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13. Januar 2020

Komplex oder kompliziert?

Ein gedruckter Stadtplan ist kompliziert. Aber bleibt, wie er ist.

„Kompliziert“ stammt von dem lateinischen „complictus“ und bedeutet „gefaltet sein“. Die verworrenen und verflochtenen Striche auf dem Papier wären für Ureinwohner des brasilianischen Urwaldes nicht ohne Schulung durchschaubar.

Bildquelle Open Street Map

Expert*innen, wie wir, erkennen sofort zweidimensionale Grundstruktur des Liniensystems: Wir wissen, was es bedeuten soll, können uns einen Reim darauf machen und sinnvoll damit umgehen.

Auch dreidimensionale Maschinen können uns „kompliziert“ erscheinen. Aber sobald sie vom Strom abgeschaltet werden, stehen sie nur herum und tun nichts mehr. Sie verlangen nach Spezialisten, die sie entwickeln und bedienen. Diese Ingenieur*innen übernehmen Designaufgaben, beherrschen Schaltanlagen, messen die Einzelereignisse aller Funktionen, reagieren auf die Messwerte mit Feed-back-Schleifen und erfüllen Lenkungs- und Wartungsaufgaben.

Bei „komplizierten“ Strukturen sind Subjekt und Objekt klar getrennt. Maschinen stehen Designer, Mechaniker oder Betriebsleiter gegenüber, die sie pflegen, ausbessern, ölen und lenken. Werden sie nicht in Schwung gehalten, beginnen sie zu rosten. Die Anpassung an neue Umweltfaktoren kann bei Maschinen nur durch Re-Design oder Reparatur erfolgen. Mechaniker („Experten“) lernen von ihren Maschinen, diese jedoch nichts von ihnen.

Das Funktionieren in komplizierten Behörden, deren starre Hierarchien an Maschinen-Mechanik erinnern, erfordert Kontroll-Mechanismen. Dort wird analysiert, bestimmt, gearbeitet und evaluiert. Diese Planwirtschaft erfordert Zuständigkeiten: Jemand erhält z.B. den Befehl, einen Vorgang aus dem Eingangs- in das Ausgangskörbchen zu befördern. Und so geschieht es dann auch. Wenn es niemand befiehlt, wird es nicht getan.

Umgang mit komplizierter Mechanik

Bei komplizierten Maschinen sind die einzelnen Faktoren, die Einzelteile und ihre Funktion wichtig. Um Optimierungs-Möglichkeiten zu finden, werden die Wirkungen und Teile in ihrer Bewegung gemessen. Alles, was dabei die Betrachtung stören könnte, wird – konsequent einfach – ausgeschlossen und nicht betrachtet.

Jede Wirkung in der Mechanik muss eine Ursache haben. Wenn eine Komponente nicht funktioniert, entsteht ein Problem oder eine Krankheit. Probleme werden durch Interventionen gelöst, krankmachende Ursachen werden bekämpft und Veränderungen werden erzwungen. Wirkungen und Nebenwirkungen werden kontrolliert. Das Ziel ist die Beseitigung des Problems und die Heilung, d.h. die Wiederherstellung des Ursprungs-Zustandes.

Die Maschinen-Expert:innen sind im Umgang mit komplizierten Vorgängen kompetent: Sie oder er weiß und entscheidet. Die Nutzer, Kunden oder Patient:innen werden höchstens einbezogen. Die Entscheidung beruht auf Lehrbüchern, Standards, Datenbanken, Richtlinien, Handlungs-Anweisungen. Abweichungen von der Norm sind riskant oder krankhaft. Aus der Sicht des Spezialisten ist nur eine Meinung richtig: ‚Richtig‘ und ‚Falsch‘ können klar getrennt werden. Die Rituale des Lernens, um komplizierte Vorgänge beherrschen zu können, betonen das Faktenwissen: Student*innen müssen Muster auswendig lernen, um Frage-Antwort-Prüfungen bestehen zu können. Dabei wäre ihnen jeder leistungsfähige Spezialrechner in Schnelligkeit und Zuverlässigkeit überlegen.

Entscheidend für den Erfolg in komplizierten Situationen ist in erster Linie das Befolgen des Expertenrates. Eigenes kritisches Denken wäre dagegen gefährlich, wie z.B. beim Aufbau eines Baumarkt-Schrankes ohne Betrachtung der Arbeitsanleitung.

