Experten-Herrschaft?
Es gibt einige Dinge, die man unmöglich wissen kann, aber es ist unmöglich, diese Dinge zu kennen. There are some things which are impossible to know, but it is impossible to know these things. Murphy’s Law
Wir erleben zwei Arten von Expert:innen:
- Die, die recht haben.
- Und die, die im Unrecht sind.
Die Zuteilung zur jeweiligen Gruppe, erfolgt durch Wissende (oder Mächtige), die die Wahrheit kennen. Den im Dunkel (des Unrechts) Stehenden bleibt nichts anderes übrig, als zu protestieren. Sie werden dann ignoriert, verlacht oder bekämpft.
Viele angesehene Würdenträger der Wissenschaft, der Ideologie oder der Religion herrschen wie Götter im Olymp. So lange, bis sie sterben, weil niemand mehr an sie glaubt.

Was zeichnet die „Wissenden“ aus?
Expert:innen sind Personen, die „immer mehr“ über „immer weniger“ herausfinden. Und die dabei große Mühe haben, den Überblick zu behalten.
Oder, noch schlimmer, Menschen, die die Welt durch Tunnelröhren betrachten (sogenannter Reduktionismus). Und aus den vielen, kleinen, toten Details und Daten, die sie im Mikroskop überblicken können, auf ein Ganzes zurückschließen.
Expertise und Meisterschaft
Der Mathematiker Merö untersuchte die Art des Denkens bei Anfängern des Schachspiels, bei Schach-Expert:innen und bei Spieler:innen, denen der Meister-Titel zuerkannt wurde. Anfänger waren mit Regeln beschäftigt. Sie probierten etwas aus, versuchten es richtig zu machen und lernten aus Fehlern. Expert*innen rechneten aufgrund von tausenden von einstudierten Partien nach, welcher Zug jetzt in dieser Situation nach gängiger Lehrmeinung der beste sein müsse. Ihre Lösung für die Zukunft suchten sie in der Regel in der Vergangenheit.
Schachmeister betrachteten dagegen das Spielfeld nur kurz, rechneten wenig und assoziierten, welche Zug- und Figurenkombination zu der Situation passte. Sie handelten situations- und zukunftsorientiert, „intuitiv“. D. h., sie handelten so, wie es das Geschehen oder ein Gesamtzusammenhang erforderte, im Vertrauen auf ihre lange Erfahrung und intensives Training. (s. Merö)
Der japanische Philosoph Tanizaki (s. u.) ergänzte, Perfektion allein sei nicht ausreichend für Meisterschaft. Dazu brauche es auch innere Ruhe und Gelassenheit, und einen offenherzigen Ausdruck, der das Herz der Menschen erwärme.
Was ist der Weisheit letzter Schluss?
Kein Konzept ist so eingeschränkt und abgeschottet, dass es nicht einen gewissen Raum für Zweifel gäbe.
Expertise-Gläubige versäumen es aber oft, dort nachzufragen, wo sie es besser nicht sollten. Ihre Denkgebäude sind durch Hierarchie und Leitlinien geprägt. Beides wird oft durch sogenannte „Drittmittel“ finanziert und hängt von Marktgesetzen ab. Daher gehen Experten-Antworten meist in eine (von anderen) gewünschte Richtung.

Expert:innen huldigen (im Gegensatz zu „Meistern“) dem Fetisch der Quantifizierung (Muller 2018): z. B. führte der amerikanische „Verteidigungs“-minister Robert McNamara während des Vietnamkrieges sogenannte „Body Counts“ ein. So konnte man anhand der Toten präzise den Erfolg einer Intervention messen.
Bis heute machen viele die Verfolgung ihrer professionellen Ziele von Messdaten abhängig. Zahlen für „Wahrheit“ zu halten, ist Risiko, da kommerzielle oder ideologische Propaganda-Abteilungen bestens damit vertraut sind, sie zu nutzen, zu verdrehen und zu manipulieren.
Den meisten Expert:innen gilt, neben „objektiven“ Datenansammlungen, das als Wissen, was andere, die über eine bestimmte Autorität verfügen, einmal aufgeschrieben haben. Je mehr man gelesen hat, was sich durch Zitieren belegen lässt, desto bedeutsamer klingt der eigene Text.
