Kriegs-Philosophie

Inhalt
- Aufhören
- Friede?
- Glaubenskriege
- Selberdenken in Informationskriegen.
- Gewalt und Gegengewalt
- Begriffe klären („Krieg“)
Aufhören
Krieg ist ein Verbrechen
Die Chancen für eine friedvolle Entwicklung der Welt stehen schlecht.
Interview mit US-Ökonom Jeffrey Sachs 24.04.2022

Ist Pazifismus aus der Zeit gefallen?
In Kriegen muss man glauben und auf der richtigen Seite zu stehen. Selber denken stört. Paktieren die „Versteher“, „Querdenker“ oder Schwurbler nicht mit dem Feind? Verraten sie nicht das Gute und verhöhnen die Opfer?
Kriegern gilt Friede als Schimpfwort. Sie setzen es mit Schwäche und Kollaps gleich.
Tatsächlich ist gewaltfreies Aushandeln von Konflikten wesentlich effektiver als Gewalt „gegen irgendetwas“. Es erspart Kollateralschäden. Es schont eigene Energiereserven und schafft Entwicklungs-Möglichkeiten. Kriege kommen deshalb in der Evolution nicht vor: Es vermehren sich die, die sich besser anpassen und kooperieren können.
In jeder Phase von Kriegen macht es Sinn, Pausen einzulegen. Und (zumindest vorübergehend) Gewalt nicht mit Gegengewalt zu beantworten. Erst wenn primitive Krokodil-Reflexe („Zubeißen oder Weglaufen“) beruhigt wurden, kann man Gefühle empfinden und zeigen: Wut, Ärger, Trauer, Ekel, …
Gefühle sind die Basis menschlicher Kommunikation. Hört man sie an, und versucht sie zu verstehen, gelingt es manchmal rational miteinander zu reden. Z.B. über das, was alle am dringendsten benötigen: Sicherheit.
Erst später, beim Aufbau einer Friedensordnung, können und müssen dann die Verbrechen, das Unrecht, die Morde, die Vergewaltigungen, die Zerstörungen aufgearbeitet und vor Gericht gestellt werden.
Gut und Böse klar getrennt?
Wirklichkeit ist komplex, eigendynamisch und unberechenbar. Auch in Kriegen. Und ganz besonders, wenn eine Kriegspartei, wie ein Raubtier eingekeilt, mit dem Rücken zur Wand steht.
Wer eine Bedrohung als existentiell empfindet, hat keine andere Wahl, als zu gewinnen. Denn ein Sieg der Gegenpartei könnte politisch nicht überlebt werden.
Die USA und die NATO können eine Rückstufung ihres globalen Machtpotentials nicht zulassen, zumal China dann aufsteigen würde. Umgekehrt können die Herrscher in Russland und Weißrussland nicht hinnehmen, zu Vasallenstaaten des Westens zurückgestuft zu werden. Würde die russische Wirtschaft zerstört, wie die deutsche und die englische Außenministerin fordern, könnte es tatsächlich zu einem Systemwechsel in Moskau kommen. Dann würde das rohstoffreiche Eurasien nördlich der Mongolei von westlichen Konzernen übernommen werden. Das widerspräche aber den elementaren Sicherheitsinteressen Chinas. Die Gefahr eines Weltkrieges wäre auch bei einem Sieg des Westens nicht beseitigt, und die Chance einer friedlichen Weltordnung nicht näher gerückt.
Die Situation ist komplex

Wer im aktuellen Krieg wen bekämpft, und mit welchen Finessen, ist nicht so offensichtlich, wie es scheint. Denn anders als in den Kriegen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen sich im Ukraine-Konflikt keine unterschiedlichen Wirtschaftssysteme gegenüber, und auch keine gegensätzlichen Religionen.
Stattdessen sind viele Superreiche (die je nach Lagerzugehörigkeit Unternehmer, Gangster, Mäzene oder Oligarchen genannt werden) und die Supermächtigen dabei, die Welt neu unter sich aufzuteilen. Die Menschen in der Ukraine leiden besonders, weil sie zwischen die Fronten geraten sind. Je länger der Krieg bei ihnen andauern wird, desto stärker wird ihre Lebensgrundlage zerstört werden.
Alle die gewinnen wollen, haben vor, kapitalistisches Wachstum zu sichern. Unabhängig davon, welche Fraktionen verfeindeter Konzerne, Politik-Gruppierungen, oder orthodoxer, katholischer oder protestantischer Kirchen, oder welche amerikanischen oder Kosaken-Militärs sich durchsetzen werden: die Chancen für Demokratie und Grundrechte stehen schlecht.
Sicher ist nur: Die übergeordnete Krise der Biosphäre (Klima, Arten, Wasser, Böden …) wird sich durch den Krieg seit Februar 2022 in jedem Fall verschärfen.

