernend Selbstbewusstsein. Antworten zeigen einen Sinn, in dem alles eingebettet ist. Und Vorschriften zähmen das Chaos der Zukunft.

Unsere Welt wird für uns zunehmend komplex und unsicher: sie steckt voller Zufälle und drohender Katastrophen. Die alten Strategien unser Steinzeitvorfahren taugen nichts mehr und fristen ein eher kümmerliches Dasein bei der Vermarktung von Alltags-Esoterik.

Damals riefen die Jäger und Sammlerinnen die Geister von Ahnen, Göttern und Dämonen in sich auf. Zustände, die wir heute als Psychose bezeichnen und therapieren würden. In Träumen oder Trance-Ritualen hörten sie dann von inneren Mächten, was zu tun sei, weil es sich in der Vergangenheit so gut bewährt hatte. Dieses rückwärtsgewandte Denken reichte in immer differenzierteren Kulturen, in denen sich viel zu viel veränderte, nicht aus, um die Zukunft zu planen. Deshalb bevorzugte die Evolution diejenigen, die in der Lage waren, die inneren Stimmen in sich zu dämpfen und zu beruhigen. Und so setzten sich vor wenigen tausend Jahren schließlich drei neue Strategien durch: staatliche Gesetze, Religionen mit externen Göttern und fragen-stellende Wissenschaft.

Religionen verordneten den modernen Königen, die nicht mehr von guten Geistern besessen waren, übergeordnete verbindliche Regelsysteme, die deshalb nicht angezweifelt werden konnten, weil sie von einer über-menschlichen Macht kamen. Die staatlichen Rechtssysteme, die (später) zeitgleich in China und Rom eingeführt wurden, schrieben Handlungsanleitungen vor, deren Einhaltung durch Staatsbeamte garantiert wurden. Wissenschaft keimte kurz in der Antike auf, und konnte die alten, esoterisch-geheimen Trance-Kulte als Humbug entlarven. Sie erwies sich aber zunächst nicht als systemstabilisierend, und erblühte erst in der Renaissance, weil dann nicht nur die sozialen, sondern auch die rasanten technischen Entwicklungen ihre Leistungen und Planungssicherheiten erforderten.

Gesetz, Religion und Wissenschaft haben viel gemeinsam

Alle drei beruhen auf definierten Worten und in Schriften niedergelegten Begriffen: am Anfang (bei ihrer Geburt) war das Wort (s.u.). Alle drei sind jeweils streng hierarchisch organisiert. Sie gründen sich auf hochausgebildeten Expert*innen, die die jeweiligen Regelsysteme durchschauen, und die die Wahrheit kennen.

Sie können von der nicht-anzweifelbaren Gewissheit Prinzipien ableiten, verstehen und diese dann im speziellen Fall oder im Detail anwenden. Deshalb scheint man ihnen vertrauen zu können, wenn sie die Menschen lenken und leiten.

Weil sie sich ähneln, sind auch die Übergänge zwischen Gesetz, Religion und Wissenschaft fließend: So beinhalten manche Religionen Rechtssysteme, manche Wissenschaft fußt auf absoluten Gesetzen, Lehrmeinungen und heiligen Büchern. Und bei allen dreien wird geglaubt, dass die Zukunft so ausfallen wird, wie es in dem speziellen Einzelfall vorhergesagt wird.

Natürlich gibt es Unterschiede

Wissenschaft trägt den Keim des skeptisch-kritischen Zweifelns in sich: Danach gibt es keine Wahrheit, sondern nur Beobachtungen. Die Natur-Gesetze sind so wie sie sind, weil sie sich immer wieder so zeigen: ohne erkennbaren Grund. In einem anderen (z.B. schrumpfenden) Universum könnten sie anders sein. Alle anderen Gewissheiten sind relativ vom Beobachter abhängig und heißen Hypothesen, Theorien und Modelle. Sie sollten wissenschaftlich stetig überprüft werden, damit sie in Paradigmen-wechseln in sich zusammenfallen können, und Platz machen für neue Modelle und Vermutungen.  Wissenschaftlicher Glaube (z.B. an die String Theorie, den Urknall, die Evolution, …) ist prinzipiell an der Realität überprüfbar.