Komplex: lebend und eigen dynamisch veränderlich

Komplex leitet sich von dem lateinischen Wort „complexus“ ab, das „umfasst oder verknüpft“ bedeutet. „Komplex“ ist eine Eigenschaft von Systemen, bei denen viele einzelne Teile miteinander in Wechselwirkung stehen. Und die Beziehungen unter den Teilen wichtiger sind als ihre Summe.

Komplex und nur in Grenzen vorhersagbar. Bild: Jäger 2016

Schon das Zusammenspiel von drei einfachen Körpern ist in seiner Dynamik kaum noch berechenbar. Ob also etwas als kompliziert oder komplex bezeichnet wird, hat vor allem damit zu tun, ob voneinander isolierte Faktoren, oder ob die dynamischen Beziehungen zwischen den Teilen, betrachtet werden.

Werden komplexe Systeme beobachtet, erkennt man Eigendynamik und chaotisches, wenig berechenbares und zufälliges Verhalten. Dynamische, vernetzte Organismen, die Teile größerer Öko- und Sozialsysteme sind, passen sich aus ihnen innewohnenden Eigenschaften, dem ständigen Wandel, dem sie  unterworfen sind, flexibel an, oder sie vergehen. Sie erneuern sich aus einer ihnen innewohnenden Kraft heraus (sogenannte Autopoiese).

Lebende Systeme lernen und wachsen in einem Rhythmus mit Aktivitäts- und Ruhephasen. Sie sind „gesund”, wenn sie sowohl stabil als auch elastisch anpassungsfähig auf innere und äußere Belastungen elastisch und flexibel reagieren können. Wie alle Systeme bestehen sie aus zahllosen Teilsystemen und sind wiederum Teile übergeordneter Systeme.

Teilsysteme sind als Ganzes relativ vorhersagbar: „Aus einem bestimmten Samen wird ein bestimmter Baum“. Im Detail aber bleiben sie un-vorhersagbar und chaotisch, wie das Gewimmel aufplatzender Kirschblüten im Frühjahr.

Während in der Mechanik jeder Teil gleichmäßig ausgelastet seine Funktion im Rahmen enger Zuständigkeiten erfüllt, sind in einem lebenden System oft alle Teile auf die gleiche Problemlösungsaufgabe fixiert.

Eine „lebende“ Institution, die wächst, sich erneuert und sich entwickelt, zeichnet sich durch eine Vision aus, der sich alle Mitglieder verbunden fühlen. Statt Zuständigkeit, steht dort verantwortliches Handeln im Vordergrund, wobei jeder (gleichzeitig) einen (kreativen) Beitrag zum Gelingen eines großen Ganzen leistet.

Handeln im Wissen um Komplexität

Wird etwas als lebend oder komplex wahrgenommen, stehen Verknüpfungen, Beziehungen, Blockaden oder Hemmungen im Zentrum der Aufmerksamkeit: Um zu verstehen, wie sich die interne und externe Dynamik entwickeln wird. Untersuchungen, Messungen und Beobachtungen dienen dem Auffinden der wirksamsten Ansatzpunkte für die Bewegung des gesamten Systems. Eine Wirkung hat meist viele Ursachen, deren nicht-lineare Beziehungen und Reaktionen oft nicht vorhersehbar sind. Wenn dynamische Interaktionen innerhalb und außerhalb des Systems gestört sind, erkrankt es.

Probleme werden in Systemen „angeregt“, um sie zu bewegen, im klaren Wissen um Unsicherheit und Widersprüche, die bestehen oder entstehen können. Die Zusammenhänge vieler Probleme (oder besser Problemkomplexe) werden gemanagt und beeinflusst, ohne sie lösen zu wollen. Denn sie sind nicht isoliert voneinander lösbar. Wie z.B. die zunehmend vielen Krankheiten einer immer gebrechlicher werdenden Dame im höheren Lebensalter. Lösungswege, flexible  Adaptationsmechanismen und Veränderungschancen müssen in solchen Situationen durch günstige Beeinflussung möglich gemacht werden. Es wird geprüft, „wo das System hin will“ (sog. „System-Attraktoren“) und wie ihm geholfen werden kann, sie günstig zu entwickeln.