Ende gut, alles … aus?
Angenommen, Russlands Führung müsste erkennen, dass die Waffenlieferungen der NATO das Blatt endgültig zugunsten des Westens wenden würden. Das ist nicht unwahrscheinlich, weil die USA 33 Mrd. US$ für diesen Krieg bewilligten (bei einem Verteidigungshaushalt der Ukraine von 6 Mrd US$ gegenüber 65Mrd US$ Russlands). (FR, 31.04.2022) Russlands Führung müsste also einsehen, einen konventionellen Krieg gegenüber der NATO zu verlieren. Oder langsam wirtschaftlich ausbluten. Läge es dann nicht Nahe Verzweiflungstaten zu begehen?
Würde z.B. im Atomkraftwerk Saporischschja am Dnipro (350 km südlich von Kiew) eine konventionelle Bombe explodierenwären , ginge in der Ukraine das Licht aus. Große Teile des Landes (und Europas) verstrahlt: aber der Krieg wäre beendet.. Oder? Die Antwort könnte in einem „Enthauptungsschlag“ auf die Kommandostellen in Moska und Minsk mit hochpräzisen, taktischen Atomwaffen sein (wie die englische Außenministerin schon reflektierte). Damit wäre dann der große Krieg gewonnen. Allerdings verblieben ab dem Start der Raketen irgendwo in Deutschland noch wenige Minuten, in denen vielleicht jemand noch angesichts des eigenen Todes auf den „roten Knopf“ drücken könnte.
Anschließend herrschte in weiten Teilen des Planeten (und vielleicht auch überall) eine Zeitlang Ruhe. Bis ein paar Millionen Jahre später andere (vielleicht intelligentere) Gattungen die Erde besiedeln würden.
Für solche Szenarien ist es nicht nötig, sich gegenseitig Bösartigkeit zu unterstellen. Ein Zufall reichte, denn die Militärkomplexe stehen sich unmittelbar gegenüber, und eine kleine Fehlentscheidung könnte reichen, um einen Nuklear-Tsunami auszulösen.
Noch gibt es Chancen
Menschen können sich verweigern, bei bösartigem, menschen- und umweltfeindlichen Schwachsinn mitzumachen. Sie können auch selber denken und andern davon erzählen. Und den Kriegsdienst verweigern und Kriegsdienstverweigerern helfen.

Ich wünschte, es würden mehr Menschen darüber nachdenken, wie eine sichere, friedfertige, nachhaltige, soziale, demokratische Nachkriegsordnung entstehen könnte. Und wie wir dabei unterstützend aktiv werden können.
In jedem Fall werden wir von dem Krieg (egal ob er über Jahrzehnte andauern, oder in einem plötzlichen Knall enden wird) intensiv betroffen sein. Deshalb sollten wir
- uns jeder Beteiligung an dem Krieg enthalten,
- kein Öl ins Feuer gießen oder Waffen liefern,
- auf Diplomatie setzen,
- dazu beitragen, dass die Beteiligten einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg finden.
Mehr
Lehren aus dem sinnlosen Krieg in Afghanistan:
Einschätzungen zum Krieg in der Ukraine (Ende April 2022)
- de Zayas: „Verhandlungen sind absolute Priorität – Am dringlichsten ist ein ehrlicher Dialog und der entschiedene Wille zum Frieden: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-7-8-vom-24-april-2022.html#article_1352
- Erler, Petra : „Der Krieg im Krieg – Wenn Glauben Wissen ersetzt“ und z. B. „Wer Frieden will, muss Frieden vorbereiten“
- IPPNW: Hamburger Erklärung, 30.04.2022
- Lüders, Michael (Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft): https://www.youtube.com/watch?v=bFoFZUMUnsc
- Mearsheimer, John (amerikanischer Politikwissenschaftler): „Es ist ein Krieg zwischen den USA und Russland“ – https://www.heise.de/tp/features/im-Grunde-ein-Krieg-zwischen-den-USA-und-Russland-7064117.html?seite=all
- Müller, Christian(schweizer Journalist): „Die Mitverantwortung der USA und der NATO – vor der Osterweiterung der NATO wurde mehrfach gewarnt“ – https://www.heise.de/tp/features/im-Grunde-ein-Krieg-zwischen-den-USA-und-Russland-7064117.html?seite=all
- Peter, Ralf: Zur Berichterstattung über den Ukrainekrieg. 01.05.2022
- Sachs, Jeffrey: „Die USA würden jahrelangen Krieg tolerieren. Sie würden viele Tote in Kauf nehmen“
- Vad, Erich (Brigadegeneral a.D., militärischer Berater von BKin Merkel): Schwere Waffen „Weg in den Dritten Weltkrieg“: hier oder hier oder hier
- von Dohnanyi, Klaus: Dreiteiliges Interview auf Telepolis (hinter einer Bezahlschranke)
Links
Friede?
Zuerst muss der Krieg enden.
Darin besteht Einigkeit. Nur: Wann?
- Wenn der Besiegte zusammenbricht?
- Oder wenn er schwer verletzt oder tot am Boden liegt?
Warum nicht sofort?
Könnte man nicht eine Pause einlegen, beim gegenseitigen Zuschlagen und Morden? Könnte man die Gewalt vorübergehend einmal nicht mit Gegen-Gewalt beantworten?
Damit Zivilisten gehen, Verletzte versorgt und Tote betrauert werden.
Dann wäre der Krieg für einen Augenblick vorbei. Reptilien-Reflexe („zu-beißen oder weg-laufen“) würden vorübergehend nicht benötigt. Sie klängen ab.

