Coaching Essays
Inhalt
- Risiken abwägen
- Der Sehnsucht folgen
- Handeln, Nicht-Handeln, Probe-Handeln
- Beim Problem stehen bleiben und entspannen
- Den Stier bei den Hörnern packen
- Erfolgreich durch Selbstbeherrschung?
- Freier Wille?
- Unterscheiden, um zu verstehen
Risiken abwägen
Wenn wir bedroht werden, handeln wir reflexhaft. Oder emotional. Selten intuitiv, und nur sehr selten rational.
Z. B. haben Patient:innen Angst vor Krebs. Daher schätzen sie das relativ kleinere Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, meist höher ein, als das wesentlich bedeutendere Risiko, eine Herzerkrankung zu erleiden. Sie folgen dem Aufruf zur Mammografie, weil sie das Verhältnis von Nutzen und Risiken in ihrem Fall eindeutig für preiswert halten, obwohl es das oft nicht ist (Rosenbaum 2014 a, Mühlhauser 2012). Sie verschwenden keine Gedanken an Maßnahmen der Vorbeugung von Herzproblemen, die aber wesentlich wirksamer und nebenwirkungsärmer wären. (Rosenbaum 2014 b, Katz 2014).
Warum „denken“ wir Risiken nicht, sondern „fühlen“ sie, selbst dann, wenn wir damit so oft daneben liegen?
In Gefahr muss es schnell gehen. Wenn wir z. B. eine heiße Herdplatte anfassen, wäre „denken“ zu langsam. Besser zuckt die Hand sofort zurück. Für diese Spontanreaktion reicht das Nervensystem des Rückenmarks aus.
Wesentlich komplexere (aber etwas langsamere) Handlungsabläufe haben ihren Ursprung im unteren Teil des Gehirns. Dort, wo die „Automatiken“ der Atem und die Herzsteuerung angesiedelt sind. Wer mit diesen Stammhirnreaktionen angesichts von Problemen angreift, flieht oder sich tot stellt, kann auch nicht denken. Denn ihr oder sein Gehirn wird gerade mit Aggressions-Hormonen überflutet.
Erst wenn es gelingt den Stress etwas zu dämpfen, kann gefühlt werden. Dazu legen die Sinnesorgane sehr einfache Bilder im Mittelhirn ab, die lange bevor sie im Großhirn analysiert werden, Emotionen auslösen. Und die werden mit Erinnerungsbildern und Zukunftsvorstellungen abgeglichen. In diesem aktiven Hirnprozess entstehen Gefühle, wie Angst. Gefühle können im Gespräch ein anderes Gefühl, z. B. Zuversicht oder gar Neugier verwandelt werden. Auch Emotionen und Gefühle entstehen noch relativ schnell, aber deutlich langsamer als das Rückenmarktessreflexe und Stammhirn-Panik.
Auch die nächst höhere Analyse-Ebene ist bisher nicht das rationale Denken. Zunächst werden im Großhirn alle Informationen, die einströmen, und alle Bilder, die bisher schon in Erfahrungen aufgetaucht sind, unbewusst gleichzeitig verarbeitet. Viele Milliarden von Bits in einem Sekundenbruchteil. Weil es das kann, ist der Quantencomputer Gehirn jedem Laptop überlegen. Besonders Anteile der rechten Großhirnhälfte sind darauf ausgerichtet zu überprüfen, ob etwas stimmig ist oder nicht, ob zum Beispiel zu all dem Input aller inneren und äußeren Informationen ein bestimmtes Handlungsmuster genau zu passen scheint. Diese (begriffslose) Gesamtwahrnehmung kann man Intuition nennen. Sie führt oft zu sehr klaren Handlungsrichtungen und ist etwas anderes ist als ein „Bauchgefühl“. Im Gegenteil: bei intuitivem Handeln, das auf Training, Erfahrung oder dem „Glauben zu wissen“ aufbaut, werden andere „einfachere“ Handlungsmuster, „der Bauch“, die Emotionalität, die Stammhirn-Notfall-Reaktion und das Zucken der Reflexe beruhigt.
Aber auch Intuition oder der „gesunde Menschenverstand“ liegen oft falsch, und es wäre dann gut einzelnes zu benennen und damit Begriffe zu bilden, etwas genauer zu betrachten und zu analysieren. Das gelingt nur störungsfrei, wenn viel Zeit und Ruhe einkehren, und sich ein Sicherheitsrahmen bildet, in dem „gedacht“ werden. Denken ist langsam, wir schaffen es nur, wenn wir etwas rational abwägen, sieben Einzel-Bilder oder Begriffszusammenhänge gleichzeitig zu verarbeiten. Dazu benötigen wir vor allem Bereiche der linken Großhirnhälfte, wo unsere Sprachzentren liegen. Hier werden Begriffe gebildet und Symbole und Zahlen gegeneinander abgewogen. Das ist anstrengend und dauert. Besonders, wenn frau oder man versucht, selber-zu-denken, also Fragen stellt und nicht nur das nachbetet, was andere kluge Menschen, Experten, Meister, Gelehrte, schon als (ihre) Wahrheit erkannt haben. Denken erfordert aber nicht nur viel Energie und Ruhe, sondern auch Selbstbewusstsein, das in Zeiten großer Bedrohung (z. B. bei einer Krebserkrankung) fehlt. Zudem ist ein eindeutiger Nachteil von Nach-denken, dass es zu unbequemen Verhaltensänderungen führen könnte. Deshalb wird es oft gemieden.
Es ist also nicht verwunderlich, dass Herzerkrankungen niemanden interessieren, denn sonst müsste eigenes Verhalten oder gar die umgebenden Verhältnisse verändert werden: Ernährung, Umgang mit Stress, Suchtmittelkonsum, Karriereziele, Bewegungspraxis uva. Die Bedrohung durch Brustkrebs ist demgegenüber ungleich einfacher. Da gibt es einen klaren äußeren Feind, der schicksalhaft und ohne eigenes Verschulden auftaucht, und der früh erkannt und rechtzeitig bekämpft werden kann.
Engagierte Ärzt*innen, die es sich wünschen, dass ihre Patient*innen denken, müssen sie also erst einmal dazu befähigen. Sie müssen zunächst für Sicherheit sorgen und dabei helfen Stressreaktionen dämpfen. Indem sie ihre Patientinnen annehmen, Emotionen wahrnehmen und in Beziehung treten. Sie können dann dazu verhelfen, dass eine Lebenssituation verstanden wird, und sich daraus Handlungsoptionen ergeben, die in einem Gesamtzusammenhang Sinn ergeben.
Erst wenn das gelungen wäre, könnten sie Patient*innen helfen, einzelne Datenanalysen, z.B. Evidenz basierter Medizin, für sich zu bewerten. Versuchten gut-meinende Ärzt*innen dagegen ihren Patient*innen Publikationsdaten zu erläutern, wenn diese gerade zu klären versuchen, ob sie angreifen oder fliehen sollen, erzeugten sie noch mehr Stress.
Gerade bei ernsthaften Krankheiten ist eine beziehungsreiche Medizin wichtig.
Literatur
- Mühlhauser In Höldke B: Mammograhie Screening – Darstellung der wissenschaftlichen Evidenz -Grundlage der Kommunikation mit der der Frau. www.brustkrebs.info
- Katz M, Waingarten M: Misperception, misfearing, missed treatment, missed opportunities IJC Metabolic & Endocrine, Nov. 2014, 5:1-2
- Rosenbaum L (a): Invisible Risks, Emotional Choices – Mammography and Medical Decision Making, N Engl J Med 2014, 370 (16): 1549-1552
- Rosenbaum L (a): Misfearing: Culture, Identiy, and our percetions of health risks, N Engl J Med 2014, 370 (7): 595-597
Der Sehnsucht folgen
In Tansania lernte ich vor 30 Jahren einen Bauern kennen, der sehr erfolgreich barfuß laufend mit vergifteten Pfeilen Antilopen nachstellte. Er bot mir an, mit ihm durch den Busch zu pirschen, um im Kreis seiner Familie Hirsebier zu trinken. Der Gedanke an einen Tagesmarsch durch eine Gegend, in der es nur Trampelpfade gab, dafür aber reichlich afrikanische Wildtiere aller Sorten, war mir unbehaglich. Aber ich stimmte zu, und bereitete mich gut vor.