Religiöser Glaube ist prinzipiell weder beweis- noch widerlegbar. Sein Erkennen ist reine Wahrheit, ein unvergängliches Wissensgebirge, das nicht verwelkt wie die, oft nur kurze Zeit blühenden, Blumen der Wissenschaftstheorien. Die Richtigkeit der Wahrheit wird bestätigt, wenn etwas genauso eintrifft, wie aufgrund des religiösen Glaubens erwartet wird. Trifft es aber nicht ein, besagt das nur, dass es an der Anwendung der Gläubigen haperte, oder dass die Entscheidungen der höheren Instanz einfach unergründlich sind. Das heißt, zu einem guten Glauben passt jede beliebige Realität. Das Besondere an der Wirklichkeit, die durch die Brille der Religion betrachtet wird, ist ihr unvergleichliche Schönheit. Das Eins-werden mit ihr kann sich sowohl über den Weg nach Innen erschließen (Mystik) oder die Beziehung nach Außen (Gebet).

Nicht-religiöses Recht ist weder schön, noch wahr. Es ist nur so, wie es ist: Bei Rot bleiben die Autos stehen, bei Grün fahren sie, und zwar hier auf der rechten Straßenseite. In England wird dagegen bestraft, wer nicht auf der linken Straßenseite in den Kreisverkehr einbiegt und entsprechend zerbeult wird. Solche Regeln, so blödsinnig sie manchmal auch erscheinen mögen, verhindern unnötigen Streit und Blutvergießen. Sie schaffen Räume, in denen sich Wissenschaft und Religionen friedlich entwickeln können.

Ist Gott ein Irrtum?

Der Gott-Begriff ist nur manchen Religionen wichtig: Christentum, Islam, Judentum u.a. Andere kommen ohne ihn aus: Buddhismus, Jainismus, Vedanta-Monismus, Daoismus, Konfuzianismus u.a. Auch die Religionen oder Sekten, die direkte mystische Erfahrungen anstreben, benötigen kein von einer menschlicher Gestalt abgeleitetes Gottesbild, da sie etwas nicht benennbares, alles durchströmendes, in sich wahrzunehmen meinen: Zen, Gnostik, Sufi, u.a. Wieder andere Religionen bleiben intensiv mit schamanischer Trance verwoben: Shintō, Voodoo, Candomblé u.a. Auch die modernen, zum Teil fanatischen, gewaltbereiten, politischen Religionen, die alle mit der Silbe „-ismus“ enden, benötigen ebenfalls kein Gottesbild. Auch nicht die aus der Wissenschaft geborenen Kirchen und Sekten: Scientology, Morphogenetische Feldtheorien, Quantengravitations-Theologien, Glaube der parallelen Universen u.a. Und schließlich ist auch ein Großteil der universitären Wissenschaft eine Ideologie, die das Fragen verlernt hat. Die nur noch Wahrheiten lehrt, und dabei zu einer gottlosen Religion mutiert ist: erhaben, sanktionierend, predigend und keineswegs fröhlich. Dazu gehört auch die Religion des radikalen Glaube an eine „Nicht-Existenz Gottes“, eine religiöse Wahrheit, die darauf fußt, dass alles, was ist, sich in Laborexperimenten zeigt und sonst nirgends.

Wer ist verantwortlich für das viele Blutvergießen?

Unsere wesentliche Krankheit ist das vorschnelle Urteil, der dogmatische Glaube.
Sextus Empirikus