Würden Aggressionsimpulse verebben, könnte man besser fühlen: Wut, Trauer, Verzweiflung. Das könnte man sich zeigen, und umgekehrt wäre es möglich, Gefühle des Gegenübers wahrzunehmen. Man könnte zuhören, ohne sofort wieder in affenartige Handlungsmuster zurückfallen.
Bevor Sachthemen (zu Recht und Unrecht) erörtert werden, ist eine kurze Zeit des Innehaltens unverzichtbar.
Ein eng fokussierter Blick kann sich weiten auf einen Zusammenhang. Fertige Antworten können durch Fragen ergänzt werden. Und Gewissheiten (von Gut und Böse) könnten an Bedeutung verlieren und Unsicherheit zunehmen: z.B. wie ein friedliches Zusammenleben gestaltet werden könnte.
„Kein Krieg“ ist noch kein Friede.
Wendet man sich kurz vom Krieg ab, können sich die Bedingungen für friedliche Entwicklungen verbessern. Die Zahl der Möglichkeiten kann sich vermehren. Gespräche können stattfinden.

Aber meist sind die „Gegner“ verstockt und tun nicht das, was sie (aus Sicht der Gegen-Seite) tun müssten, um den Krieg zu beenden. Deshalb liegt es nach einer Waffenruhe nahe, den Krieg von Neuem zu beginnen. Diesmal dann mit noch mehr Gewalt und Entschlossenheit. Bis zum bitteren Ende.
Die eigene Einstellung überdenken?
Man könnte auch
- seine Interessen hinterfragen und sich auf seine Werte zu besinnen,
- dem Leben einen höheren Stellenwert einräumen, als der Macht,
- von speziellen Kriegszielen ablassen und sich auf Ursächliches konzentrieren, wie die Schaffung einer Sicherheits- und Friedensordnung,
- Sich selbst neu sortieren, hinterfragen und die Situation besser verstehen,
- durch eine Veränderung der eigenen Einstellung die Chance für Frieden vermehren?
Oder aber auf Sieg setzen:
„Dieser Krieg wird auf dem Schlachtfeld gewonnen.“
EU-Außenpolitiker Josep Borell Fontelles, 09.04.2022, Twitter.
Wer genau wird dann gewinnen? Und zu welchem Preis?

The important thing is not to stop questioning.
Albert Einstein
Glaubenskriege
Kriege sind Verbrechen
Im Krieg scheint jedes Mittel recht zu sein, um Macht-Interessen durchzusetzen. Bösartigkeit wird hervorgelockt und gelenkt. Es geht um Sucht nach Macht, Geld, Einfluss.
Oder auch um einen Kampf übergeordneter Glaubenssysteme?

„Wir sind in einen Kampf eingetreten, der nicht nur eine physische,
sondern eine metaphysische Bedeutung hat“ Kirill, Moskauer Patriarch PW 09.03.2022
Ist das so?