Mein neuer Freund fragte mich, bevor es losging, interessiert, wie Europäer sich denn so orientierten. Ich erzählte ihm, die machten es etwa so wie ich:
Von Ortskundigen hätte ich mir erzählen lassen, wo sein Dorf Mandawa liege, ich würde, falls ich ihn verlieren sollte, weiter den beschriebenen Wegen zu folgen. Und ich hätte auch eine Landkarte dabei, auf der sein Dorf sogar eingezeichnet sei. Außerdem wäre da, für alle Fälle, noch mein Kompass. Und damit könne ich mich, gut vorbereitet, nicht verlaufen, solange ich immer wieder überprüfte, wo ich gerade sei.
All das fand er lustig, denn so würde ich mich sicher verirren. Was andere sagten, habe mit mir doch gar nichts zu tun. Wege veränderten sich je nach Regenzeit, Landkarten seien nutzlos, weil man nicht wisse, wer da was gemalt habe, und ein Kompass sei auch überflüssig, weil es ja die Sonne und die Sterne gäbe.
Wie mache er das denn? Na, ganz einfach: er fühle sehr genau, wo er jetzt sei. Alles: oben, unten, rechts, links, vorn, hinten, alle Geräusche und Gerüche, die er gerade hier spürte, seien ihm vertraut. Und dann stelle er sich etwas vor: Mandawa, wieder mit allen Sinneseindrücken, die er so gut kennt, so als könne er das Hirsebier, den Maisbrei mit Bohnen und Hühnchensauce schon riechen, und das Geschnatter der vielen Stimmen bereits hören. Und dann gehe er los, und alle Bewegung passe zu dem, was er fühle. Welche Wege er da ginge, interessiere ihn nicht.
Ich verstand damals nicht, was er meinte, oder schon gar nicht, was er zu fühlen glaubte. Sein Gerede hatte mich nicht sehr überzeugt. Ich vermutete eher, dass er, wie wir in unseren Großstädten, regelmäßig den immer gleichen Weg gegangen sei, bis sich eine Automatik eingeschliffen habe. Also trabte ich halbwegs-vertrauensvoll hinter ihm her, und versuchte mit ihm Schritt zu halten, damit der Abstand zwischen uns nicht zu groß wurde. Für mich sah die flache Savannen-Landschaft erstaunlich gleichförmig aus, und die Bäume und das Gestrüpp blockierten jede Fernsicht. Er nutze aber keine Wege, sondern folgte nur verschlungenen Trampelpfaden, die Tiere hinterlassen hatten.
Markierungspunkte seiner kurvenreichen Wegstrecke waren für mich nicht erkennbar. Ich hatte keine Ahnung, wo wir herumliefen, und fühlte mich zunehmend unsicher. Vielleicht lief ich ja einem Irren hinterher? Aber unverhofft kamen wir tatsächlich an: Ich ziemlich erschöpft und erleichtert, er fröhlich und scheinbar unverbraucht.
Beim Hirsebier fragte ich dann noch mal nach: Nein, er habe tatsächlich keine heimlichen Markierungen in Bäume geschnitzt. Ja, er gehe nicht Schritt für Schritt auf ein Ziel zu, sondern das Ziel zöge ihn zu sich hin, so als sei an einem seiner Pfeile, die er von seinem Bogen abschießt, ein unsichtbarer Gummi-Faden, der direkt ins Schwarze saugt.
Bei vielem, was ich heute tue, erinnere ich mich an diesen alten, zähen Mann. In meiner Kultur habe ich perfekt gelernt, systematisch Schritt für Schritt, eins nach dem anderen, strategisch-zielorientiert zu planen und zu handeln. Ich kann Dinge anschieben und drücken, damit sie dahin rollen, wo sie sein sollen. Und wenn ich mich nur genügend anstrenge, gelingt es oft auch.
Dagegen war es mir lange fremd, darauf zu vertrauen, einer Sehnsucht zu folgen, oder besser: der Teil meines Ich, der sich bewusst nennt und zu begrifflichem Denken fähig ist, misstraute dieser angeborenen Kompetenz und tat sie als Intuition oder Bauchgefühl ab. Das aber ist Intension sicher nicht. Sie entsteht, glasklar und eindeutig, aus einer Verbundenheit mit der Dynamik, die sich gerade entwickelt, und in der sich die vielen Möglichkeiten, wie Eisenspäne in einem magnetischen Spannungsbogen, ausrichten.
Während ein Segler, der zielorientiert direkt auf seinen Hafen zusteuert, sich abmühen muss, weil er gegen die Widrigkeiten des Wetters ankämpft, setzt der, der seiner Intention folgt, nur kleine Akzente mit der Ruderpinne. Er nutzt die Energie der wechselnden Winde, Wellen und Strömungen für sich, und treibt schließlich dorthin, wo es ihn hinzieht.
Wanderer, es gibt keinen
Weg, der Weg entsteht beim Gehen.
Caminante no hay camino, el camino se hace al andar. Machado
Handeln, Nicht-Handeln oder Probehandeln
Handeln
Die Initiative ergreifen, etwas tun und den Fluss der Dinge in eine gewünschte Richtung lenken. Damit die Zukunft wird, wie sie sein soll.
Handeln ohne Fragen
Wir handeln meist, ohne vorher zu erfragen. Wir spulen einfach ab, was sich in der Vergangenheit bewährt hat. Es wäre viel zu schwierig und zeitraubend, immer wieder neu zu prüfen und zu entscheiden. Stattdessen lassen wir die antrainierte Automatik laufen.
So schauen wir zurück auf das bisher in der Vergangenheit erfahrene, und schreiten nach vorn. Das Einzige, das wir wissen können, liegt hinter uns, während die Entwicklung der Zeit unerbittlich entgegengesetzt gerichtet ist. Unsere Vorfahren (u. a. im alten Ägypten) konnten sich noch damit trösten, dass Zukunft und Vergangenheit in einem ewigen Kreislauf ineinander übergehen. Unser Zeitstrahl verläuft dagegen linear. Handeln erscheint uns daher als eine Aktivität, die aus dem Jetzt zu einem klaren Ziel führen soll, oder die dieses Ziel, wenn etwas schiefgeht, auch verfehlen kann.
Ziel-beseelt schalten manche vor dem Handeln das Denken aus und rennen „mit dem Kopf durch die Wand“. Diejenigen, die so etwas zufällig und erfolgreich überleben, werden bei besonders stark entwickeltem Wahn-Sinn als „Große“ bezeichnet: Alexander oder Karl oder Bonaparte u. v. a. Die Kollateralschäden, die so kranke Persönlichkeiten anrichten, werden meist geflissentlich übergangen, weil sie ihre Welt tatsächlich mächtig durcheinander schüttelten konnten.
Fragen ohne Handeln
Es ist natürlich auch möglich, ständig alles zu hinterfragen, ohne je zu handeln. Auch dieses Verhalten ist, für die Zauderer selbst und für ihre Umwelt, nicht besonders günstig.
Das größte Hindernis ist das Abwarten, das im Ungewissen bleibt und das Heute verliert. Seneca
Es tut einem Motor einfach nicht gut, wenn er immer wieder aufheulen muss, ohne dass die Kupplung getreten wird, um ihn zu belasten. Seine Lebensdauer sinkt. Und bewirkt wird nichts.
Endlos kreisendes Gefrage, das Handeln blockieren, führt selten zu etwas Gutem.
Nicht-Handeln und abwarten
„Aufmerksames Abwarten“, ist nur scheinbares Nichts-tun, das sehr wirksam sein kann.
Z. B. kann eine Mutter Zuversicht ausstrahlen, und allein durch ihre wortlose Geste dem Kind in einer fremden Umgebung Sicherheit vermitteln. Oder ein Segler kann, entspannt und gleichgültig mit der Ruderpinne spielt, und mit minimalen Anpassungen sein Boot an die Bewegungsdynamik von Wind und Wellen anschmiegen.
Wach dabei sein und die „Hände in den Hosentaschen lassen“, erfordert viel Erfahrung und Selbst-Vertrauen. Die Kompetenz, sich in einen Fluss des Geschehens einzufühlen und ihn mühelos mitzugestalten und zu beeinflussen, wächst nur langsam über Jahre.