Alle Formen des Dogma (Gesetz, Religion, Wissenschaft) verursachten Schäden. Die Römer und die chinesischen Dynastien rotteten radikal und schonungslos alles aus, was sich ihren Gesetzen widersetzte. Die monotheistischen Religionen sind für schreckliche Gewaltexzesse gegen Andersgläubige verantwortlich (Assmann 2013). Aber auch vom polytheistischen Hinduismus geht Gewalt aus (BBC 2010), und selbst der scheinbar friedfertige Buddhismus zog öfters in den Krieg (Victoria 2006). Weil dabei jeweils große Teile der Bevölkerung getroffen und ggf. „vernichtet“ wurden, waren die Opferzahlen immens. Das verschleiert allerdings die Tatsache, dass unsere nicht-dogmatisch-gläubigen Ur-Ahnen nicht friedfertiger waren: In der Frühzeit der Menschheit (vor den großen Weltreligionen) war das gegenseitige Umbringen deutlich beliebter als heute. In manchen Steinzeitvölkern lag die Wahrscheinlichkeit, als Mann eines natürlichen Todes ohne Gewaltanwendung zu sterben, bei nur 40%. Allerdings waren damals die technischen Möglichkeiten noch begrenzt: Es gab noch keine Drohnen, Minen und Lenkwaffen, so dass Töten noch mühsames, direktes Handwerk war (Pincker 2011).

Auch die Wissenschaft ist für massives Blutvergießen und vor allem für immense Umweltschäden  verantwortlich. Spätestens 1945 nach dem Abwurf der Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima stellte sich die Frage nach der ethischen und gesellschaftlichen Verantwortung der beteiligten Forscher (Brecht 1945, Kipphard 1964). Die Wissenschafts-Maschine hat daraus seither wenig gelernt. Alles wird entwickelt, was technisch möglich ist, auch wenn die Folgen für die nachfolgenden Generationen  (z.B. bei Nuklear-, Nano- oder Gentechnik) nicht überblickt werden können. Die Wissenschaft, so wie sie heute ist, beschleunigte den allgemeinen Trend, sich in der Wahrnehmung auf kleine, einzelne, tote Faktoren zu konzentrieren, und aus dem Einzelwissen heraus dann auf ein größeres Ganzes zu schließen. Oder das Ganze dabei völlig aus dem Blick zu verlieren (McGilchrist 2013). Das führte zu unethischen oder gedankenlosen Entwicklungen von Methoden, die gegen Menschen, andere Lebewesen und die Umwelt eingesetzt werden. Ohne diesen beschleunigten wissenschaftlichen Fortschritt (ohne ethische Kontrolle) wären die Klimakatastrophe und die Verseuchungen der Meere, der Böden und der Luft nicht erfolgt. Die Wissenschaft machte sich zum willenlosen Roboter globalisierter ökonomischer Dynamik. Der innere Antrieb aufzubegehren scheint bei ihr noch gering zu sein. Selbst in der Philosophie. Und die möglichen Korrektive des Rechts und der Religion („Bewahrung der Schöpfung“) schwächeln.

Ausblick

Die Vertreter aller Dogma-Systeme könnten sich zusammensetzen, um zu erarbeiten, wie vergangene Schrecklichkeiten und Fehler in der Zukunft nicht mehr begangen werden. Denn alle drei Wege sind im Prinzip wertvoll: Religionen lenken den Blick auf die großen Zusammenhänge, die über den menschlichen Erfahrungshorizont hinaus für uns von Bedeutung sein können. Sie bieten einfach-überschaubare Modelle, an deren Schönheit sich Menschen orientieren, und in denen sie interessiert sinnvoll tätig werden. Wissenschaft (inklusive der kritischen Philosophie) muss dagegen die wesentlichen Fragen stellen und zweifelnd, skeptisch und neugierig weiterforschen. Während das Recht den Rahmen bieten sollte, in dem Religion und Wissenschaft kontrolliert gemeinsam sinnvoll wirken können.

Religionen, Recht und Wissenschaft verändern sich tatsächlich zaghaft. Mindestens zwei Religionsführer  sorgen sich um Gewalt, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung und fordern einen neue menschliche Ethik (Papst Franziskus, Dalai Lama 2015). So ähnlich wie in der Urreligion des Zoroastrismus, sollten Menschen: „gut denken, gut sprechen und gut handeln“, oder wie im Konfuzianismus ethisch-sittlich handeln, so als ob es höhere übersinnliche Instanzen gäbe (Littlejohn 2007)

Also müssten sich Religionen weniger mit dem beschäftigen, was „wahr“ ist, sondern mit dem, was sich für die weitere Menschheitsentwicklung „günstig und nachhaltig“ erweisen kann.

