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25. Februar 2021

Taiji & Naturwissenschaft

Naturwissenschaft als Chance, TQJ 2021, 83(1): 27-31

Das Gleiche aus einem anderen Blickwinkel betrachtet

Bewegungskunst wird erlernt durch konkrete, praktische Erfahrungen und deren Wiederholung. Die Wirkungen der zu Grunde liegenden Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten werden erlebt, gefühlt, und in einem ununterbrochenen Bewegungsfluss gespürt.

Kritisches (naturwissenschaftliches) Denken unterbricht solche Prozesse.

So als bliebe man auf einer Wanderung stehen, betrachtete die Täler, Wiesen und Hügel rundherum und fragte sich, welchem Pfad man nun weiter folgen sollte.

Bild: Zen-Gehen, Jäger, Thailand 2019

Wenn der Fluss des Tuns für einen Moment ruht

.. handelt man nicht, sondern staunt und fragt. Möglicherweise kommen dann auch überkommene eigene Vorstellungen auf den Prüfstand.

Peter Ralston, ein herausragender Taiji-Lehrer, ist der Ansicht, dass eine kritische Geisteshaltung (zumindest von Zeit zu Zeit) nötig sei, um wirklich Neues zu lernen. Und das gelte besonders für die Kampfkunst.

Bevor es zu einem grundlegend neuen Lernschritt kommen könne, müssten zuvor alle überkommenen Konzepte, Wahrheiten und Denkmuster losgelassen werden. Erst dann sei es, egal auf welchem Gebiet, möglich tatsächlich andere Erfahrungen zu machen, und seinen Bewusstseinshorizont zu erweitern. (1)

Ein anderer Aspekt wissenschaftlichen Innehaltens ist es, etwas „Ganzes“ gedanklich in einzelne Bestandteile zu zerlegen. Und diese dann jeweils für sich alleine zu betrachten, um ihren Charakter einfach und deutlich aufscheinen zu lassen.

Auch diese Art der Analyse, die einen Handlungsfluss unterbricht, kann zum Beispiel im Taijiquan sehr nützlich sein. Der Taiji-Lehrer Patrick Kelly zum Beispiel unterscheidet aus didaktischen Gründen in einem – in der Realität dynamisch-ungetrennten – Prozess klar voneinander getrennte Phasen. Und deren besonderen Charakter kann er dann gesondert studieren und unterrichten. (2)

Die Fünf-Elemente- oder -Phasen-Lehre ist ein anderes Beispiel: Sie vereinfacht die Betrachtung hochkomplexer, lebender Zusammenhänge ungemein. Und sie sorgt für klare Diagnosen, die zu sicheren Handlungen führen können. Die Konzentration auf etwas, was aus einem Ganzen herausgelöst wurde, ist oft nützlich, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Summe einzelner Erkenntnisse nicht für die dynamische Realität gehalten wird.

Die „wissenschaftliche“ Betrachtung von Wechselwirkungen und Beziehungen und das wortlos-körperlich-geistige Erleben fließender Prozesse stehen nicht im Widerspruch zueinander. Sie können sich – bei einer fragenden und offenen Einstellung – vielmehr ergänzen. Ähnlich wie Noten und Pausen in der Musik.

Kritisches Denken und Experimentieren

Der naturwissenschaftliche Zugang (neugierig sein, nicht-wissen, fragen und immer wieder nachfragen) ist nur eine der vielen Möglichkeiten, wie der menschliche Geist genutzt werden kann.

Die Fähigkeit, über jeden Zweifel erhabene Erklärungsmodelle der Realität fundamental zu hinterfragen, ist erst zwei- bis dreitausend Jahre jung. Erst dann fanden einige Menschen den Mut, die befehlenden (inneren und äußeren) Stimmen in sich zu dämpfen. Bevor sie damit anfingen, (ganz auf sich gestellt) selber zu denken. 

Kinder beginnen mit vier oder fünf Jahren zu zweifeln und innovativ, kreativ und fantasievoll Fragen zu stellen. Und auch schummelnd die Realität zu ihren Gunsten zu verdrehen. Viele Erwachsene, die im Gegensatz zu ihnen genau zu wissen glauben, wie es wirklich sei, reagieren in diesem „Kasperle“-Alter genervt. Weil sie die Fragen nicht aufnehmen und weiterdenken, sondern nur nach den richtigen Antworten suchen, die sie nicht immer finden.