Setze dich still hin. Tu nichts. Der Frühling kommt,
und das Gras sprießt ganz von alleine. Kushu
Konsequent Handeln
Es kann aber gleichermaßen überlegt und konsequent gehandelt werden.
Selbst, wenn sich eine heftige Störung oder eine große Gefahr ankündigt. Auch dann, wenn die sich bietenden Möglichkeiten abnehmen und das Wesentliche muss auf „auf den Punkt“ gebracht werden.
Das gelingt aber nur in Ruhe, selten in Stress und fast nie in Panik.
Schnell ist gut, Präzision ist besser! Lerne langsam zu sein, gerade in Eile!
Wyatt Earp
Experten-Handeln
Wir können in Gefahr annehmen, dass es genau diese Situation schon einmal gab. Dass also entweder wir oder von uns herbeigeholte Experten über die wesentlichen Informationen verfügen, und wir uns die fehlenden Daten schnell über Suchmaschinen besorgen können. D. h. im Prinzip ist uns klar, wie es ist, und was getan werden muss, um die Ziele zu erreichen. Wir müssen nur Handlungsanweisungen oder Leitlinien folgen oder vielleicht auch dem, was wir aus eigener Erfahrung gelernt haben.
Bei dieser Strategie ist uns klar, was richtig und falsch ist. Oder wir glauben an die Lehrer, Ärzte:innen und Expert*innen, die es besser wissen als wir. Wir, oder die, die uns leiten, kennen die Wahrheit, insbesondere dann, wenn sie in einem wichtigen Buch geschrieben steht. Idealerweise sind wir oder unser Expert:innen auf dem neusten Stand dessen, was man wissen kann. Wir (oder unsere Expert*innen) verfügen über ein unstrittiges Erklärungsmodell, in dem die genauen Diagnosen gestellt werden können. Dazu passen dann bewährte Lösungsmuster. Und die brauchen nur noch im Rahmen der Theorie auf den einzelnen Fall angewandt werden. Das Behandlungsschema für einen Patienten A passt dann auch für eine andere Patientin B.
Wir handeln im Prinzip so, als würden wir routiniert ein Baumarkt-Regal nach einem längst verinnerlichten Montageplan aufbauen. Dabei kann eigentlich nichts schiefgehen, weil „Regale immer so sind“, wie es auf der Betriebsanleitung aufgemalt ist. Bei dieser Art zu handeln, die ideal zu Notfällen und Reparaturen passen, stören kreative Fragen und eigene Ideen.
Probehandeln
Manchmal scheinen unser angelerntes Wissen und der Erfahrungsschatz zu dem, was da gerade geschieht, nicht richtig zu passen. Denn offenbar, ist vieles unklar, und es könnte noch vieles zu lernen geben, weil wir entscheidendes nicht wissen. Das macht uns Angst, weil die bisher bewährten Handlungswege offenbar ins Leere führen.
Weil wir aber handeln wollen, liegt es dann schnell nahe, alle störenden Fragen zu verdrängen, und schein-sicher geworden, mit Verschlimmbesserungen zu beginnen, die direkt zu neuen Problemen führen, die es vorher nicht gab.
Manchmal gelingt es aber auch, gerade in brenzligen Situationen, sich zu beruhigen, bevor etwas getan wird.
Situationen, die neu, ungewiss und komplex sind, erfordern Weitblick statt Tunnelblick. Also muss sich zuerst die Stressreaktion lösen. Das ist möglich, denn sie ist immer selbst gemacht. Wenn da gelingt, kann Offenheit entstehen, für das, was ist, und für das unbekannte, das die Zukunft mit sich bringen mag.
In eigen dynamischen Situationen sind alle Informationen, die wir besitzen, zwangsläufig sehr begrenzt, wenig belastbar und lückenhaft. Deshalb eignet sich unser Erfahrungshintergrund, der aus altbekannten Lösungsmustern entstanden ist, nur bedingt, für die günstige Beeinflussung der ungewöhnlichen Dynamik.
Kinder wissen, was in solchen Fällen zu tun ist: hellwach werden, frech denken, anderen zeigen, wie sie sich fühlen, und etwas ausprobieren. D. h. alles, was ist, gleichzeitig wahrnehmen, sich vorsichtig an etwas herantasten und Probehandeln. Kinder sind in Situationen, die nicht zu gefährlich erscheinen, an besorgten Expertenmeinungen nur wenig interessiert. Lieber gelangen sie in einen, langsam beginnenden, spielerischen Handlungsfluss, in dem sie ständig alles überprüfen und neu lernen. Sie verlassen sich nicht allein auf ihre in der Vergangenheit erworbene Kompetenz, wenn sie auf hohe Bäume zu klettern, in Tümpel hüpfen oder mit Schnitzmessern hantieren. Wilde Kinder verletzen sich erstaunlicherweise relativ wenig, wenn sie ausprobierend ihre Grenzen austesten. Dagegen sind Kinder, die immer genau das tun, was ihnen ihre Lehrer sagen, angesichts von Chaos (Natur, Realität) eher gefährdet.
Kindliches Probehandeln entwickelt sich aus der Vorstellung, dass das Meiste in dieser Welt noch unbekannt und komplex sei, und dass noch viel erforscht werden muss. Die kindlichen Glaubensmodelle sind bisher nicht besonders tragfähig, weil so vieles unvorhersehbar, ungeahnt und wechselhaft geschieht. Mit dieser unbekümmerten Einstellung zur Welt verlieren unbeweglichen Probleme, die Kinder behindern, an Bedeutung: es sind eben Bäume, Zäune oder Mauern, die im Weg herumstehen, und damit dazu einladen, umlaufen, erklettert oder übersprungen zu werden.
Probehandeln entsteht aus dem Gefühl der Neugier, in das Gefühl Angst übergehen kann, wenn es gelingt, Stress- und Panikreaktionen zu beruhigen. Auf Neugier folgt dann Überraschung und Freude und schließlich Stolz, wenn etwas gelingt.
Oder es kommt zu Misserfolgen und Fehlern. Die treten beim Experimentieren regelmäßig auf und sind ausgesprochen erwünscht. Bei vorsichtig-spielerischem Handeln bleiben sie klein und zeigen nur auf, was nicht funktioniert. Sie sind der Motor des Lernens.
Gegen Zielsetzungen ist nichts einzuwenden, sofern man sich dadurch nicht
von interessanten Umwegen abhalten lässt. Mark Twain
Beim Problem stehen bleiben und entspannen
Wenn ich eine Stunde hätte, um den Planeten zu retten,
würde ich 59 Minuten damit verbringen das Problem zu definieren. Einstein
Menschen, die ihre Probleme schnell und souverän abräumen, werden bewundert. Sie rennen offenbar besonders erfolgreich gegen die Schwierigkeiten an und überwinden sie. Oder sie ignorieren die Hindernisse, die ihren Zielen im Weg stehen, und „machen sie platt“. Sind die Probleme zu groß, müssen sie manchmal auch ausweichen. Oder sie rufen rechtzeitig nach jemandem, der das Problem für sie beseitigt.
Wie auch immer, es kommt offenbar darauf an, schneller, pfiffiger oder stärker zu sein als das, was behindert.
Traditionelle Problemlöser eilen angesichts des Hindernisses voller Hoffnung in eine erwünschte Zukunft. Wie ein Steinzeitjäger, der vor einem Höhlenbären steht. Ihm erscheint das Bild der Frau, bei der er liegen wird, und die für ihn, den Helden, dahinschmilzt. Oder er sieht sich schon vom Fleisch gesättigt am Lagerfeuer, wo die Stammesältesten seinen Erzählungen lauschen und ihn zum Führer wählen werden. Solche Visionen erleichtern es ihm, in eine Problemlöse-Trance zu verfallen. Er kann sich dann, vertrauend auf seinen Trainingszustand und langjährige Erfahrung, bedingungslos auf die Notwendigkeiten des Kampfes einlassen. Im Geist des Jägers ist der Problembär bereits erschlagen, bevor seine Keule ihn trifft.
Würden Probleme dagegen in der Gegenwart genauer betrachtet werden, verlöre man wertvolle Zeit. Oder?