Ein großes Defizit der institutionalisierten Expertise ist, dass die Beteiligten in der Regel an die Wahrheiten glauben, die sie sagen. Wenn man aber zukunftsorientiert lernen wollte, müsste man eingestehen, dass man vieles nicht weiß.
Wissenschaft, einschließlich der Naturwissenschaften, kann nur sehr einfache Fragen beantworten. Angesichts der Komplexität fehlen oft ernst zu nehmende Theorien, die diese Komplexität erfassen. Wissenschaft ist daher in fundamentalen Fragen ein unendliches Rätselraten. Man müsste also als Expert:innen vom hohen Ross steigen, und offen mit den Menschen, die von einer bestimmten Situation betroffen sind, überlegen, was angesichts der Dynamik eines Geschehens zu tun sei. Dazu benötigte man aber Visionen, um zu wissen, wo eine Entwicklung hingehen soll. Und Expert:innen mit Visionen und Veränderungswillen sind selten.
Viele Expert:innen stellen ihre Fähigkeiten in den Dienst der Interessenprivilegien der jeweiligen Mächtigen. Denn sie wünschen, aufzusteigen, und auch einen „Meisterstatus“ zu erlangen. Abweichende intellektuelle Dissidenten werden durch institutionelle Filter frühzeitig aussortiert. Der Linguist Noam Chomsky beschrieb daher Expert:innen als eine Art säkularer Priesterschaft für die Machtelite. Sie liefern Ideenpläne, Strategien, Werte, Theorien, Rechtfertigungen und Doktrin für die ökonomischen und politischen Entscheidungsträger des Herrschaftssystems. Und sie verkünden dem Rest der Bevölkerung, was sie glauben sollen.
Nonkonformisten (Phil Mag Okt 2025), die im gleichen Magazin bis 2019 noch Querdenker genannt werden durften, schließen nicht aus, dass
- unvorhergesehene Situationen eintreten könnten,
- und wir anschließend unsere Definition (oder gar unser Weltbild) ändern müssten.
Der Epidemiologe David Sacket (der Mitbegründer der Bewegung „Evidenz Medizin“) schrieb am Ende seiner Laufbahn, ältere Expert:innen verzögerten den Fortschritt der Wissenschaft und schadeten der nächsten Generation:
Zitat: „Wenn wir unseren Ansichten unser Prestige hinzufügen, verleiht das unseren Meinungen eine weitaus größere Überzeugungskraft, als sie allein aus wissenschaftlichen Gründen verdienen. Ob aus Ehrerbietung, Furcht oder Respekt: Andere neigen dann dazu, nicht die entscheidenden Fragen zu stellen. Eine andere Sünde der Sachkenntnis wird bei Zuschussanträgen und Manuskripten begangen, die den gegenwärtigen Expertenkonsens infrage stellen. … Manchmal ist dann die Ablehnung „unpopulärer“ Ideen offenkundig und bewusst abwertend. Manchmal ist die Voreingenommenheit der Experten gegenüber neuen Ideen auch unbewusst. Das Ergebnis ist dasselbe: Neue Ideen und neue Ermittler werden von Experten durchkreuzt, und der Fortschritt zur Wahrheit wird verlangsamt.“ Sacket D: The sins of expertness and a proposal for redemption, BMJ, 2000, 320(7244):1283.
„Laien“
„Anfänger:innen“ unerfahren. Deshalb müssen sie etwas glauben oder oder etwas selbst erleben. Noch ist ihr Glaube schwach. Denn sie haben nicht viel gelesen und wissen noch zu wenig, wie „es (zweifelsohne) wirklich ist“. Darin liegt ihre Stärke: Sie könnten noch kluge Fragen stellen. Und ihre gläubigen Wissensgelehrten aus der Fassung bringen.
Natürlich können Laien die Details, die die Expert:innen zu durchschauen scheinen, und dann als jeweilige Wahrheit verkünden, nur begrenzt nachvollziehen. Sie benötigen also vorverdaute Informationen und Interpretationen, die sie verstehen können. Sie müssen folglich doppelt vertrauen: der Expertenaussage, die sie nicht verstehen, und der mehr oder weniger bekömmlichen Aufbereitung durch Medien, die von sich behaupten, objektiv und unabhängig zu sein.