Kirill will „alte russische“ Werte verteidigen und „Sünde“ verdrängen. Er fühlt sich von jungen Frauen und schwulen Männern bedroht, und wünscht einen Macht-Zuwachs seiner Kirche. (24.02.2022, 07.03.2022).
Bartholomäus (der ökumenische Patriarch von Konstantinopel) unterstützt derweil die von Kirill abtrünnige ukrainisch-orthodoxe Kirche (Euronews 29.03.2022). Auch er betet für einen Sieg (CNA, 29.03.2022), gemeinsam mit dem polnisch-katholischen Klerus, der die ukrainischen Katholiken vor der Vernichtung durch Kirill retten will. (Tagespost 01.04.2022) Auch viele andere Gläubige haben bei dem Gemetzel ihre Finger im Spiel: u.a. auch weit entfernte, bibeltreue Christen im fernen Amerika. (Current 04.03.2022)
- Verhilft der Krieg den christlichen Ideologien zu einer Renaissance?
- Wird dieser Krieg ihren Niedergang endgültig besiegeln?
- Könnten die Religionen einen Beitrag zu Versöhnung leisten?
Kriegs-Ideologien
In der blutigen Menschheitsgeschichte wurden Kriege häufig aus rein persönlicher Machtgier begonnen. Erfolgreich waren sie aber meist erst dann, wenn sich der persönliche Egoismus des Kriegsherrn einer größeren Ideologie unterwarf:
- Darius der Große, der im ersten Gottesreich für die „reine Wahrheit“ Zarathustras stritt,
- Alexander der Große, der die Muttergottes-Heiland-Religion Kleinasiens verkünden ließ,
- Konstantin der Große, der seine aus Kleinasien importierte Muttergottes-Sol-invictus-Religion mit dem Trinitatis-Christentum verschmolz,
- Karl der Große, der das christliche Europa begründete und die Heiden erschlug,
- Mohammed, dessen reiner Monotheismus die Herrschaftssysteme von Afrika bis Indien wegfegte.
Die Macht der keltischen Fürsten in Europa sicherten Druiden, die das Volk im Glauben beherrschten. Die den Römern nachfolgenden christlichen Könige übernahmen diese Tradition und hielten sich Priester, die ihre Kriege segneten.
Die Raubzüge der Spanier und Portugiesen wären gescheitert, wenn nicht die skrupellose Gier ihrer Mörderbanden in Amerika durch die frohe Botschaft des Kreuzes ergänzt worden wäre. Damals konnten dieser religiösen Welle nur Königreiche widerstehen, die über andere stabile Staatsreligionen verfügten: Konfuzianismus, Islam, Buddhismus, Hinduismus.
Bis dann vor vierhundert Jahren in Holland und England der Kapitalismus erfunden wurde, der anfangs einen auch mächtigen religiösen Überbau benötigte: den Protestantismus. In den folgenden Jahrhunderten wurden die alten Religionen von der kapitalistischen „Ethik“ des grenzenlosen Raffens überrannt und entscheidend geschwächt, und verkümmerten zum „Opium des Volkes“. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts glaubten einige: „Gott ist tot“. Und andere vermuteten, diese „Krankheit des Geistes“ werde ausheilen.
Ein gewaltiger Irrtum.
Im 20. Jahrhundert scheiterten mehrere, unterschiedlich brutale staats-bürokratische Versuche, Religionen auszurotten, oder sie durch eine „Kommunismus-Religion“ zu ersetzen. Wesentlich erfolgreicher war der Neoliberalismus, dessen „Befreiungen“ in Amerika, Europa, Japan, Süd-Korea u.a. extreme Produktivkräfte freisetzte und den Profit mehrte. Bei seinem raketen-artigen Aufschwung wurde der alte ethisch-moralische Überbau durch Glaube an Konsum und Ablenkung ersetzt. Die alten Religionen verloren im Neoliberalismus an Bedeutung, Inhalt und Macht.
Die kapitalistische Leitmacht der Erde war aber zunehmend nicht mehr in der Lage, andere davon zu überzeugen, dass sie Gutes bringe. Denn grenzenloses Wachstum (zum Nutzen weniger) bot den vielen armen Leuten keine besseren Perspektiven, als die alten Religionen mit ihrem Glücksversprechen in einem fernen Paradies. Und so verlor der „Westen“ viele Kriege u.a. in Vietnam, Iran, Irak, Libyen, Syrien. Zuletzt in Afghanistan, besiegt durch schlichte Koranschüler. Nicht weil die über bessere Waffen verfügten, sondern weil es ihnen, in ihrer rückwärts gewandten, brutalen Schlichtheit, gelang, viele Menschen von ihrem wachstums- und frauenfeindlichen Dogma-System zu überzeugen.
Auch im Ukraine-Krieg 2020 wird es nicht nur darum gehen, welches Wirtschaftssystem, welche Oligarchen, welche Konzerne, welche Militärs und welche Machtgruppierung sich durchsetzen werden. Auch die Art des ideologischen Überbaus wird über den Verlauf und das Ende des Krieges mitentscheiden. Die Vorstellungen der Menschen, die bisher arm geblieben sind und die in ihrer Neo-Frömmigkeit an etwas glauben, werden zukunftsentscheidend sein.
Ukrainische und russische Kampfkunst
In der Ukraine stehen sich christlich-gläubige Kampfhähne gegenüber, die mit allen legalen und illegalen Mittel psychologischer, propagandistischer, körperlicher und technischer Kriegsführung vertraut sind. Die Ausbildungen der Kampfeinheiten beider Seiten beruhen dabei auf ähnlichen historischen Traditionen.
Im 15. Jahrhundert bildeten sich auf den Gebieten der heutigen Ukraine Gemeinschaften „freier“ Reiterverbände, zu denen viele ehemalige Leibeigene stießen. Diese Kosaken entwickelten eine einzigartige, kriegerische Kultur in ständiger militärischer Auseinandersetzung mit räuberischen Nomaden oder umgebenden Fürstentümern. In Russland siedelten sie am Don, und waren später an der Eroberung Sibiriens beteiligt. Kosaken bekämpften (je nachdem) die Reichen und Mächtigen oder verdingten sich an sie. (Nikolai Gogol: Taras Bulba, 1835)