Gleich nach der Einschulung wird den Kindern das kreativ-fantasievoll-kritische Denken wieder ausgetrieben: Denn nun lernen sie, dass ihre Lehrer*innen den Unterschied zwischen Richtig und Falsch genau kennen und dass es nicht belohnt wird, solche Wahrheiten anzuzweifeln. Denn alle die, die „immer das Gleiche tun, weil sie es schon immer getan haben“, und die, die genau wissen, „was wahr ist“, halten kritisches Fragen für ein Unkraut, das in einem ordentlichen Garten des angepassten Denkens keinen Platz hat.

Macht sich im Unterricht von Kampfkunst oder achtsamen Bewegungen manchmal „kindlich-neugierige“ Skepsis bemerkbar, wird sie, wie in der Schule, oft als störend empfunden. Weil ein zuvor ganz selbstverständlich ausgeführter Fluss rituellen Handelns vorübergehend angehalten wurde. Weil gegebenenfalls hinterfragt wurde, ob es wirklich so ist, wie behauptet wird, dass es sei. Oder ob es nicht vielleicht auch ganz anders sein könnte.

Manchmal werden dann kluge Fragen mit „Sei nicht verkopft! – Tue es einfach!“ weggebügelt. Damit wird dann das Verstehen durch persönliche Aneignung erschwert. Zugunsten spiegelbildlicher Nachahmung einer Bewegung oder dogmatischen Glaubens an ein Erklärungsmodell. 

Souveräne Lehrer*innen können solche (grundlegenden) Fragen ernstnehmen und wertschätzen. Sie überblicken die Begrenztheit ihres Wissens und Könnens und lernen gerade deshalb in ihrem Unterricht, weil sie durch Fragen (auch aus einer naturwissenschaftlichen Sicht) herausgefordert werden.

Wozu ist kritisches Denken gut?

Die ersten Natur-Philosoph*innen, die sich sowohl von Schaman*innen als auch von Priester*innen abgelöst hatten, fassten das Leben als ein Wirksystem von Psyche, Körper und umgebender Umwelt auf. Beziehungen, Austausch, Selbstorganisation und Veränderungsdynamik eines in der Realität ungeteilten Ganzen standen im Zentrum des Interesses. Einzelfaktoren erschienen ihnen damals so bedeutungslos zu sein wie eine Biene in einem Schwarm. Alles sollte, in einer nicht fassbar komplexen (sichtbaren und unsichtbaren) Realität möglichst störungsfrei miteinander zusammenwirken. Und zu einem einfachen Erklärungsmodell fassbar, und damit auch beeinflussbar sein.

Einer der frühesten Naturwissenschaftler, Anaximander von Milet, betrachtete auch vor 2.600 Jahren „das Ganze“, das ihm wie von einem Atem durchwebt erschien. Zugleich aber verwarf er alle ihm bekannten Glaubens-Konstruktionen, Überlieferungen, Mythen und Weisheiten. Er unterbrach den gewohnten Fluss von Gedanken und Vorstellungen und relativierte alles, was bis dahin als absolut sicher galt.

Er fragte. Und war dabei nicht interessiert an einfachen Antworten. Sondern er strebte nach Klarheit. Allein mit dieser neugierig-offenen Geisteshaltung fand er (ohne Hilfsmittel) heraus, dass die Erde schwebe, da nichts sie noch oben ziehe und auch nichts sie nach unten fallen ließe. (3)

Aber nicht nur in der theoretischen Wissenschaft, bei der Entdeckung neuer Gesetzmäßigkeiten ist es sinnvoll (wie Anaximander) stehenzubleiben, zu betrachten ohne zu bewerten und sich fragend umzuschauen.

Beim Unterricht von Kampfkunst oder achtsamer Bewegung kann es nützlich sein, diese Einstellung aufzurufen: Ganz zu Beginn, und dann später, wenn eine solide Grundlage der erlernten Bewegungen besteht.

