Bewegung und Kinder
Wir müssen neu anfangen.
Und für eine kinderfreundliche Gesellschaft streiten. Trotz allem.
Bewegungskompetenz lässt nach. Die Intelligenz auch?
Immer mehr Kinder haben Schwierigkeiten, sich mit verbundenen Augen im Raum zu orientieren, zu hüpfen oder rückwärtszugehen. Im Rahmen der Lockdown-Maßnahmen und Digitalisierung nehmen diese Negativ-Trends deutlich zu.
Wird das Bewegungssystem vernachlässigt, leidet das Gehirn. Besonders bei Kindern, bei denen sich beides in ungetrennter Wechselwirkung ausformen muss.
Die Hauptaufgabe des Gehirns besteht darin, durch Bewegung mit der Mitwelt in Beziehung zu treten. Als Kommunikationsorgan tritt es durch den bewegten Körper in Beziehung zu seinem Umfeld: durch Rhythmus, Haltung, Gestik, Mimik, Berührungen, die Stimmgebung des Kehlkopfs u.v.a…
Bei der Wechselwirkung mit dem Geflimmer eines Bildschirms spielt diese natürlich-menschliche Kommunikation eine vergleichsweise geringe Rolle. Besonders dann, wenn Kinder in der Schule zusätzlich gezwungen wurden, Masken zu tragen und dadurch mimische Signale weniger verstanden.
Kinder trainieren ihr Gehirn durch das Erlernen von Bewegungsabläufen: Die Verarbeitung unmittelbarer Sinneseindrücke allein reichte für zielgenaue Ausführungen von Bewegungen nicht aus. Sie wäre viel zu langsam und zu unpräzise. Im Gehirn werden stattdessen einfließende Informationen mit Erfahrungswissen und verinnerlichtem Können abgeglichen. Das erfordert sehr viel und regelmäßiges Ausprobieren und (oft frustrierendes) Üben.
Begreifen
Zunächst müssen Kinder hinausreichen und etwas begreifen, dann spüren sie etwas und können es mit bisherigen Erfahrungen vergleichen. Dann verstehen sie. Zugleich keimt eine Vorstellung auf, wie etwas sein sollte, und wie man es beeinflussen könnte. Erst dann findet ein Körper (nach einigem Ausprobieren und Scheitern) zu wirksamer, effektiver und eleganter Dynamik. (Wolpert 2011, Sagedi 2018)
Hände formen, wirken und kommunizieren. Sie können sich mit dem Gegenstand, den sie berühren, verbinden und ihn so gewandt handhaben. Manchmal entstehen fließende Bewegungen des ganzen Körpers. Dann werden Kräfte weit über die Körpergrenzen hinaus wirksam. Geleitet über Hüfte, Rumpf, Schultern und erst dann die Hände.
Der Funktionsumfang der Hände ist eine grundlegende Besonderheit des Menschen: Die Fähigkeit der Hände zur Berührung ergibt sich erst aus der menschlichen-stabilen Hüftkonstruktion, die unsere Schultern von tragenden Aufgaben befreit.
Wahrnehmung und Steuerung der Hand nehmen so viel Platz ein, wie das Gesicht. Viele glauben deshalb, dass es die Gesten der Hand waren, die die Grundlage der Sprachentwicklung bildeten. Lange, bevor die motorischen Programme der Kehlkopf-Steuerung die ersten gesprochenen Worte und Sätze bildeten. (Wilson 2001)
Viel mehr als Erwachsene müssen Kinder mit allen Sinnen lernen. Sie können (ein Ding oder eine abstrakte Aufgabe) nicht verstehen, wenn sie den Zusammenhang nicht spielerisch ausprobieren, bewegen und begreifen dürfen.
Gewandtheit, die Fähigkeit, sich in einem Prozess mit Gegenständen oder Lebewesen zu verbinden, steht am Anfang der menschlichen Evolution. (Young 2013)
Rückblick: Kinderfeindlichkeit ist nicht neu.
Ein Jahr vor den Hamburger Bürgerschaftswahlen 2001 versuchte die Oppositionspartei zu stören und stellte eine kluge Frage.
Ob es richtig sei, dass die Hamburger Kinder dicker werden würden und sich weniger bewegten. Und ob es sich dabei um ein Problem handele. Und, wenn ja, was der Hamburger Senat dagegen unternehme.
Damals war ich vorübergehend „zuständig“ und antwortete etwa so:
- Ja, Kinder und Jugendliche in Hamburg nähmen an Gewicht zu und bewegten sich weniger.
