Unversehrtheit von Kindern
Theoretisch garantiert das deutsche Grundgesetz das Recht auf Unversehrtheit (Artikel 2.2 GG).
Trotzdem werden medizinisch nicht begründete Eingriffe bei Kindern durchgeführt. Die dafür Verantwortlichen werden in der Regel nicht bestraft. Obwohl Körperverletzung und Kindeswohlgefährdung in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden (§ 223 StGB, § 224 StGB, § 1666 BGB).
Warum ist das so?
Nehmen wir an, ein Elternpaar aus dem Volk der Zo’é in Brasilien würde in Berlin bei ihrem achtjährigen Kind den Unterkiefer durchstoßen, und die Öffnung dann durch Dehnung erweitern, um einen Lippenpflock einzuführen. Dürften sie das tun? Vermutlich ja, denn welches Gesetz sollte es ihnen verbieten?

Die Eltern könnten argumentieren, diese Praxis werde ihnen aus religiösen Gründen vorgeschrieben. Sie sei ein unverzichtbares Merkmal der Mitglieder des Volkes. Außerdem werde die Durchbohrung mit angespitzten Affen-Knochen und anschließende Einführung immer dickerer Pflöcke von Sachkundigen durchgeführt. Es handele sich keinesfalls um eine Verstümmelung. Und ohne den Eingriff könne das Sozialverhalten des Volkes nicht reibungslos ablaufen.
Die amerikanische Anästhesistin Jumana Nargarwala argumentierte ganz ähnlich. Angeklagt wegen Verstümmelung von Mädchen, gewann sie in zwei Instanzen: Sie habe die Kinder, derentwegen man sie beschuldigte, nur chirurgisch „verschönt“. Hygienisch und operationstechnisch sei alles korrekt verlaufen. Sie habe im Auftrag ihrer Religion gehandelt.
Tatsächlich war es bei diesen Begründungen nicht möglich, sie rechtskräftig zu verurteilen. Denn die Richter fanden kein übergeordnetes Bundesgesetz, das die Praxis von FGM eindeutig verbiete:
- CBS News (29.09.2021) – Weiterer Prozess-Bericht
- Case Detail 03.04.2020 „United States v. Nagarwala“
https://casetext.com/case/united-states-v-nagarwala-1
In Deutschland ist die Gesetzeslage ähnlich:
- §1631d BGB schränkt den Geltungsbereich des Grundgesetzes für Jungs ein.
- §226a StGB untersagt „Verstümmelungen“ bei Mädchen, ohne zu definieren, was damit gemeint sei. Im Umkehrschluss wären Eingriffe legal, die mit beschönigenden Begriffen bezeichnet werden: wie „Beschneidung, Cutting (FGC)“ oder „Kosmetische Genitalchirurgie / Cosmetic Surgery, (FCGS)“. Weiterhin lässt der Artikel 3 des GG Gesetze für unterschiedliche Personengruppen nicht zu. Folglich kann §226a StGB, wenn überhaupt, nur symbolischen Charakter haben. So lange, bis §1631d BGB ersatzlos gestrichen wird.
- Seit 2022 gilt in Deutschland eine Leitlinie für rekonstruktive als auch kosmetische Eingriffe am weiblichen Genitale (AWMF 009-019). Danach seien kosmetische, nicht medizinisch begründbare Eingriffe am Genitale von Kindern dann gerechtfertigt, wenn diese (von wem auch immer ausgelöstem) großem Leidensdruck stünden. Eingangs wird erwähnt, dass es sich Bei „FGCS“ um ein wachsendes Geschäftsfeld handele.
- Genitale Fehlbildungen bei der Geburt sind häufig Normvarianten ohne Krankheitswert. Chirurgische Eingriffe zu ihrer Korrektur sind deshalb nur dann indiziert, wenn die Korrekturen tatsächlichen Krankheitserscheinungen vorbeugen würden. Nicht gerechtfertigt sind Eingriffe um ein Geschlecht eindeutig festzulegen. Die bestehende AWMF-Leitlinie „Weiblichen genitalen Fehlbildungen“ hat allerdings nur Empfehlungscharakter.
Die Lösung der hier skizzierten juristischen Probleme (und damit ein effektiver Schutz der Unversehrtheit von Kindern), wäre sehr einfach:
Der Artikel 2.2 GG müsste nur durch einen ebenso eindeutigen Strafrechts-Paragrafen ergänzt werden. Etwa so: „Die Verletzung der Unversehrtheit bei Kindern wird verfolgt und bestraft. Ausnahmen sind nur bei streng medizinischen Gründen möglich.“