Am Anfang (vor dem Unterricht) profitieren besonders Personen mit starken Bewegungsdefiziten oder Fehlhaltungen von Einzelunterricht, der dazu verhelfen kann, das anzunehmen, was ist. Dabei lernen sie nicht Neues, sondern werden darin unterstützt, ihre Situation zu fühlen, zu spüren und so besser zu verstehen. Und können so unterstützt werden, ungünstige Bewegungsmuster loszulassen und zu verlernen, bevor etwas Neues, Effektiveres eingeübt werden kann. (4, 5)

Der zweite nützliche Zeitraum für kritisches Fragen kann sich ergeben, wenn Abläufe, Routinen und Bewegungssystematiken über einen längeren Zeitraum erlernt wurden und sie relativ stabil ablaufen. Dann wäre es hilfreich, das angeeignete Bewegungs-Modell neu zu betrachten, und sich in einem anderen Zusammenhang zu erfahren.

Es könnte zum Beispiel sinnvoll sein, ein Seminar zu besuchen, auf dem „das Gleiche“ von anderen Lehrer*innen etwas anders ausgeführt wird. In solchen Situationen wird es dann gelingen, wirklich etwas Neues zu erfahren und zu erleben, wenn man sich darauf einlässt: neugierig und offen. Das erfordert allerdings, alles, was bisher gelernt und als richtig erkannt wurde, – zumindest für die Zeit des Seminars – zu vergessen und so (wieder) Unsicherheit und Nicht-Wissen zu akzeptieren. Zen-Praktizierende nennen das eine Rückkehr zum kindlich-frechen Anfängergeist.

Nutzen & Risiken der Wissenschafts-Religion

Wird heute von „Wissenschaft“ gesprochen, ist meist etwas anderes gemeint: Ein Glaube an die Wahrheiten einer schriftlich fixierten „Wissenschafts-Religion“. Sie besteht aus den Lehrmeinungen von über alle Zweifel erhabenen Wissenschaftspriester*innen, aus großen Datenbanken, bürokratischen Formalismen und heiligen Büchern. Das heißt aus vielen festgelegten und alternativlosen Weisheiten, die den staunenden Laien verkünden, „wie es wirklich ist“.

Diese Art der „Wissenschaft“ oder des „Wahrheit“-Dogmas von Expert*innen verhindert neugierige, fröhliche Kritik. Denn sie ordnet die Welt in Kästchen von „richtig und falsch“. Sie ist deshalb der „künstlichen Intelligenz“ (AI) verwandt, die auf Einzeldaten und auf Mustern beruht, die in der Vergangenheit eingefüllt wurden. Und sie steht im Gegensatz zu verkörperter, sich stetig erneuernder, menschlich-lebender Intelligenz. Also unter anderem der Fähigkeit, mit überraschend neuen, bisher völlig unbekannten Situationen klarzukommen.

Aber auch ein Unterricht zum Stand „universitär festgelegten Wissens“ kann nützlich sein, um zum Beispiel die wesentlichen Standard-Kenntnisse in Anatomie, Physiologie und Ähnlichem zu vermitteln. Alle zurzeit als gesichert erachteten Wissenschafts-Dogmen fördern aber nur dann wirkliches Verständnis, wenn selber (im persönlichen Kontext) weitergedacht, experimentiert und gehandelt wird. Sonst bleibt es beim Wiedergeben von Datenbank-Inhalten, und das können die Algorithmen der AI besser.   

Der Psychiater Ian McGilchrist glaubt, dass mit der gewaltigen Überbetonung der Einzelanalysen von Fakten die große Tragik der europäischen Neuzeit begann. Einzeldaten sind die Bausteine der Wissenschafts-Dogmen, die mit den Betonungen auf Trennung und tote Einzelfakten immer größere Bedeutung erlangte. Das Verständnis für die großen Zusammenhänge geht dafür immer weiter verloren. (6)

In der Naturwissenschaft, der Quantenphysik und der System-Biologie, weitet sich der Blick wieder auf Zusammenhänge, Beziehungen, Dynamiken, Rhythmen und Wirkbezüge. Denn in der Realität wurde, trotz intensiven Suchens, nichts gefunden, was getrennt von allem anderen existieren könnte.

Diese moderne Art wissenschaftlichen (undogmatischen) Fragens könnte in den Kursen der Kampfkunst und der achtsamen Bewegung genutzt werden.