Fragende Grundhaltungen sind nur schwer auszuhalten. Die meisten Laien vertrauen daher lieber auf die, die ihnen sagen, was sie annehmen, und worauf sie hoffen sollen. Und so werden Gläubige dann zu Mini-Expertinnen, die in ihrem Umfeld andere davon überzeugen, wie es „ganz bestimmt“ wirklich sei. Sie lieben es dann, recht zu haben und es zu behalten. Und sie suchen sich dafür Informationen, die ihnen deshalb als glaubwürdig, aussagekräftig und bedeutend erscheinen, weil sie ihre Ansichten bestätigen. Ob sie korrekt sind oder nicht, spielt dann kaum noch eine Rolle. (Zaleshiewicz 2018)
Genügend Forschung wird deine Theorie schon unterstützen.
Enough research will tend to support your theory. Murphy’s Law

Epistokratie – Experten-Herrschaft
Einige Philosophen (Platon, John St. Mill und David Estlund) wünschten sich eine „wahrheitsbasierte“ Epistokratie. Die Herrschaft der Klugen sei nötig, weil das Volk einfach zu doof sei für die Demokratie. Und ohne die Macht der Expert:innen sei es Verführern und egoistischen Machthabern ausgeliefert, die es manipulierten und hintergingen. (DLF 2018)
Leider sind die Epistokraten nicht nur fehl-, sondern auch erpress- und korrumpierbar. Berthold Brecht thematisierte dieses Dilemma 1963 im Theaterstück „Das Leben des Galilei“. Matthias Schrappe, ein „anerkannter Public-Health-Experte“ prägte für die übersteigerte Gläubigkeit an das, was gerade (aus welchen Gründen auch immer) als Wissenschaft angesagt ist, den Begriff „Sientizismus“ und erläutert ihn anhand der Ereignisse von 2020-2023.
Heute bedroht uns allerdings statt einer Epistokratie eine „Algokratie selbstsüchtiger Datensätze“, die (von menschlicher Macht gesteuert) transhumane Zukunftsvisionen anstreben.
Das Licht am Ende des Tunnels könnten Scheinwerfer einer Lokomotive sein.
Sometimes that light at the end of the tunnel is a train. (Murphy’s Law)
Uns bedrohen Gleichschaltung, Manipulation, Konformismus oder Totalität. Dann ist es nützlich,
- Innere Ruhe zu finden und zu behalten
- Widersprüche der komplexen Realität zu ertragen
- Nichtwissen zu schätzen und es anzunehmen
- Aus Fehlern zu lernen
- Engagiert, beteiligt, zuhören und zu beobachten (und weniger zu handeln und zu beurteilen)
- Mut haben zu flexibler Einsamkeit (ohne Rückzug, Erstarrung und Besserwissen)
- Authentisch zu werden und selbst zu denken und zu fühlen.
- Die Zahl der Möglichkeiten, die sich bieten, zu vermehren.
Mit anderen Worten: Das Beste zu werden, was wir sein können, um für andere sinnvoll zu handeln.
Mehr
Literatur
- Muller, Jerry Z. (2018): The Tyranny of Metrics. Princeton: Princeton University Press. Online verfügbar unter https://ebookcentral.proquest.com/lib/gbv/detail.action?docID=5214923
- DLF 2018 https://www.deutschlandfunk.de/demokratie-plaedoyer-fuer-die-experten-regierung.1310.de.html?dram:article_id=389037
- Zaleskiewicz T Lay Evaluation of Financial Experts: The Action Advice Effect and Confirmation Bias. Front Psychol. 2016 Sep 27;7:1476. eCollection 2016. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/?term=Zaleshiewicz
- Merö L: Die Grenzen der Vernunft. Kognition, Intuition und komplexes Denken. rororo 2002, Seite 205 ff
- Schrappe M: Das Szientismus-Paradox, Cicero 2023: https://www.schrappe.com/ms2/texte/szient/230730_das_szientismus_paradox_schrappe_ciceroonline_naiv.pdf
- Tanizaki Jun’ichirō Lob der Meisterschaft. Manesse Zürich 2018 https://de.wikipedia.org/wiki/Tanizaki_Jun%E2%80%99ichir%C5%8D