- Ja, dabei handele es sich um ein ernstes Problem. Es werde sich langfristig gesellschaftlich auswirken. Es beeinflusst die Verhaltens- und Intelligenzentwicklung und damit die spätere Erwachsenengesundheit.
- Ja, angesichts dieser Gefahren müsse man (eigentlich) unbedingt etwas tun.
Mein Vermerk kam umgehend von der Behördenspitze zurück, mit einer Bleistift-geschriebenen (aus radierbaren) Randnotiz: „Lieber Herr Jäger, bitte keine Frontalvorlage für die Opposition!“
Offensichtlich bin ich unfähig für die Politik. Also musste eine Kollegin den Job übernehmen. Und antwortete wie gewünscht:
- Die Daten der Gesundheits-Berichterstattung sind leider nicht eindeutig. Daher benötigen wir dringend weitere Forschungen und Studien.
- Vorausschauend haben wir die Erstellung eines Gutachtens angeregt. Und auch eine Arbeitsgruppe eingerichtet.
- Natürlich wird unsere Behörde unverzüglich und konsequent tätig werden: in Ruhe, überlegt, ohne Hektik und nach sorgfältiger Auswertung der wissenschaftlichen Ergebnisse. Zu gegebener Zeit.
- Bereits heute handeln wir: Für die Grundschule X wurden zwei Gymnastik-Bälle gekauft, die Kindertagesstätte Y erhielt ein Klettergerüst und der Spielplatz Z wurde verschönert …
Die Behörde war zufrieden, die Presse auch.
Und die Kinder? Sie hatten keine Lobby.
Verschlimmerung durch Experimente mit Kindern
Viele gute Strategien und Angebote, die vor Jahrzehnten entwickelt wurden, um die Kindergesundheit zu fördern, wurden in den vergangenen Jahren verdrängt oder zerstört. Gesundheit wurde auf die Nutzung medizinischer Produkte reduziert. Kinder konnten und können sich nicht wehren. Und die wenigen Ärzt:innen, Lehrer:innen, Psycholog:innen, Hebammen, die versuchen, sie zu schützen, waren und sind schwach.
Und schließlich experimentierte man von 2020 bis 2022 mit Kindern. Zur Intensivierung dieses Gesellschafts-Tests wurde bei Grundschul-Kindern ein zusätzliches Bewegungs- und Atmungshemmnis verordnet, und das Training der Handmotorik (durch Bildschirmarbeit) ausgebremst. Nicht nur Bewegungsvielfalt und Bewegungskompetenz verarmten. Sondern in der Folge auch die Fähigkeiten zu Kreativität, Innovation und sozialer Kompetenz. (Reichelt 2021, Singha 2020)
So sägte (und sägt) eine Gesellschaft an dem Ast, auf dem sie sitzt.
Mehr
Kinder in Balance
- Zimmermann D., Heinrich N.: Kinder in Balance, tqj-verlag.de 2016
- youtu.be/indw0FkRu6I
- Englisch – Niederländisch
Literatur
- de Klerk C et al.: The role of sensorimotor experience in the development of mimicry in infancy. Dev Sci, 2018, Nov. 10:e12771 www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30415485
- Krupp Stiftung 29.10.2020: 4. Kinder- und Jugendrepot, www.krupp-stiftung.de/vierterkinderundjugendsportbericht/?preview=true
- Manley H et al. (2014) When Money Is Not Enough: Awareness, Success, and Variability in Motor Learning. PLoS ONE 9(1): e86580
- Reichelt J et al.: Kinder in der COVID-Krise: Familiär verinselt im Lockdown Dtsch Arztebl 2021; 118(8): A-404 / B-345
- Roach NT: The Evolution of High-Speed Throwing – Elastic energy storage in the shoulder and the evolution of high-speed throwing in Homo. Nature 2013. 498. 483-486.
- Sagedi M: Adaptive sensorimotor learning, PLOS one, 29.11.2018
- Singha S etal: Impact of COVID-19 and lockdown on mental health of children and adolescents: A narrative review with recommendations, Psychiatrie Research August 2020
- Wolpert D et al.: Principles of sensorimotor learning, Nature Reviews neuroscience 2011, 740-751
- Wilson F: Die Hand Geniestreich der Evolution. Ihr Enfluss auf Gehirn, Sprache und Kzltur des Menschen. Klett-Cotta 2001
- Young R.W.: Young RW Human origin and evolution. CreateSpace Independent Publishing Platform, 2013, Hum Ontogenet 3(1), 2009, 19–31 ; Evolution of the human hand: the role of throwing and clubbing, Anat. 2003, 202:165–174. Young 2009: The ontogeny of throwing and striking. In: Hum Ontogen 3 (1): 19–31.