Zum Beispiel zum besseren Verständnis miteinander verwobener Funktionseinheiten aus Muskeln, Nerven, Gefäßen, Faszien und Knochen. Im Mikroskop zeigt sich dabei, wie jede dieser Zellen von feinen Fibrillen durchwebt ist, die über Kontaktstellen zu Nachbarzellen führen. Und wie alle Zellen mit allen anderen in einem gigantischen Informations- und Bewegungssystem verknüpft sind. (7)

Im Unterricht kann die Perfektion geistig-körperlicher Struktur erlebt, gefühlt und gespürt werden. Die wissenschaftliche Sicht kann dazu ergänzend schildern, wie Bewegungsapparat, Gehirn, Darmbakterien, Stoffwechsel durch zahllose Rückkopplungen miteinander verschaltet sind und sich aufeinander einschwingen.

Wissenschaft zeigt, wie Körperzellen und das Gewimmel der sie umgebenden Bakterien in Überlagerungen quanten-physikalischer Wellen kommunizieren. Im Gegensatz zu Künstlicher Intelligenz und zu Dogmatikern gehen neugierige Forscher immer von „Nicht-Wissen“ aus. Absolute Sicherheiten oder Modelle (die in der Vergangenheit entstanden sind) verhelfen ihnen höchstens zu weiteren klugen Fragen. In der Physik sprechen daher viele nicht von „Wahrheiten“, sondern von einem „modellabhängigen Realismus“ (8)

Damit nähert sich moderne Naturwissenschaft der Unbestimmtheit östlicher Philosophien an, die eine Essenz (ein Dao) für unsagbar hielten. Oder erinnert auch an konfuzianischen Pragmatismus, der auf unanzweifelbare Wahrheiten verzichtete, und stattdessen sinnvolles Handeln anregte. (9)

Trainer*innen östlicher Bewegungsformen und die modernen Naturwissenschaften kommen also bei der Betrachtung des Gleichen aus anderen Perspektiven offenbar häufig zu ganz ähnlichen Ergebnissen: Diese Synergien lassen sich nutzen.

Natur-wissenschaft bestätigt viele Aspekte, die beim Erlernen östlicher Bewegungsarten erlebt werden.

Viele Aspekte und Prinzipien der Kampfkunst und achtsamer Bewegung wurden inzwischen aus naturwissenschaftlicher Sicht bestätigt. Die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten (unter vielem anderen die der Schwerkraft) in ihrer Wirkungsweise zu erleben und sie zugleich in Ruhe zu überdenken, fördert ein intensiveres Verständnis der Zusammenhänge. Beispiele:

Intention

Im Osten vermutete man seit Jahrhunderten, dass der Bereitstellungsenergie (Qi) eine nicht bewusste „Intention“ vorausgehe und erst aus beiden Anregungswellen eine Bewegung erfolge. Der Hirnforscher Rudolfo Llinas nannte dieses grundlegende Phänomen „prädiktiven Imperativ“ . Trainingserfahrung und wissenschaftliche Beobachtung zeigen gleichermaßen, wie eine (unbewusste) Einstellung zu dem, was eine Situation gerade erfordert („Intension“), den bewussten Entscheidungen und Befehlen vorausgeht. Bewusstsein (das „Ich“ als bewertende Instanz) betrachtet oder reagiert. Intention dagegen ereignet sich unmittelbar. (10)

Nicht schnell, sondern sofort

Fließt die Intension widerstandsfrei, können Bewegungen ohne Zeitverlust folgen. Wie bei einem Segler, der nicht auf den Wind reagiert, sondern ihm folgt. Solche Formen schlagartiger Informationsübertragungen können im Labor beobachtet werden. Zum Beispiel die Reaktionen der „Kalzium-Kanäle“ in den Zellmembranen, die nicht etwa im Rahmen eines relativ langsamen chemischen Prozesses erfolgen. Sie stellen vielmehr ein quantenphysikalisches Phänomen dar und ändern ihre Polung schlagartig. (11)