Die Geschichte der Kosaken ist komplex: Besonders die politischen Verwirrungen und die Seitenwechsel während der russischen Revolution und in der Zeit des Faschismus. Heute stehen sich Kosaken-Verbände aus der Ukraine (SWR 26.7.2022) und aus Russland (DWN 22.01.2022) wieder gegenüber. Dabei kämpfen nicht nur Waffen, sondern auch Ideologien, die es für die jeweils andere Seite auszurotten gilt.
Die Kämpfenden verbinden kulturelle Traditionen: Zum Beispiel die spirituelle (mystische) Verbindung zum orthodoxen Christentum. Oder das Training traditioneller Kampfkunst, die von der Ukraine bis Sibirien praktiziert wird.
In der Ukraine nennt man die traditionelle Kampfkunst Cossacks Martial Arts Sparring oder Combat Hapak. Im heutigen Russland heißt es „Systema“ (Sibirien-Variante, West-Ural-Variante). Die Prinzipien sind einfach und gleichen chinesischer Kampfkunst:
„Ohne Veränderung der Fassade des Hauses die Tragbalken stehlen und die Stützpfosten austauschen.“ Demonstration eines französischen Systema-Lehrers
Im Gegensatz zu asiatischen Kampfkünsten (u.a. Wing Tsun, Kung Fu, Taiji) kennt Systema keine ritualisierten Formen. Es soll nur effektiv sein und möglichst wenig eigene Energie verbrauchen. Man will gewinnen, ohne zu kämpfen. Und der Gegner soll anschließend energielos am Boden liegen.
Die gleichen physiologischer Bewegungsprinzipien könnten aber auch genutzt werden, um nicht zu kämpfen, sondern mit anderen gewaltfrei zu kommunizieren und so „gemeinsam mit ihnen“ zu gewinnen. Diese Art zu trainieren, wie im chinesischen Taiji, ist gleichermaßen gesund und friedlich. Tatsächlich haben aber auch die von den Kosaken abgeleiteten Kampfkünste eine starke spirituelle Komponente, die auf dem orthodoxen Christentum beruht:
CBA 25.02.2022 „Er (Bischof Malchenko) mache sich keine Sorgen, dass der Konflikt Gläubige mit ukrainischen und russischem Hintergrund trennen werde. Er glaube, alle beteten für eine friedliche Lösung. .. ‚Wir alle fühlen das Leid des ukrainischen Volkes und hoffen und beten, dass dieser Konflikt zu einem Ende kommt, und dass sich keine anderen Länder einmischen, um den Konflikt noch größer zu machen. Er muss eingedämmt werden. Er muss beendet werden, damit das ukrainische Volk in Frieden leben kann.!“. Interview mit Bischof Vladimir Malchenko zu seinem Verständnis von“Gebet“.
Wird es durch eine christliche Renaissance noch schlimmer?