Schwierigkeiten sind schließlich ärgerlich, unangenehm oder bedrohend. Deshalb verliert jemand, der eine Fliegenklatsche besitzt, keine wertvolle Zeit mit der Betrachtung des lästigen Flugobjektes, das ihn gerade nervt.
Theoretisch könnte man natürlich auch bei dem Problem stehen zu bleiben und nicht handeln. Damit würde aber das, was gerade getan wird, unterbrochen. Die bisher festgelegte Zielerreichung wäre dann gefährdet oder zumindest verzögert.
Dafür würde man die Details des Hindernisses wahrnehmen. Neben der Blockade „da draußen“ stünde nun ein Betrachter, ohne den es das Bild, das er sich von der Situation macht, so nicht gäbe. Das Problem-Objekt und der Betroffene entwickelten eine Art von Beziehung. Das kann zu Überraschungen führen.
Für Jäger, die Wölfe für gefährlich halten und deshalb erschießen, erscheint jemand, „der mit dem Wolf tanzt“ verrückt zu sein. Und auch bedrohlich, denn die ungewöhnliche Verwandlung einer Situation erschüttert das angesammelte Wissen über richtiges Verhalten. Es löst Misstrauen und vielleicht auch Angst aus, wenn jemand den „bösen Wolf“ in einen wertvollen Partner verzaubert. Denn es stellt die Art, wie schon immer gehandelt wurde, in Frage.
Es scheint für die meisten logisch zu sein, auf einen Schlangenangriff mit einer Schlangenverteidigung zu antworten. Mungo’s tun das gerade nicht, denn sie sind deutlich langsamer als Schlangen. Trotzdem sind sie Schlangen weit überlegen. Reptilien legen sich mit ihren Primitivprogrammen immer wieder zu schnell fest, bis ihre Energie nachlässt. Die intelligenteren Mungos verstehen die Bewegungsmuster der Schlange. Deshalb können sie provozieren, auszuweichen, spielen und sich der Situationsdynamik anpassen. Sie sehen, was die Schlange tun wird, bevor sie es tut. Und passen ihre Bewegungen den Notwendigkeiten an, weichen aus und sind trotzdem wieder voll da. Sie verleiten die Schlange zu Richtungsentscheidungen, die Erfolg versprechend zu sein scheinen, aber ins Leere laufen. Und dabei bleiben sie entspannt und verbrauchen, nachgebend, so wenig Energie wie möglich. Schließlich, mit zunehmender Erschlaffung des Gegenübers, übernehmen sie die Führung und verwandeln die Situation zu ihren Gunsten.
Menschen in Lebenskrisen sind solche Kampftechniken egal. Sie fühlen sich direkt bedroht, benötigen jetzt eine Lösung und haben keine Zeit, Verhaltensweisen zu trainieren. Genau hier liegt eine große, zusätzliche Gefahr. Denn je geringer das Selbstvertrauen und je größer die Unsicherheit, desto eher wird beim Problemlösen auf bewährt-veraltete und wenig wirksame Lösungsmuster zurückgegriffen. Das Blickfeld verengt sich auf eine Röhre, die nur das Ziel erkennen lässt. Es wird verzweifelt im Google-Heuhaufen gestochert, und dann werden Programme abgespult, die in der Vergangenheit so oft erfolgreich waren. Solange nichts wirklich Bedrohliches geschieht, wird es auch dieses Mal schon gut gehen. Das Klammern an Strohhalmen, die sich dann als untauglich erweisen, verschlechtert dann die Situation noch weiter.
Wenn es die gerade eingetretene Krise noch nie gab, die Kollateral-Schäden der alten Problemlösestrategien zu groß werden oder die Orientierung verloren ging, lassen sich Probleme nicht mehr „mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“ (Einstein). Spätestens dann wäre es an der Zeit, die Probleme zu untersuchen, statt zu handeln. Obwohl, oder besser „gerade weil“, die Not so groß ist.
Das erfordert ein gewisses Maß an Sicherheit. Die Bedrohung darf nicht zu groß oder zu unmittelbar sein. Es ist schon etwas Selbstvertrauen nötig. Und die Ungewissheit der Zukunft muss sich in Grenzen halten. Um eine Beziehung mit einem Problem aufbauen zu können, muss die Situation stabilisiert werden. Es ist nötig, Zeit zu gewinnen und sich aus dem Herumgewirbelt-werden vorübergehend an einen ruhigen Ort zu begeben. Am besten dorthin, wo auch etwas Halt verfügbar ist.
In der Zeitspanne, die sich dann eröffnet, muss nicht gehandelt werden. Es reicht völlig aus, all die Informationen, die gerade einströmen, wahrzunehmen, zu sortieren, und das aus zumüllen, was nicht nötig ist. Ultraschnelle Notfall-Verhaltensmuster (Aggression, Flucht, Panik, Ohnmacht) lassen sich dadurch, und mit etwas Unterstützung, besänftigen.
Ist es dann gelungen, das Krokodilhirn langsam etwas zu beruhigen, treten die Gefühle in den Vordergrund. Angesichts schwieriger Probleme sind es häufig Angst, Wut, Ärger oder Trauer, die sich oft in Tränen oder Verzweiflung äußern. Gefühle können wir anderen vermitteln, die uns anhören und fühlen, was wir gerade empfinden. Das hilft uns, vorherrschende Gefühle in andere zu verwandeln. Etwa Angst in Neugier. Nachdem dann auch die Gefühle etwas geglättet sind, mag es tatsächlich möglich sein, sich „neben das Problem zu stellen“. Es in Ruhe wahrzunehmen, mit all seinen Schattierungen und Facetten.
Ruhe wirkt gerade dann heilsam, wenn es gefährlich wird. Sie erlaubt es uns, Probleme anzunehmen und die Einstellungen zu verändern.
Nicht wie die Dinge wirklich, sondern wie sie in unserer Vorstellung sind,
macht uns zufrieden oder unzufrieden. Epiktet
Den Stier bei den Hörnern packen
In Spanien soll es zwei bedeutende Stierkampfschulen geben.
Die eine soll lehren, wie man Stiere bei den Hörnern
ergreift und zum Stehen bringt.
Die andere unterrichte das Gegenteil: Es sei besser Stieren im richtigen Moment
geschickt auszuweichen.
Leider, so sagt man, sei die erste Schule vorübergehend geschlossen worden, weil die großen Meister gestorben seien.
Diese Torerogeschichte wird gerne von einem erfolgreichen Kampfsportler (Ralston) erzählt. Er glaubte sich als Jugendlicher beweisen zu müssen, dass man eine Freestyle-Weltmeisterschaft nicht nur überleben, sondern auch ohne Knochenbruch gewinnen kann. Nachdem er das später tatsächlich geschafft hatte, perfektionierte er (klüger geworden) widerstandsfreie, mühelose Formen effektiver Bewegungen („Effortless Power“).
Sein Konzept (das in vielem dem Stil von Mohammed Ali ähnelte) wirkte zunächst auf andere Boxer, Ringer, Yudoka und Karateka paradox. Es widersprach ihrer alt hergebrachten Strategie: „Mit hohem Kraftaufwand Bretter durchschlagen und ultraflink reagieren“.
Kampfsportler des alten Stils trainieren das, was wir auch aus dem Büroalltag kennen: dem Gegenüber überlegen sein und ihn durch Muskelkontraktion, List oder Schnelligkeit zu besiegen. Die Alternative „Entspannen gerade dann, wenn es spannend wird“ hörte sich lebensfremd an. Es schien dem Bauchgefühl zu widersprechen und auch unserem Handlungsprogramm, das wir im Laufe der Evolution erlernt haben: „Den Problembären erschlagen“.
In Europa wird rohe Gewalt seltener eingesetzt als bei unseren Vorfahren, aber wir wenden (psychologisch-verfeinert) weiterhin die gleichen Kampfprinzipien im Büro-Stress oder im Beziehungsgerangel an. Wie vor Millionen von Jahren geht es dabei im Wesentlichen darum, den Gegner „zu entspannen“. Solange, bis er endlich kollabiert, ohnmächtig oder um Gnade jammernd am Boden liegt, und wir über ihn zum nächsten Sieg hinwegschreiten können. Solche Kämpfe sind bis heute üblich, und unschön, weil immer einer der Kontrahenten (mindestens psychisch) verletzt wird, und auch die Sieger meist unangenehme Kollateralschäden davon tragen.