Das Zellinnere und auch die Funktionseinheiten der Nerven und Bewegungszellen scheinen deshalb nicht hochkomplizierten Rechnern zu gleichen, die eins nach dem anderen verarbeiten, sondern vielmehr „Quanten-Netzwerken“, die ohne Zeitverzögerung unendlich viele einströmende Informationen sofort bewerten. Informationsübertragungen, wie wir sie vom Radio (mit Sender und Empfänger) kennen, scheinen in Lebewesen eine Ausnahme zu bilden. Vielmehr schwingen Zellen und Funktionseinheiten miteinander in Rückkopplungsschleifen. Und Informationen werden dann über die Modulationen dieser Grundrhythmen übertragen. (12)

Erfahrung, Wahrscheinlichkeit und Bewegungssteuerung

Aus allen östlichen Bewegungsarten ist bekannt: Man muss, um neue Bewegungsmuster einigermaßen sicher zu beherrschen, viele Jahre, oft auch jahrzehntelang trainieren. Roboter können das nicht, trotz immer aufwendigerer Programmierung (sogenannter) „Künstlicher Intelligenz“. Daniel Wolpert, ein Bewegungsphysiologe, beobachtete im Labor, was Bewegungskünstler immer wieder erleben: Handlungsentscheidungen aufgrund unmittelbarer Sinneseindrücke („Information-Input“) wären viel zu langsam und zu unpräzise. Daher werden einfließende Informationen in allen Sportarten und Bewegungsformen (nahezu aller Tiere) mit Erfahrungswissen und implizitem Können abgeglichen. Auf dieser Basis wird, mit einer sehr großen Genauigkeit, die Wahrscheinlichkeit bestimmt, in der sich eine Situation entwickeln wird. Und dann dazu die geeignete Intention gebildet, die genau zu dieser Dynamik passt und zu dem effektivsten Bewegungsmuster führt. (13)

Das Erlernen neuer motorischer Kompetenzen erfordert ständiges Feedback über Erfolg oder Misserfolg dessen, was getan wird. Ohne achtsames Bewusstsein dauerte der Lernprozess wesentlich länger. (14)

Tensegrity und myofasziale Züge

Die Bedeutung des Dehnens und Verdrillens faszialer Strukturen wurde und wird in den östlichen Bewegungsformen seit 3.000 Jahren erkannt. Und auch trainiert. Vor einem halben Jahrhundert wurde erstmals in der Architektur von Zelten und komplexen Dachkonstruktionen mit Spannungszügen und großflächigen Verbindungen experimentiert. Mittlerweile wurde das Prinzip der Integration von Spannungslinien in allen lebenden Systemen beobachtet (sogenannte „Tens-egrity“, gebildet aus den Worten Tension und Integrity). Muskeln können fasziale Verbindungen aufdehnen, dabei für Energiespeicherung sorgen, die anschließend durch Loslassen der Bindegewebe wieder entladen wird. Die daraus abgeleiteten biomechanischen, spiraldynamischen Erkenntnisse (zum Beispiel die Spannungsübertragung von der Hüfte auf den Fuß über die Zuggurtung an der Oberschenkelaußenseite) können sehr effektiv in Qigong, Taijiquan und Yoga integriert werden. (15)

Mikrobiom und Psycho-Endo-Neurologie

In China wurde „ein Mensch“ seit Jahrtausenden als ein eigenes Staatswesen aufgefasst, das aus vielen Einzelwesen bestehe, die idealerweise miteinander harmonieren sollten. Inzwischen ist diese Sicht die Grundlage der System-Biologie: Menschen sind »Superorganismen«. Sie bestehen nicht nur aus Zellen, sondern (unter anderem) auch aus Bakterien und Viren. Diese Einzel-Lebewesen sind untereinander und mit Darm, Gehirn, Nerven-, Stoffwechsel- und Immunsystem und Bewegungsapparat in vielfältigen Feedbackschleifen verwoben. Sie wirken harmonisch in einem komplexen System und ermöglichen so eine flexible Anpassung dieses Organismus an äußere Belastungen. Und dieser Gesamtorganismus kann durch geeignetes Training beruhigt und sinnvoll tonisiert werden. (16)