Ich stehe, wie die meisten, dem sinnlosen Krieg in der Ukraine hilflos gegenüber. Gewalt führt zu Gegengewalt. Die immer schrecklichere Eskalationen können das evolutionäre Ende der Gattung Mensch beschleunigen.
Wie könnte der Wahnsinn enden?
Die direkt beteiligten Seiten sind miteinander kulturell verwandt. Könnten sich daraus Ansätze für Friedensprozesse ergeben? Wenn z.B. religiöse Führer, oder auch spirituelle Kampfkünstler der Kosaken-Traditionen, einen Raum fänden, sich zuzuhören oder gemeinsam in Trauer zu schweigen?
Oder wird es (nicht nur) für weibliche, homosexuelle, lebenslustige Menschen noch schlimmer werden, wenn das griechisch-orthodoxe Christentums oder die erz-konservative Katholizismus-Variante erstarkten?
Weltweit erblühen (längst auf der Intensiv-Station geglaubte) Religionen. Aber nicht unbedingt in ihren aufgeklärten, friedvollen Varianten: Islam in Afrika, Hinduismus in Indien, kriegerischer Buddhismus in Myanmar, Konfuzianismus in China u.a.
Was dort wächst, lässt aufgeklärt-kritisch Denkenden die Haare zu Berge stehen. Aber ganz offensichtlich sind viele der „Zurück-zum-Mittelalter-vor-dem-Kapitalismus“-Varianten des Glaubens erfolgreich.
Welche Spiritualität leitet den Westen?
„Klimakrise muss warten. Jetzt ist Krieg … EU vertagt den Artenschutz“
Der Freitag, 31.03.2022
So denkt neoliberale Politik im Kampf um den Sieg und plant schon neues Wachstum nach dem Re-Set. Sicher werden die Katastrophen der Biosphäre nicht warten, bis der Krieg vorbei ist.
Wenn so die Politik visionslos von einer Krise zur nächsten zappelt: Welche Chancen bieten sich dann noch für die diversen, liebenswerten Aspekte der europäischen Kultur?
Gedeiht ein neues spirituelles Wertesystem in Europa? Oder werden wir Neo-Liberalismus, Neo-Konfuzianismus, Neo-Islam und Neo-Christentum alternativlos ausgeliefert sein?
Mehr
Selber Denken in Informationskriegen
Kriegsführer erzählen von den Guten und dem Bösen:
- Dort vor uns steht ein Feind.
- Er versteht nur die Sprache der Gewalt.
- Er muss isoliert, bekämpft und vernichtet werden.
- Kriegführen ist alternativlos.
- Unser Sieg rechtfertigt Mittel und Schäden.
Die Massen haben nie nach der Wahrheit gedürstet. Sie wenden sich von Beweisen ab, die nicht nach ihrem Geschmack sind, und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn der Irrtum sie verführt. Wer sie mit Illusionen versorgen kann, ist leicht ihr Meister; wer versucht, ihre Illusionen zu zerstören, ist immer ihr Opfer. Gustave le Bon (1841-1931), sinngemäß übersetzt.
Kriege produzieren Antworten
und sie blockieren Fragen. Das ist hochgefährlich.

Der Fixierung auf einen Feind folgt zielorientiertes Handeln: gegen Krebs, gegen Bakterien, gegen Viren, gegen Schädlinge, gegen Terroristen, gegen Imperien, gegen Psychopathen, gegen Religionen oder gegen Schurken-Staaten. Über-Informationen, Marketing, PR oder Propaganda verkünden Wahrheiten oder Halb-Wahrheiten und entlarven die Lügen der Gegenseite.
Des-Information, Verschweigen, Verdrehen, Über-Höhen und Deep-Fake-News gehören dabei zum legitimen Waffenarsenal. Denn Angst und Schrecken bewirken, dass auch Zögerliche schließlich so handeln, wie sie sollen. Es entsteht eine Problemlöse-Trance, in der nur das von Bedeutung ist, was im Scheinwerfer-Kegel steht, während die Bühne im Dunkel versinkt.
Internet und Massenmedien sind die hocheffizienten Massenablenkungswaffen der Moderne:
If you can’t convince them: confuse them! Wenn du sie nicht überzeugen kannst: Verwirre sie!“ Murphy’s law
In Kriegen ruhig bleiben?
Ruhe, Zurücktreten, Abstand, Reflektieren, Hinterfragen, Umschau, Weitblick sind unnötig, wenn das Böse eindeutig zu sein scheint. Denn bei unmittelbarer Gefahr ist Zaudern nicht erlaubt.
Die Suche nach friedlichen Möglichkeiten und gewaltfreien Alternativen bleiben in Kriegen solange uninteressant, wie noch genügend Waffen zur Verfügung stehen. Die Realität in ihrer ganzen Komplexität betrachten höchstens Heer-Führer oder Chefärzt:innen. Soldat:innen oder Patient:innen bleiben die wirklichen Zusammenhänge verborgen.
Meist denken wir fremd.
Meist tun wir das, was wir sollen. Wir folgen, dem was irgendwo aufgeschrieben wurde. Wie Kinder, denen eingebläut wurde, die einzig richtige Lösung stünde immer im Kleingedruckten am Ende des Übungsbuches. Man müsse also nur Auswendiglernen, was Besser-Wissende als Wahrheit verkünden.
Fast alle Menschen glauben deshalb viele eindeutige Wahrheiten zu kennen. Und sie reagieren auf die täglichen Herausforderungen mit angelernten Handlungsroutinen. Sie halten sich an Anweisungen, und hoffen, dass es „so“ gut werde. Weil sich die Einstellung in der Vergangenheit bewährt hat.
Anders Denken
„You can analyse the past, but you need to design the future.
Du kannst die Vergangenheit analysieren, aber du musst die Zukunft gestalten“ Edward de Bono
Zu versuchen etwas vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen „selber zu verstehen“, gilt in Notsituationen als verrückt. Graustufen zwischen Schwarz und Weiß zu betrachten, ist verdächtig. Nicht geradeaus zu denken, gilt seit Beginn der Multikrisen als suspekt.