In China hatte man sich schon vor einigen Jahrhunderten Gedanken gemacht, ob auch ein geschickterer Umgang mit Aggression möglich sein könnte, mit geringstem Energieaufwand. Aus den dortigen Experimenten entstanden die vielen Varianten des „Schattenboxens“ (Taiji), oder u.a. auch die von einer Frau erfundene Methode sich brutaler Männer zu erwehren (Wing Chun). In der russischen Armee wurden all diese Techniken analysiert und zu „Systema“ zusammen gemixt. Systema zeichnet sich durch hohe Effektivität aus, aber leider nicht durch moralische Werte. Deshalb kann es auch weltweit von mehr oder weniger sympathischen Sondereinheiten trainiert werden.
Taiji und Systema (und die vielen ähnlichen Arten entspannter Kraftanwendung) zeigen jedenfalls, dass „Mühelose Stärke“ nichts mit Mystik zu tun hat und sehr wirksam in der Praxis eingesetzt werden kann. Die biomechanischen Grundlagen sind relativ einfach: strukturelle Aufrichtung, Wirkung der Schwerkraft, im Prozess mit fließen und Energiespeicherung und -abgabe in spiraligen Dehnungen von Faszien uva. Die psychologischen Effekte und Auswirkungen sind jedoch weit erstaunlicher. Das Training erfordert aufmerksame Gelassenheit, emotionale Ruhe und die Entwicklung einer sehr klaren Intention. Das zu üben kann schließlich mit den Jahren die Persönlichkeit beeinflussen und verändern. Sobald Souveränität und Selbstsicherheit zunehmen, verliert sich die Angst vor möglichen Gegnern, und auch die Bedeutung von Gewinn und Verlust. Von einem Schwertmeister wie van Sickel ging und geht keine Gefahr aus für andere aus. Im Gegenteil, Menschen wie er wirken beruhigend, weil sie in sich ruhend möglicherweise aggressive Gegner nur ins Leere laufen ließen. Ein Angriff würde nicht mit Wut vergolten werden, und es gäbe beim anderen nicht mehr Schäden, als zum Selbstschutz unbedingt nötig wären. Zu erleben wie man sich sicher behaupten kann, ohne zu kämpfen und ohne anderen zu schaden, kann selbst bösartig eingestellte Menschen verwundern. Und allein dieser Effekt entschärft eine riskante Situation.
„Mühelose Stärke“ im Kampfsport anwenden zu können, erfordert langes, geduldiges Training. Der Trost eines alten Bogensport-Meisters („Ja, ja, die ersten dreißig Jahre sind die schwierigsten!“), schreckt viele ab, die nach schnellen Lösungen suchen.
Aber es ist relativ schnell möglich, die psychologischen Hintergründe zu verstehen und sie im normalen Alltag (außerhalb des Kampfsports) anzuwenden. Dazu eignet sich z. B. „Gewaltfreie Kommunikation“ nach Rosenberg, die auf einem Prinzip beruht, das auch im Taiji von entscheidender Bedeutung ist: Außen und innen können entkoppelt werden, z. B. die Beobachtung von Gefühlen. D. h. es ist möglich, bei den unmöglichsten äußeren Gegebenheiten ruhig und gelassen zu bleiben. Unter der Voraussetzung, dass gefühlt und gespürt wird, was innen geschieht. Wenn das gelingt, kann auf der Basis eines klaren und entspannten Standpunktes eine Bitte geäußert werden, die weder Angriff noch Rückzug enthält.
„Gewaltfreie Kommunikation“ und andere intelligente Veränderungen der Austragung und Lösung von Konflikten sind vielfach als wirksam erprobt. Trotzdem ziehen es die meisten weiterhin vor, wie seit Urzeiten Stiere bei den Hörnern zu packen: in der realen Politik, in Kriegen, im Gerangel um Karriere und beim Sich-Zerfleischen in zerrütteten Beziehungen.
Erfolgreich durch Selbstbeherrschung?
Vierzig Jahre nach dem ersten „Marshmallow Test“ ist es jetzt endlich bewiesen:
(Selbst-)Beherrschte Menschen scheinen erfolgreich zu sein. Schon als Kinder hoffen sie auf fernes Glück. Sie glauben Respektspersonen, die ihnen künftige Süßigkeiten versprechen. Dafür nehmen sie eine schwierige Gegenwart in Kauf.
Die im „Hier & Jetzt“ leben, und unbeherrscht zugreifen, erklettern keine Karriereleitern. Und sie häufen deutlich weniger Reichtümer an.
In modernen Zeiten scheint die „protestantische Ethik“ der Entsagung, der „katholischen Ethik“ des kontrollierten Sündigens (und Beichtens) deutlich überlegen zu sein. (Selbst-)Beherrschung und Glaube an einen fernen Lohn sind die geistige Voraussetzung des Kapitalismus (Max Weber, 1920). Und natürlich ebenso der großen hierarchischen Institutionen, die das Chaos der Marktdynamik durch schwer-bewegliche Machtgefüge stabilisieren.
Welches Verhalten macht „glücklich“?
Menschen, die etwas mögen, was jetzt gerade da ist, sind zumindest nicht unglücklich (Watzlawick 1983). Das Glückshormon Dopamin wird aber in Erwartung, dass etwas Schönes geschehe, ausgeschüttet, und nicht dann, wenn das Bedürfnis gerade befriedigt wird (Sapolsky 2011). Es ist die Aussicht auf Genuss, die „glücklich“ macht und nicht die anschließende Bedarfsbefriedung selbst.
Kinder, die rasch nach dem „Marshmellow“ vor ihrer Nase greifen, gleichen unseren Vettern, den Bonobos, die ständig Spaß an Sex haben, aber nicht gewillt sind, dafür Arbeit zu leisten. Menschen können sich dagegen auch in Bilder idealer Partner:innen verlieben, und dann viele Mühen und Gefahren auf sich nehmen, bis es viel später einmal zur Erfüllung kommt. Wird dann die Bedürfnisbefriedigung langfristig garantiert, entsteht oft Langeweile. Jeden Tag „Marshmellows essen“ verliert auch an Reiz.
Möglicherweise ist den „Marshmellow-Wissenschaftlern“ etwas entgangen: Könnte es eine kleine übersehene Minderheit von Kindern geben, die die angebotenen „Belohnungen“ blöd finden? Zum Beispiel, weil sie etwas Sättigendes essen wollen, weil sie Hunger haben, oder keinen Spaß dabei empfinden zu essen, wenn sie gerade satt sind?
Schließlich wird der Bedarf „Nach Marshmellows verlangen“ nicht vererbt. Ich habe ihn z. B. nie verspürt.
Kinder kommen mit Grundbedarfen (wie Wasser und Nahrung) auf die Welt: Sie wollen, damit sie wachsen können, süß-fettige Milch und innige Bindung. Bei „Leckereien“ ist es umgekehrt: Zuerst wird ein Produkt erzeugt, das erst durch seine Existenz einen starken Wunsch nach Besitz auslöst: Ohne Vanille-Eis gäbe es keinen Bedarf nach Vanille-Eis.
Im Laufe der Erziehung wird in unserer Kultur dann die Wahrnehmung der Grundbedarfe immer stärker durch die Vorstellung der Produkte überlagert. Die Illusion etwas haben zu müssen, verdrängt die Fähigkeit, zu spüren, was eigentlich gebraucht wird.
Könnte es Kinder geben, die von dieser, uns normal erscheinenden, künstlich erzeugten Bedarfskultur deutlich weniger angesprochen werden? Die ihre Grundbedarfe wahrnehmen und sie von den äußerlich erzeugten und aufgedrängten Bedürfnissen unterschieden? Die also das weglassen, was sie nicht benötigen?
Das ließe hoffen. Denn unsere Gesellschaften werden zwangsläufig gesundschrumpfen, entweder früher („by design“), oder später („by diseaster“). (Meadows 1972, Sommer 2014, Welzer 2013). Und für gleitende Übergange, die sich alle wünschen müssten, wären mehr Menschen nötig, die sich von äußerer Bedarfslenkung lösen können.