Beruhigung der Immun-, Atem- und Herz-Kreislauffunktionen

Bei der Ausübung antiker Bewegungsformen wurde Wert gelegt auf Ruhe, Achtsamkeit und einen gleichmäßigen Fluss des Atems. Diese Techniken gründen auf seit Jahrtausenden durchgeführten Ritualen, die Sinnesreize wie Riechen, Schmecken, Bewegen, Spüren, Hören einbezogen. Und die (gegebenenfalls im Rahmen langsamer Ganzkörperbewegungen) ruhige, vertiefte Ausatmungen anregten. Die rituellen Handlungen stabilisierten den natürlichen Rhythmus des Vagus-Nerven und begünstigten die Entstehung meditativer Zustände. Sie stimulierten reflexartig miteinander verbundene Nervengeflechte, die die mimische Muskulatur, Kopfhaut, Kehlkopf, Rachenraum, Mimik und die Innenohrmuskulatur versorgen. Und begünstigten so über ruhige Herz-Lungen-Rhythmen und eine Dämpfung der Immunfunktion körperliche und geistige Heilungsprozesse (17)

In der Hirnphysiologie wurde entschlüsselt, wie die beteiligten Mittel- und Stammhirnregionen funktionieren. Und wie sie unter anderem über den vorderen und den hinteren Anteil des Vagus-Nerven auf Herz und Lunge und auf die Immunfunktion wirken. Die wesentliche Aufgabe dieser Nervenbahn besteht darin, beruhigende, rhythmische Impulse des Mittelhirns an die Herz-Kreislauf-, Atmungs-, Darm-, Immun- und Stoffwechselfunktionen weiterzuleiten.

Der hintere Vagus-Kern ist der Ursprung des „AntiinflammatorischenReflexes“, der die Immunzellen sinnvoll dämpft. Die vom Stammhirn kommenden, atemsynchronen Signale tonisieren die Immunfunktion und gestalten sie ruhig und effektiv. Überschießende Reaktionen, die zu schweren Krankheitsverläufen führen würden (sogenannter „Zytokin-Sturm), können so oft verhindert werden. Dieser Reflexbogen ist eine der Grundlagen der Entwicklung der erworbenen („intelligenten“) Immunfunktion, die das angeborene „aggressiv-nicht-spezifische“ Immunsystem überlagert. (18)

Der vordere (jüngere Anteil) des Vagus-Nerven wirkt beruhigend auf die Herz-Lungenfunktion. Er spielt (mit anderen Hirnnerven) eine wesentliche Rolle bei der sozialen Kommunikation (unter anderem Stimmbildung und Mimik). Die Bewertung einer Situation als „sicher“, im Rahmen einer Beziehung mit Artgenossen, erfordert Mittelhirnfunktionen. Wenn Säugetiere Laute und Handlungen ihrer Artgenossen wahrnehmen, wirken Signale (unter anderem über Hormone wie Oxytozin und Dopamin) auf den Vagus-Nerv und auf die reflektorisch mit ihm verbundenen Nerven und ermöglichen so den Ausdruck sozialer Kommunikation. Die resultierende Beruhigung von Herz- und Atmungsfunktion kann dann als sogenannte „Respiratorische Sinusarrhythmie“ gemessen werden.

So beruhigt, werden die Automatik der Stammhirnprogramme gedämpft und Körperfunktionen auf entspanntes Ausruhen oder wirksam-stressfreies Tätigsein eingestimmt. Der Vagus bremst nicht, sondern seine Funktion sorgt für bewegungsarme Ruhe (Meditation) oder für freudvolles Spielen und Arbeiten, ohne Stress oder gar Panik. (19, 20)

Die Kompetenzen der Vagus-Beruhigung gehen in der Hektik moderner Zivilisationen verloren. Daher wittern Immunologen, Kardiologen und andere ein neues lukratives Geschäft im Medizinmarkt: die chirurgische Einpflanzung elektronischer Vagus-Schrittmacher (21)

Geeignete Trainingskurse achtsamer Bewegung sind preiswerter, risikoärmer und wirksamer. Wer also gesund und ohne Infektion durch einen Winter kommen möchte, sollte seine Immunfunktion durch ausreichend Pausen und Schlaf beruhigen und zugleich durch körperliche Bewegung trainieren.