„Lateral Denken“
Entweder ist es richtig, falsch, sinnlos oder imaginär.
G. Spencer-Brown
Bis Ende 2019 galt Querdenken (de Bono 1967) als eine wesentliche Voraussetzung für Innovation, Kreativität, Zukunftsfähigkeit und Veränderungsmanagement.
Seit Anaximander (dem ersten bekannten Wissenschaftler) ist es die Essenz der Natur-Philosophie und Wissenschaft: nach-zu-denken, sich gewiss sein, nichts zu wissen und stattdessen neugierig zu fragen und zu imaginieren:
„Die richtige Antworten haben“ und „Genau wissen wie es ist“ kennzeichnet Glaubenssysteme, Religionen, Schamanismus und viele Lehrmeinungen. Wer es wagt, anders-zu-denken hat in den Kirchen nichts zu suchen und wird als Heid:in verdrängt.
Nicht-normal-denkende werden gern in ideologisch definierte Kästchen einsortiert, um ihre Ideen so zu markieren und dann zu entsorgen. Oder man ignoriert die widerstreitenden Stimmchen im Lärm der interessengeleiteten Massen-Trance-Phänomene. (Matthias Desmet, 2021).
Aber um einen Weg zu finden, der aus den Multikrisen zu einer friedlichen und lebenswerten Zukunft auf diesem Planeten führt, muss das alte Denken, dass uns die Misere geführt hat, durch einen Wandel unserer Einstellung ersetzt werden. Denn wir müssen die Systeme, die uns umgeben und uns ausmachen, besser zu verstehen.
„Wenn es eine ‚Zeitenwende‘ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik geben soll, dann braucht sie ein umfassendes Verständnis von menschlicher Sicherheit, das alle Beiträge zum Frieden einschließt …, denn Sicherheit, Frieden und Entwicklung bedingen einander.“ Martin Vehrenberg, Konsortium Ziviler Friedensdienst 25.03.2022
Wozu Fragen bei dringendem Handlungsbedarf?
Befehlen folgend „reflexhaft Handeln“ geschieht unmittelbar. Innehalten und sich interessiert umschauen erfordert Zeit. Fragen-Stellen wird daher nur toleriert, wenn genügend Zeit zur Verfügung zu stehen scheint. Oder wenn Unwissende noch nach den bekannten Antworten suchen, die Expert:innen seit langem besitzen und aufgeschrieben haben. Wird etwas, was allgemein als „richtig“ akzeptiert wurde, hinterfragt, macht man sich unbeliebt. Zweifel, an dem, was getan werden muss, könnten Problemlösungen verzögern, oder gar die Sicherheit einer gewohnten Weltsicht ins Wanken bringen. Wenn immer alles so ist, wie es war, wären Fragen überflüssig.
Wenn aber eine Situation aufpoppt, die es so noch nicht gegeben hat, versagen die Weisheiten. Denn die jede Wahrheiten beruht auf einem vergangenen Denkmustern.
An unerwarteten Weggabelungen in unbekanntem Gelände kann man (bevor man panisch in eine Richtung rennt) auch stehenbleiben. Und staunen. Und erkennen, dass da etwas (noch) nicht verstanden wurde.
Bieten dann die gewohnten Gewissheiten keine Lösung, sind offenbar neue Ideen nötig. So entstehen aus Fragen neue Erklärungsmodelle, die vorsichtig ausprobiert werden, sich ggf. als fehlerhaft erweisen, zu neuen Fragen führen, oder zu veränderten Experimenten. Ohne dieses Fragen, Testen und Aus-Fehlern-lernen gäbe es nur Religionen, und keine wissenschaftliche Entwicklung. (Rovelli 2019).
„Betrachte die Welt von einem anderen Standpunkt“
„Take the world from another point of view“ Interview (Video) Richard Feynman (1918-1988).
Die Kunst des Fragens
Die Grundlage jeder guten Frage ist „Nicht-Wissen“. Niemand hat je etwas gelernt, was er vorher schon wusste.
Am besten sind Fragen gepaart mit Neugier, um etwas herauszufinden. Sobald jemand aber glaubt zu wissen, wie es „wirklich“ sei, stirbt der Entdeckerdrang. Werden dagegen neue Fenster aufgestoßen, eröffnet sich eine neue unbekannte Welt, in der wieder neue Fragen aufkeimen.
Es gehört Mut dazu, Un-sicherheit ertragen, und über die eigene Beschränktheit zu lachen. Allerdings kann das Wissen um Nicht-Wissen auch zufrieden machen: weil es den Freiheitsraum erweitert.
Neugierig forschende Menschen fühlen sich auch in Situationen wohl, in denen andere Einsamkeit empfinden würden. Und sie haben weniger Bedarf an besserwissenden Dogmen und esoterisch-religiösem Geschwurbele. (Kanazawa 2015, 2016)
Gerade in Gefahr ist es nötig zu fragen!
anstatt: vorschnell antworten.
Meist geschieht angesichts einer großen Bedrohung das Gegenteil: hektischer Aktionismus, Tunnelblick, Unterdrückung des Weitblicks durch Scheuklappen, Dogma, politischen Dampf, Kampf-Euphorie, Kriegs-Metapher, Stress.