Wir benötigen also mehr Kinder, die ihren Versuchsleiter:innen mitteilen, dass sie auf deren „Marshmellows“ oder Plastikspielzeug verzichten, und lieber essen und spielen gehen.
Literatur / Video:
- Sommer B, Welzer H: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. Oekom, München 2014
- Vortrag Harald Welzer 2013
- Sapolsky R. Dopamine Jackpot! The Science of Pleasure, ForaTV 2011
Freier Wille?
Was alle Lebenden beschäftigt und in Bewegung hält ist das Streben nach Daseyn. Mit dem Daseyn, wenn es ihnen gesichert ist, wissen sie nichts anzufangen.“ Die Welt als Wille und Vorstellung, Artur Schopenhauer, 1819
Wir möchten so gerne tun, was wir wollen.
Aber wissen wir „eigentlich“, was wir „wirklich“ wollen? Oder wollen wir nur das, was wir sollen? Sicher ist: Das meiste, was uns zur Handlung drängt, bleibt unbewusst.
Darwin beschrieb blinde Triebkräfte der Evolution, deren einziger Zweck zu sein scheint, möglichste viele Kopien herzustellen, oder die Originale so zu verändern, dass lawinenartig noch mehr Kopien entstehen. Darwin wurde von Gläubigen heftig widersprochen, weil sie in seiner scheinbar „sinnlosen Welt“ keinen Platz mehr für ihren Schöpfer sahen. Die Evolution bewies zwar nicht, dass es keinen Gott gibt. Aber bei Anwendung des philosophischen Radiermessers (Occam) war Er (oder Sie) für die Erklärung der Entstehung der Arten absolut entbehrlich geworden.
Seither hat sich das Prinzip der Evolutionstheorie als Modell der Entwicklung des Lebens vielfach bewährt, auch wenn sich bestimmte Aspekte, wie der „Sozialdarwinismus“ u. a., als gefährlicher Unsinn erwiesen. Vor dreißig Jahren provozierte dann Dawkins mit der These, dass wir nichts weiter seien, als die Überlebensmaschinen unserer Gene. Damit vereinfachte er die komplexen Zusammenhänge von Ökosystemen gewaltig, so als seien winzige Informations-Schnipsel das Entscheidende, was das Leben ausmacht. Diese holzschnittartige Grobzeichnung, verdeutlichte in schonungsloser Weise, wie absichtslos, wertfrei und zufallsabhängig Entwicklungen geschehen. Z. B. besitzt die Libelle den genialsten Flugapparat, der aber vom Aussterben bedroht ist, während Gensequenz, die die vergleichsweise primitivere Flügelmechanik der Stubenfliege kodiert, wesentlich erfolgreicher kopiert wird.
Allerdings sind Gene nur einer vieler Teile und Beziehungen lebender Systeme.
Menschen besitzen zwar doppelt so viel Gene wie ein Regenwurm, aber viermal weniger als der stumpfe Lungenfisch. Und vom Schimpansen unterscheiden wir uns auch nicht so sehr durch die Gen-Stücke, die Eiweiße codieren, sondern eher durch die Art des riesigen Datenmülls in den Informationssträngen, den bisher noch keiner richtig versteht. Gene gleichen den Tasten eines Klaviers, mit denen sehr unterschiedliche Musik gespielt werden kann. Der Kontext, in denen Gene an- und abgeschaltet werden, scheint ebenso bedeutend zu sein wie die Information selbst. (Rose, Systembiologie).
Die Vorstellung vom Gen lässt an etwas Statisches denken wie eine CD mit Daten. Die Realität von Selbstorganisation in Zellen, Lebewesen und Gesellschaften wird jedoch durch dynamische Fließgleichgewichte bestimmt. Am Anfang des Lebens war nicht das Wort oder das Gen. Es kam in der Evolution erst später ins Spiel, als es bereits Zellen gab, die bereit waren, es zu empfangen. Ob Gene aktiviert werden oder nicht, entscheidet sich bereits im Mutterleib (Epigenetik). Ein Großteil des menschlichen Genoms befindet sich außerhalb des Körpers (Mikrobiom) und die Miniorgane im Inneren unserer Zellen (Mitochondrien), mit denen wir Sauerstoff verarbeiten, sind ehemalige Bakterien mit einer eigenen Erbmasse (Endosymbiose). „Wir“ sind also viele in unserer Zellkolonie.
Für die Entwicklung von Leben scheinen Zusammenhänge, Kontext und Wechselwirkungen aller Zellstrukturen und ihrer Umgebung ebenso wichtig oder gar bedeutender als Gene. Maturana beschrieb, wie Lebewesen sich selbst in ihren Wachstumsstrukturen immer wieder neu erzeugen und erschaffen (Autopoiese), und dabei mit anderen kommunizieren und kooperieren. Das „Prinzip der Durchsetzung des Stärkeren“ (survival of the fittest), spielt in der Evolution keine wesentliche Rolle, stattdessen scheinen wir „miteinander Zusammenlebende in einer kooperierenden Welt“ zu sein (Margulis). In der Natur scheinen Beziehungen und gegenseitiger Nutzen wichtiger zu sein als Kampf und Konkurrenz. (Bakteriensprache). Aber natürlich sind wir auch genetisch mit-bestimmt, und haben dort, wo es so ist, wenig und manchmal auch gar keinen Handlungsspielraum.
In Anlehnung an das Gen, die Grundeinheit zellulärer Information, wurden später Meme definiert (Blackmore). Diese „Gedankenwesen“, oder wissenschaftlich korrekter „kognitiven Schemata“, führen ein scheinbares Eigenleben und infizieren ihre Trägerstrukturen: die Gehirne.
Nicht
der Sänger schenkt dem Lied das Leben, sondern das Lied vielmehr schenkt Leben
dem Sänger.
Mihály Babits
Die Tastaturen aller deutschen PC’s sind mit einem Mem verseucht: „QWERTZ“. Diese Buchstabensequenz wurde mit dem Beginn der Konstruktion von Schreibmaschinen eingeführt, um die Schreibgeschwindigkeit von Sekretärinnen an die der damals noch trägen Maschinen anzupassen. Heute widerspricht Qwertz jeder Logik einer sinnvollen Tastenanordnung, aber es ist so fest etabliert, dass niemand es beseitigen könnte, selbst auf den virtuellen Tastaturen der Smartphones nicht. Die einzige blinde Triebkraft für ein Mem sei, wie beim Gen, in möglich viele Kopien verbreitet zu werden: als Religion, Wissenstheorie, Medienbotschaft, Mode, Ideologie, Gerücht, Trend, Schlager usw. Manche kulturellen Überzeugungen, hielten sich so über tausende Jahre, wie der Glaube an den Nutzen von Genitalbeschneidungen, und andere vorübergehend auch sehr erfolgreiche, wie Epikurs Glücksphilosophie, verschwanden vorübergehend völlig und flackerten dann nur gelegentlich in Bruchstücken noch mal auf. Auch das erinnert an die Evolution. In dem Jahrhundert nach Darwin wurde die Bedeutung der Genetik für die Verbreitung menschlicher Phänomene überschätzt. Kulturelle Errungenschaften verbreiten sich ungleich schneller. Das Auftauchen, die Ausdehnung und der Niedergang von Völkerschaften wie den Kelten oder den Franken haben mit Sprache, Kultur und Religion zu tun, und nur (wenn überhaupt) sekundär mit der Verbreitung eines Genpools.
Der Mathematiker Mérö erweiterte das Konzept evolutionärer Reproduktionen noch um die Mone. Darunter versteht er „Wirtschaftswesen“. Auch das, Genen und Memen vergleichbare, Kapital strebe danach, in möglichst vielen Kopien vermehrt zu werden. Es erschaffe sich dazu die notwendige Hardware: die Unternehmen, Maschinen, Arbeiter etc. Und damit ließe es unendlich viele Waren und Dienstleistungen produzieren, die letztlich einem einzigen blinden Zweck dienen: mehr Kapital anhäufen (Shareholder Value).