Bild:

Grundlegende Kommunikations-Programme: Reflexe (Rückenmark), Erstarren (Stammhirn), Widerstehen-Angreifen-Fliehen (Sympaticus, Stamm- & Mittelhirn), und in Sicherheit sozial kommunizieren („Limbisches“ Mittelhirnsystem, „Kiemenbogennerven“ inkl. des Nervus Vagus). Der hintere Anteil des Vagusnerven (Motor-Nucleus – DMNv) vermittelt bei der Geburt die Tauchreaktion („Nicht zappeln!“). Nach der Geburt reift er allmählich aus zu einem wichtigen Rhythmusgeber des Immunsystems („anti-inflammatorischer Reflex“). Er hat ferner große Bedeutung für die Entwicklung der Funktionen der Beckenorgane. Der vordere Ursprungs-Kern des Vagus (Nucleus ambiguus) gehört zu einer Nervengruppe, die beim Übergang von Fischen zu Landtieren „arbeitslos“ wurden: die Kiemenbogennerven. Sie dienen bei Säugetieren der Ermöglichung und Ausgestaltung sozialer Kommunikation. Graphik Jäger 2020

Verstehen, welche Auswirkungen von achtsamer Bewegung gemessen werden können und welche nicht.

Das Verständnis für Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Methoden kann sehr nützlich sein: zum Beispiel um Publikationen besser zu interpretieren oder um wirkungsvoller mit Institutionen verhandeln zu können.

Das Erlernen östlicher Bewegungsmethoden wirkt sich körperlich-geistig auf den gesamten Organismus aus. Die Facetten von Veränderungen bilden sich erst allmählich im Prozess des Lernens. Man kann Entwicklungen in Studien beobachten. Zum Beispiel ob bei Personen, die bestimmte Methoden trainieren, Verhaltensänderungen auftreten. Und auf welche Art von Lernerfolgen gewünschte Prozesse zurückzuführen sind. Es könnte auch gemessen werden, ob der Bedarf an medizinischen Anwendungen und Interventionen im Rahmen des Trainings eher steigt oder sinkt. Oder ob mit Belastungen anders umgegangen wird. Oder ob ungünstige Reaktionsmuster und Haltungen wirksam verlernt wurden.

Dagegen machte es keinen Sinn zu messen, ob „Taiji, Qigong, Yoga“ oder verwandte Methoden Cholesterinwerte oder den Blutdruck senken könnten. Denn Kampfkunst oder achtsame Bewegungen wirken nicht spezifisch auf Einzelfaktoren. Diese Art von Studien sollte man besser ignorieren: Sie sagen wenig oder nichts aus.

Um Systemeffekte zu messen, wie sie beim Training achtsamer Bewegungen entstehen, müssen alle Entwicklungsaspekte der Personen einbezogen werden. Das geschah 2018 im Rahmen einer sorgfältig durchgeführten Studie im British Medical Journal. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass

Taiji Geist-Körper-Training zu einer ähnlichen oder größeren Verbesserung der Symptome führt als aerobes Training … Längere Dauer des Taiji zeigte größere Verbesserungen.“ (22)

Studien wie diese zeigen, dass östliche Bewegungssysteme in den Händen geeigneter Ausbilder*innen die Gesundheit günstig beeinflussen können.

Denn Achtsamkeit und entspannte Bewegung werden hierbei gleichermaßen trainiert.

Fazit

Die Sichtweisen östlicher Achtsamkeit und Bewegungssysteme und die naturwissenschaftliche Sicht widersprechen sich nicht.

Es macht sehr viel Sinn, beides miteinander zu versöhnen und zu integrieren. Die geforderten Stunden der Vermittlung natur-wissenschaftlicher Grundkenntnisse können den Unterricht also bereichern. Ähnlich wie die Pausen, zwischen den Melodien, den Fluss der Musik vertiefen und intensivieren können.

Es ist nicht erforderlich, in dieser Zeit die Kursteilnehmer*innen mit „Wissenschafts-Dogmen“ zu langweilen. Sondern besser durch die Vermittlung physikalischer und biologischer Erkenntnisse das zu reflektieren, was man tut. So als träte man zurück und beobachtete sich selbst. Sehe klarer und verstehe besser. Möglicherweise kann man auch Schüler*innen, denen der westliche Blick auf einzelnes besonders vertraut ist, besser dort abholen, wo sie sind. Und auch nach außen selbstbewusster vermitteln, dass Bewegungskunst und Naturwissenschaft sich gegenseitig bestätigen, und vielleicht sogar verstärken.     