Wissenschaft dagegen müsste intensiver, von den engen Laborexperimenten, in denen die Realität auf wenige Faktoren reduziert wird, aufblicken zu Gesamtzusammenhängen. Sie müsste sich zunehmend (wie es die Quanten- und Astrophysik oder die Systembiologie tun) mit komplexen Systemen und deren Beziehungen beschäftigen. Sich ihrer sozialen Verantwortung stellen. Und über die Naturbetrachtung Wege aufzeigen, wie Menschen harmonisch in den Systemen, in denen sie geborgen sind, wirken können.

Rechtssysteme müssten einen einfachen und soliden Rahmen bilden, der sich an ethischen Werten und wissenschaftlichen Kriterien orientiert. Dazu müssten sie über den Tellerrand der Paragraphen hinausschauen und verstehen, was in der Wissenschaft (einschließlich der Philosophie) und Religion (einschließlich der Ethik) geschieht.

Was bedeutet das für mich?

Wenn ich neugierig frage, nehme ich mir vor, nach dem Sichten der Details, mehr Pausen einzulegen. Und das Unfassbare wahrzunehmen, in dem das Beobachtete eingebettet liegt. Und festzustellen, dass ich von dem, was noch unbekannt ist, absolut nichts weiß. Radikales Nicht-Wissen fällt mir immer noch schwer, aber ohne Nicht-Wissen gibt es nichts Neues zu erlernen.

Fragen liebe ich mehr als Antworten. Aber die großen Wahrheiten bergen auch Schönheiten, in die ich noch viel zu wenig eingedrungen bin. Wenn ich zum Beispiel ein tief religiöses Musikstück höre und davon ergriffen bin, entsteht ein meditativer Wachzustand mit Glücksgefühlen. Den zu hinterfragen, würde ihn zerstören. Ich kann ihn aber auch genießen, und das Innen und Außen zugleich wahrnehmen, scheinbar verschmelzend.

Auch am Regelsystem zu arbeiten ist nötig, da es in Zeiten der Flucht und interkultureller Unsicherheit aus den Fugen geraten kann. Fragen und Antworten brauchen einen sicheren Rahmen, damit friedvollen Beziehungen gelingen können. Da ist viel zu tun.

Fußball Ersatz-Religion

6. Mai 2020

„Krooser Gott, wir loben dich!“ … Es herrscht im Fußballhimmel ein Rotationsprinzip. … „Gott ist Kroos“, aber Toni Kroos ist gewiss nicht der letzte. Die Weltreligionen könnten davon einiges lernen. SZ 25.06.2018

War die „schönste Nebensache der Welt“ nicht immer die beste Ablenkung?

Der Glaube an das Gute auf dem nahen Rasen gibt uns Halt. Die Verbundenheit mit „unseren Jungs“ bietet Schutz. Die nervigen Nachrichten von Kriegen, Migration, Reichtum&Armut, Stagflation, Vertreibung, Umwelt-Zerstörung werden in 90 Minuten des Mitfieberns verdrängt.

Gerade jetzt ist Fußball so wichtig: weil die Werte des „Westens“ zerbröseln, der Glaube an weiteres „nachhaltiges Wachstum“ schwächelt, und eine Rezession in der Tür steht.

Nur vorübergehend war der Fußballgott 2020 und 2021, von einer Grippe kalt erwischt, auf der Intensivstation gelandet. Jetzt, angesichts der Multikrisen, die die Existenz der menschehit bedrohen, schwächelt der gerade erst neugeschaffene Todesangst-Gesundheits-Kommerz-Kult.

Wird der Fußballgott also doch wieder benötigt?

„Balleluja! … Kirchen wie Stadien füllen sich im Wochenrhythmus; wie der Kirchgänger das gebügelte Hemd nimmt, holt der Fan seine emblemgeschmückte Jeansjacke aus dem Schrank, sinnigerweise „Kutte“ genannt. Fan – das kommt vom lateinischen „fanaticus“ und bedeutet „von einer Gottheit in Entzückung, in Raserei versetzt“. Der Fan bekennt sich zu seinem Verein und kennt seine Vereinshymne auswendig wie der Kirchgänger sein „Großer Gott wir loben dich“. “ SZ 14./15.01.2017

Letzte Aktualisierung: 27.02.2023