Gene, Meme und Mone beschreiben Replikatoren von Information, die emotions- und sinnlos vermehrt werden, indem sie sich von Informationssträngen, wie Zellen, Hirnen, Konzernen multiplizieren lassen. Über die Produktion immer neuer Kopien hinaus haben sie kein Interesse an ihren Trägerstrukturen. Schimpansen sterben, sobald sie zu alt sind, um sich zu reproduzieren, und Menschen werden nur deshalb älter, weil Großmütter zur Übertragung kultureller Meme erforderlich waren, und das menschliche Gen sonst keine Verbreitungschance gehabt hätte (Gruppenselektion). Lebensglück im Sinne der Gene hieße, Attraktivität zu besitzen für die richtige Partnerwahl, imponierendes Rollenverhalten präsentieren zu können, Potenz zu haben und die Fähigkeit, Kinder zu zeugen, zu gebären und aufzuziehen. Damit hätte „die Hülle um das Gen herum“ ihren Zweck erfüllt und könnte abtreten.
Auch Meme wären letztlich nicht an ihren Datenträgern interessiert, solange sie nur weitergetragen werden. Für ein Mem könnte es z. B. gut sein, wenn viele in einem „Heiligen Krieg“ für es sterben. Denn der blutige Aufwand rechnete sich dann in Form vieler neuer Mem-infizierter Menschen. Die wichtigen Meme verkünden uns, dass es ein Segen sei, möglichst viele Mem-Botschaften an zahllose Personen zu verschicken und wieder empfangen zu können. Missionare übertragen sehr eng begrenzte Mem-Geflechte, Gedanken-Konstruktionen, die sich möglichst wenig verändern sollen, weil sie wahr seien. Twitter dagegen ist eine der vielen Mem-Maschinen, die scheinbar selbstorganisiert ein weltumspannendes Gehirn mit die beliebigen Gedankenfetzen überschwemmen. Gemeinsam ist ihnen: „Wer die meisten Klick-Zahlen erreicht, ist der erfolgreichste“. Unglück im Sinne der Mem-Theorie würde bedeuten: Alle Freunde:innen bei Facebook verloren zu haben und einsam vor der Mem-Maschine Fernseher Trübsal zu blasen, weil „kein Schwein anruft“.
Mode, Trends, Mainstream und Medien sind heute wichtiger als Gene. Es nicht mehr nötig, zehn Kinder zu zeugen, um „in“ zu sein. Aber noch bedeutsamer sind offenbar die Mone, um die sich heute alles zu drehen scheint: Erfolg, Glück und Lebensinhalt. Wer genug Mone besitzt, kann sich wie Berlusconi die nötigen Memes kaufen, und natürlich auch tolle Partner:innen, Gesundheit, Segelboote, Fernreisen, Sex, Erfolg, u. v. a. Eigentlich müssten Lottogewinner glücklicher sein, als der Rest der Menschheit, sind sie aber nicht.
Auch für Mone wäre es unwichtig, ob eine Firma überlebt oder nicht, ob Arbeiter entlassen werden, oder ob sie unter miserablen Arbeitsbedingungen in Billiglohnländern leiden, oder ob der, der ein Vermögen in heftigstem Stress zusammengeklaubt hat, schließlich im „Burn-out“ zusammensackt. Hauptsache das Kapital hat sich vermehrt.
Allerdings gibt es Gene, Meme und Mone gar nicht. Von ihrer Umgebung abgelöst sind Nukleinsäuren, CD-Roms oder Münzen, nichts als tote Objekte ohne Funktion und Eigenleben: Nichts weiter als Symbole für verschiedene Arten von Kommunikationen und Beziehungen komplexer Systeme. Raster-Brillen, die es erlauben, eine Art der Wirklichkeit zu betrachten, in der nur hervorgehoben wird, was betrachtet werden soll.
Wissenschaftliche Erkenntnis braucht solche vereinfachenden, anschaulichen Modelle, die etwas Einzelnes herausgreifen (Reduktionismus). Aus vielen solchen Einzelbeobachtungen wird dann eine übergeordnete Theorie entwickelt, wie die Welt funktionieren könnte (Modellabhängiger Realismus). Wissenschaft endet aber dort, wo die Ideologie oder die Lehrmeinung beginnt, d. h. dort wo die Ergebnisse reduzierter Beobachtungen, und die davon abgeleiteten Theorien, mit der Realität selbst verwechselt werden.
Die anschaulichen Gene, Meme und Mone reichen für das Verstehen dieser Welt nicht aus. Leben, Kultur und Ökologie wachsen und verändern sich in komplexen und miteinander verwoben, vielgestaltigen Systemen, die einander beeinflussen.
Verengt sich damit der persönliche Gestaltungsraum noch
mehr?
Das hängt davon ab, was wir unter einem Ich verstehen, das in einem Raum
handeln will.
Manchen Physikern erscheint die Welt als gigantischer Austausch von Informationspartikeln. (Zeilinger) Das Bewusstsein könnte Teil eines dynamischen Beziehungstanzes von Subjekten und Objekten sein, die es alleine nicht gibt. (Noë). Hirnprozesse dienen nahezu ausschließlich der Erzeugung komplexer Bewegungsaktivität (Wolpert). Auch Denken in Worten scheint nichts anderes zu sein als schwache (stumme) Aktivierung von Kehlkopfmuskulatur-Programmen. Leben erscheint bei immer genauerer Betrachtung als Schwingung, z. B. der des Hirns u. v. a., die in Schwingungen mit anderem verbunden ist. (Buzsaki). Hirnforschung hat sich längst in Beziehungsforschung verwandelt, die motorische und informationsverarbeitende Zellen beobachten, die das Umgebende spiegeln und mit ihm in Wechselwirkung treten (Fuchs). „Wir“ existieren bewusst gar nicht, weil das Bewusstsein immer Sekundenbruchteile hinter dem Geschehen her hinkt. Das „Jetzt“-Gefühl, des Bewusstseins bedeutet nur, dass es eine sehr persönliche Konstruktion der Vergangenheit gibt, die oft trügt, z.B. wenn gesagt wird „ICH habe das gewollt, was ICH gerade getan habe“. Die Aufgabe des Hirns ist aber nicht das Jetzt, sondern vorherzusagen, wie es sein wird. Offenbar erfährt das Geflimmer im Hirn nicht etwas und handelt dann. Auf etwas zu reagieren wäre viel zu langsam und meist zu spät. Passend zur Zukunftsvorhersage scheint es umgekehrt so zu sein, dass erst ein Sog entsteht, etwas tun zu wollen (predictive imperative). Dann erweitert sich der Sog in ein passendes Bewegungsprogramm, durch dessen Aktivierung anschließend ein weitgehend automatisches Bewegungsmuster abläuft (Llinás). Das Bewusstsein beobachtet solche Prozesse, die geschehen, und behauptet anschließend sein Regisseur gewesen zu sein.
Sind wir also tatsächlich nur Sklaven äußerer Einflüsse, wie ein herrenloses Schiff, das von Wellen und Wind herumgeschubst und getrieben wird?
Die evolutionären Triebkräfte scheinen uns ja etwas Freiheit zu lassen. Sie besteht darin, die jeweils richtige Auswahl zu treffen, die es erlaubt, weitere Kopien zu erstellen, wovon auch immer. Wir können tun und lassen, was wir wollen, solange wir uns vermehren, einen guten Eindruck machen und dabei auch noch Geld verdienen. Andere behaupten, genau das sei unfrei und predigen seit 3.000 Jahren radikale Askese und Weltentsagung (Mahavira): ein besonders erfolgreiches Mem.
Gibt es also doch keine Alternative zu Genen, Memen und Monen?
Der Mensch wird ganz er selbst, wenn er sich aufgibt. (Frankl).
Viktor Frankl hatte in größter Unfreiheit, im KZ, den „Sinn“ entdeckt. Darunter verstand er Verknüpfungen und Beziehungen mit etwas anderem, Lebewesen, Prozessen, Aufgaben, denen ebenso große Bedeutung beigemessen wird, wie dem Ich selbst. Diese Vorstellung unterscheidet sich von der des statischen Mems, weil dabei Veränderung und Wachstum betont werden. Die Freiheit des Menschen entstünde, nach Frankl, in der verbindenden Auflösung des Ichs in sinnvollem Tun. Die Vorstellung vom Sinn passt gut zur Intension, dem nicht-bewussten Sog des Gestaltungswillens, den Hirn- und Bewegungsforscher beobachten und Menschen spüren, wenn sie sich im Flow befinden. Wenn Intension geschieht, entsteht Bewegung, und wenn diese auch noch sinnvoll ist, erweitert sich die Zahl der Möglichkeiten. So als würden Segel am Wind ausgerichtet und das Ruder angelegt: Plötzlich kommt Fahrt auf.