Mehr

Literatur

  1. Ralston P: The book of Not-Knowing, North Atlantic Books, Berkeley 2010
  2. Patrick Kelly: Relax Deep Mind, Eigenverlag 2004
  3. Rovelli C: Die Geburt der Wissenschaft, Rowohlt 2019
  4. www.bodyawareness.ch
  5. www.alexander-technik.org
  6. McGilchrist I: The Master and his Emissary. The Divided Brain and the Making of the Western World, Yale University Press 2010; ders.: The Divided Brain and the Search for Meaning. Why Are We So Unhappy? Yale University Press 2012
  7. Piccolo St.: Die Mechanik der Zelle, in: Spektrum der Wissenschaft August 2015 (www.spektrum.de/magazin/die-mechanik-der-zelle/1351067
  8. Stephen Hawkins St, Mlodinow L: Der große Entwurf: Eine neue Erklärung des Universums,rororo 2011)
  9. Littlejohn R: Kongzi on Religious Experience, in: Southeast Review of Asian Studies 2007, 29, S. 225-232, www.questia.com/library/journal/1G1-172514691/kongzi-on-religious-experience
  10. Llinas R et al.: The ‘prediction imperative’ as the basis for self-awareness, in Philosophical Transations The Royal Society 2009, www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2666709
  11. Yamakage M, Akiyoshi Namiki: Calcium channels, in: Canadian Journal of Anaestesia 2002, 49(2), S. 151–164, https://link.springer.com/article/10.1007/BF03020488
  12. Buzsáki G: Neural Syntax, in: Neuron, 2010, 68, S. 362-385, www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3005627
  13. Wolpert Det al.: Principles of sensorimotor learning, in: Nature Reviews Neuroscience 2011, S. 740-751; – Mohsen Sadeghi, James N. Ingram, Daniel M. Wolpert: Adaptive coupling influences generalization of sensorimotor learning, in PLOS one, 29.11.2018, https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0207482
  14. Manley H et al: When Money Is Not Enough: Awareness, Success, and Variability in Motor Learning, in: PLOS ONE 9(1), 18.1.2014, https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0086580
  15. Scarr G: Helical tensegrity as a structural mechanism in human anatomy, in: International Journal of Osteopathic Medicine, Jan. 2011, 14, S. 24-32; Tom Myers: Anatomy Trains, Elsevier 2014)
  16. Jäger H: Die Entwicklung des Ökosystems Mensch, in: Gyn äkologische Praxis 2020, 46(2), S. 187-197
  17. Porges St: Ancient Rituals, Contemplative Practices and Vagal Pathways, auf: Embodied Philosophy 2019, www.embodiedphilosophy.com/ancient-rituals-contemplative-practices-and-vagal-pathways
  18. Tracey KJ: The inflammatory reflex, in: Nature. 2002, 420, S. 853–862; Davide Martelli et al: Anti-inflammatory reflex action, in: Am J Physiol Regul Integr Comp Physiol316: R235–R242, 2019)
  19. Colzato L et al: Darwin revisited: The vagus nerv is a causal element in controlling recognition of other’s emotions, in: Cortex 2017 Jul;92, S. 95-102 (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28460255
  20. Cabej N: Epigenitic principles of evolution, in Zhang Ed: Epigenetics in Health and Disease, Springer 2018, Kap. 14, S. 647-730
  21. Valentin A. Pavlov et al.: Bioelectronic Medicine: From Preclinical Studies on the Inflammatory Reflex to New Approaches in Disease Diagnosis and Treatment, in: Cold Spring Harbor Perspectives in Medicine, März 2020 2;10(3), http://perspectivesinmedicine.cshlp.org/content/10/3/a034140.full
  22. Chenchen Wang et al.: Effect of tai chi versus aerobic exercise for fibromyalgia, in: British Medical Journal 2018, 360:k85, www.bmj.com/content/bmj/360/bmj.k851.full.pdf
Letzte Aktualisierung: 25.02.2021