Eingriffe sind bei Systemen weniger wichtig als die Begleitung unerwarteter Eigendynamik. Stattdessen werden Entscheidungsfähigkeit und Selbstlösungskompetenz gefördert. Die Fachkundigen beraten dann kompetent bei der Wissensaneignung oder sie moderieren. Expertenwissen, d.h. erlernte Erkenntnis, ist dafür ebenso die Voraussetzung wie die Nutzung der Datenbankenrechner. Wissensmanagement bedeutet jedoch hier nicht „Durchrechnen eines Daten-Wustes“, sondern die kreative, kenntnisreiche Rekombination der Fakten und ihrer Beziehungen. Intuition bedeutet in diesem Zusammenhang, immer mehr zu wissen, als gelernt wurde, um für Neues offen zu sein

Ein Kapitän z.B., der durch einen Sturm segelt, kennt natürlich seine Lehrbücher, aber er hält sich unbedingt daran, wenn er in einer völlig neuen Situation anders handeln muss, als jemals zuvor. Wenn die bisherigen Antworten für Gefahrensituationen in diesem Fall nicht passen, und deshalb die eigene Kompetenz viel wichtiger, um innovativ, d.h. von der Norm abweichend, zu handeln.

Komplex und kompliziert. Bild Jäger Mallorca 2017

Ob etwas kompliziert oder komplex ist Ansichtssache

Wie ein Problem, eine Familienkonstellation, eine berufliche Situation, eine Landschaft, ein Ding, eine Pflanze oder ein Tier beurteilt wird, hängt von der Art der Betrachtung ab. Je nachdem, ob es gedeiht und fruchtbar wird, oder ob es sich zu einer Bedrohung auswächst, ob es nur gleichbleibend genau das tut, was es soll, oder ob es nur im Weg steht.

Ein Haufen Sand, z.B. scheint eindeutig nicht zu leben. Er liegt nur bewegungslos am Straßenrand, bis ihn jemand weg-schippt oder der Regen ihn fortschwemmt. Ist er also nur kompliziert? Nicht unbedingt. Denn seine Quarz-Atome setzen sich aus dynamisch wimmelnden Energiebündeln zusammen, die, wie alle Materie, hochkomplexe Systeme bilden und chaotisch (unvorhersagbar) schwingen.

Im Alltag erscheinen uns die Grenzen zwischen toter und belebter Materie zwar sehr scharf zu sein, aber möglicherweise sind sie es nicht: Unbelebte Moleküle können z.B. unter günstigen, energiereichen Bedingungen miteinander interagieren, und dabei bewegt-veränderliche Muster bilden, die an lebende Zellstrukturen erinnern. (Popkin 2016)

Im Alltag erscheint uns der Sandhaufen trotzdem als einfach, weil er sich (aus sich selbst heraus), nicht weder verändert noch wechselnde Beziehungen eingeht. 

Menschen dagegen sind lebende Systeme, die aus komplexen Untersystemen bestehen und in sozialen und Umweltsystemen eingebettet sind. Aber von diesen eindeutigen komplexen System-Zusammenhängen kann bei Patient*Innen auch abgesehen werden. Man kann nur wenige Aspekte eines Erkrankten betrachten, um das zu reparieren, was nötig erscheint: Zum Beispiel, um einen gebrochenen Knochen zusammenzuschrauben, oder um einen abgerissenen Meniskus mit einfachen Gerätschaften aus dem Gelenk zu entfernen. Dann erscheint auch ein komplexer Mensch im Grunde nur als klapperiges Gestänge einer etwas komplizierten Körpermechanik.

Sind Institutionen, Unternehmen, Armee, die Mafia oder ein Verwaltungsapparat lebende Systeme? Sind die dynamischen Weltkonzerne, die sich ungebremst in alle Lebensbereiche hineinfressen, lebende Organismus?

Auch bei Okö-Systemen ist es nicht einfach, sich zu entscheiden: ist ein Ölfeld tot oder lebt es? Kann man das Klima kontrollieren, oder macht „es“ letztlich doch, was es will? Ist die Erde so leblos wie ein asphaltierter Parkplatz, auf dem sich die lebenden Dinge völlig unabhängig von der Trägerstruktur bewegen? Oder bildet der Planet mit seiner Kruste, der Atmosphäre und dem Magnetfeld seines Kerns einen lebenden Organismus, dem gerade ein zentrales Nervensystem wächst?

Antworten darauf sind, Ansichtssache. Aus praktischen Gründen macht es aber Sinn, nachzuprüfen, welche der möglichen Antworten für einfache Problemlösungen oder für ein komplexes Problem-Management gerade besser passen würden. An einer widerspenstigen Katze herumschrauben, wäre wohl genauso wenig Erfolg versprechend, wie einen Computer zu streicheln, dessen Betriebssystem gerade abgestürzt ist.

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Letzte Aktualisierung: 10.12.2023