Freiheit ist nicht, sie wird.
Unterscheiden, um zu verstehen
Vor 2.500 Jahren behaupteten Philosophen in Griechenland (Heraklit u. a.), Indien (Mahavirau.v.a) und China (Zhungahzi u.a.) „Alles sei eins“. Sie hatten damit die menschliche Weltanschauung neuentdeckt und weiterentwickelt, die bis zur Vertreibung aus dem Paradies vorherrschte (neolithische Revolution). Die Ergebnisse von über 100 Jahren neuer Physik, scheinen im Wesentlichen zu bestätigen, dass alles (inklusive von Zeit und Raum) in einem dynamisch wachsenden System miteinander verbunden zu sein scheint. Etwas, das von allem anderen getrennt ist, wurde bisher nicht beobachtet.
Begriffliches Denken führt leicht zu Missverständnissen. Jedes Wort greift nur einen winzigen Aspekt der Realität und ihrer Bewertung heraus, und kann deshalb sehr unterschiedlich aufgefasst und interpretiert werden. Der alte Konfuzius empfahl daher, sich auf Begriffe zu einigen, bevor man rede, und in nutzbringenden Ritualen so zu tun, als ob etwas so sei, und nicht darüber zu streiten, ob es so ist. Damit umging, er den ersten großen Fehler des Unterscheidens: anzunehmen, man habe ein Ding, das benannt verstanden wird, wie Sonne, Haus oder Magenschmerz etwas anderes ist als Mond, Baum oder Diabetes.
Der zweite große Fehler besteht darin, nicht zu unterscheiden und das Verstehen einer Situation durch waberndes Geschwafel zu vernebeln. Meist geht es dann um Ganz-heit-lich-keit. Niemand, auch der solche Begriffe benutzt, weiß dann, was er meint: Heit-Lich-Keit? Ein Ganzes? Wenn ich einen ganzen Kuchen möchte, trenne ich den klar von Brot. Ein ganzes Baby ist von der Mutter getrennt. Eine ganze Familie ist getrennt von dem Gewimmel der Bakterien auf und in ihnen und um sie herum. D. h. auch esoterisch-religiöse Begriffe trennen, aber sie verbergen, dass sie es tun.
Menschen, die krank sind, sollten vorsichtig sein, bei einem Mikroskop-Blick auf Getrennt-Einzelnes und auch bei schwammig sanften Alternativen, die alles zu meinen scheinen.
Um das wesentliche ihres Leidens auf den Punkt zu bringen, brauchen sie ein scharfes Werkzeug, dass sehr klar und gut begründet, das eine vom anderen trennt.
Dazu ist das Rasiermesser von Wilhelm von Ockham (1285–1347) zeitlos hervorragend geeignet: „Annahmen sollte nicht mehr als nötig vermehrt werden“ (Non sunt multiplicada entia praeter necessitatem).
Gibt es mehrere mögliche Erklärungen, so sei die kürzeste vorzuziehen. Je weniger Hypothesen einer Theorie zugrunde liegen und je einfacher und logischer die Beziehungen der einzelnen Hypothesen zueinander sind, umso besser. D.h. wenn du etwas wie Lungenkrebs relativ eindeutig mit Rauchen erklären kannst, dann konstruier nicht eine grüne Teekanne, die um den Saturn fliegt und mit ihrer Ausstrahlung böses anrichtet. Mit diesem Rasiermesser lässt sich wunderbar der größte Teil von Unsinn und Abzocke abtrennen. Es war daher nicht verwunderlich, dass dieser Wegbereiter der Aufklärung in den damaligen finsteren Zeiten sich Sorgen machen musste, verbrannt zu werden.
Ockams scharfes Messer ist bis heute aus guten Gründen beliebt, insbesondere in der medizinischen Diagnostik. Es ist einfach „eleganter“, wenn für fünf verschiedene Symptome eine einzige Ursache gefunden werden kann, als wenn für jedes einzelne Symptom eine gesonderte Erkrankung zugeordnet werden soll. Aber natürlich können Patienten „sowohl Läuse als auch Flöhe“ haben.
Oder wie es der Mediziner John Hickam (1914-70) aus Harvard formulierte:
„Patienten können so viele Krankheiten haben, wie sie, verdammt nochmal, haben wollen“
(„Patients can have as many diseases as they damn well please“).
Oder noch schlimmer:
„Es gibt kein Sammelsurium nicht-zusammenhängender Beobachtungen, für die der menschliche Verstand nicht eine zusammenhängende Erklärung erfinden könnte. Und wenn sie noch so kompliziert wäre.“ (No set of mutually inconsistant observations can exist for which some human intellect cannot conceive a coherent explanation, however complicated.“ Joseph Crabtree”
Die Begeisterung für die Vereinheitlichung von Theorien, Modellen, Hypothesen, Verdachtsdiagnosen… etc. führt also doch, wenn man sie zu sehr mit der Realität verwechselt, auf den Holzweg.
Wenn also doch alles Alles-mögliche möglich sein kann und einander zu beeinflussen vermag, aber aus praktischen Gründen ein Problem klar erkannt und beseitigt werden muss: Wie soll ein Arzt dann handeln?
Hier rät der Theologe und professionelle Hobbymathematiker Thomas Bayes (1702–1761) „intelligent zu raten. Zunächst versuche man, mit den wenigen Informationen, die einem zur Verfügung stehen, die Wahrscheinlichkeit der eigenen Vermutung abzuschätzen, dann folge eine Prüfung der eigenen Vermutung. Je nachdem wie die Prüfung ausfällt, steigt oder sinkt die vermutete Wahrscheinlichkeit. Wenn sich die ursprüngliche Vermutung im Laufe der Überprüfungen nicht bewährt, so formuliere man – wieder nach bestem verfügbarem Wissen – eine neue Vermutung, und so fort.
Unser Gehirn scheint in der Abschätzung alltäglicher Bewegungsabläufe ständig Bayes Mathematik anzuwenden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Erst im Laufe des Sammelns von Erfahrungen durch immer neues Ausprobieren und ständiges Vermuten-Überprüfen-Verwerfen von Hypothesen nähern sich Ergebnisse immer mehr der „Wahrheit“ an. Das „Bauchgefühl, die Intuition, das gefällige Modell der Realität, das für andere Situationen zusammengezimmert wurde, trügt uns leider allzu leicht: deshalb lernen wir aus Fehlern und dem Abschätzen von Wahrscheinlichkeiten durch Erfahrung. Wenn unser „Unbewusstes“ also ständig auf Bayes Formeln zurückgreift, warum sollten das Mediziner nicht ebenso tun?
Bei jüngeren, bei akut erkrankten oder verunfallten Patienten ist, die Wahrscheinlichkeit hoch, mit „Ockhams Rasiermesser“ richtigzuliegen. Bei älteren Menschen, die viel Unangenehmes an Über- und Unterforderungen erlebt haben, und ggf. an vielen Verschleißerscheinungen leiden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Leitsatz von Hickam der Realität näher kommt, hier liefe man allerdings Gefahr, durch das „Crabtreeschen Totschlagargument“ dazu verleitet zu werden, sich ausschließlich auf das Naheliegende zu konzentrieren und die Zusammenhänge zwischen Dinge zu verlieren.
Unterscheiden um zu verstehen macht daher Sinn, allerdings nicht um zu trennen, sondern um neue Aspekte zu verbinden, und damit alles mit anderen Augen zu sehen?
„Eins und eins sind zwei. Du kennst eins. Also kennst du auch zwei?
Hast du auch das Und verstanden.“ Sufi
Literatur
- Mani N et. al.: What Three Wise Men have to say about diagnosis.
- Occam’s razor, Hickam’s dictum, and Crabtree’s bludgeon, BMJ 2011;343:d7769