Zusammenhänge, Beziehungen und Wechselwirkungen waren unwichtig. Stattdessen wurde und wird „gegen“ etwas gekämpft: gegen Probleme, Mikroben, Terroristen oder Andersgläubige.
Diejenigen, die den Priester:innen der offiziellen Wahrheiten nicht folgen, organisieren sich in Sekten, die gegen übermächtige Kirchen zu kämpfen glauben. In diesem Kampf des gegenseitigen Besser-Wissens, bleibt nur wenig Raum für vorurteils-freies Fragen.
Wahrheit und Lüge
In der Wirklichkeit entstehen immer neue Realitäten, entfalten sich und werden offenbar. „Wahrheit“ oder „Unwahrheit“ sind etwas Statisches, auf Vergangenes bezogen. Sie werden in dem Moment, in dem sie ausgesprochen werden, aktiv erstellt.
Kinder erlernen diese Fähigkeiten mit etwa vier Jahren. Sie sind dann in der Lage, Kasperletheater zu verstehen. Sie können sich dann vorstellen, was im Kopf eines anderen vorgeht, der darüber nachdenkt, was sie wohl denken oder fühlen mögen. Ab diesem Zeitalter sind sie auch für Wahrheiten empfänglich. Sie lauschen den Botschaften von Lehrern und Eltern, die ihnen erklären, dass die Welt eben nicht so sei, wie sie von ihnen subjektiv erfahren wird, oder in ihrer Fantasie entsteht. Sondern vielmehr so, wie sie nach den Lebensmodellen der Erwachsenen zu sein hat.

Realität ist nicht: sie wird.
Sie entwickelt und verändert sich. Man kann solche dynamischen Prozesse begleiten, und, aus dem jeweils subjektiven Blickwinkel, die vielen Einflussfaktoren betrachten, denen sie unterworfen sind.
Unterschiedliche Bewertungen sind dann weder „wahr“ noch „unwahr“, sondern nur „relativ plausibel“ oder „relativ unwahrscheinlich“.
Als (wahrscheinlich) „wahr“ kann man aus wissenschaftlicher Sicht nur bezeichnen, was nach zahllosen Überprüfungen bisher nicht widerlegt werden konnte: z.B. bestimmte Naturgesetze, die zu immer gleichen Mess-Resultaten führen. Wir können dann annehmen, dass die Welt immer wieder, im Rahmen dieser Gesetzmäßigkeiten, neu entstehen wird.
Eine ganz andere Möglichkeit, etwas als „wahr“ zu erkennen, wäre die körperliche Wahrnehmung: In einem Moment die Dynamik und die Facetten des eigenen Selbst und des Umfeldes zu erleben und sich zu verbinden.
Sinkende Qualität kritischer Diskurse in Krisen
In Panik und in Stress kann man nicht kommunizieren. Man greift an, flieht oder bricht zusammen. In diesem Zustand können Information nicht sinnvoll verarbeitet werden. Man brüllt, um Macht zu demonstrieren, aber nicht um Erkenntnisse zu vermitteln,
Angst kann in ein anderes Gefühl gewandelt werden: in Neugier zum Beispiel. Auch dafür sind Informationen nicht hilfreich. Notwenig wären Sicherheit und Vertrauen.
Wird Angst nicht beruhigt, muss man sich an Scheinsicherheiten klammern: Ideologien, Dogmen, Rituale und Regeln.
Wenn es aber gelingt Angst ausklingen zu lassen, kann sich die Aufmerksamkeit weit öffnen, die Möglichkeiten wahrnehmen oder auf die Details zu schauen. Jetzt erst könnte man auf einer ruhigen und respektvollen Basis in einen Dialog treten, bei dem das Zuhören (um zu lernen) eine höhere Bedeutung erhielte, als das sagen (um zu überzeugen).
Diese Art wissenschaftlich-fruchtbarer Diskurse verarmt in unserer Gesellschaft. Und das zeigt sich besonders dramatisch in den Multi- und Mega-Krisen.
Mehr
- Selberdenken Skepsis) –
- Vagus –
- Um die Ecke denken —
- Mattias Desmet zu Massen-Psychologie-Phänomenen August 2021 –
Empfehlungen für kritisches Denken
Bertrand Russel (1872-1970, gekürzt und sinnbemäß übersetzt)
- Nie absolut sicher sein.
- Keine Evidenz vertuschen.
- Nie Denken abwürgen.
- Rational (emotions-beruhigt und ideologie-arm) argumentieren.
- Kein Respekt haben vor Autoritäten.
- Keine Macht nutzen, um Meinungen zu unterdrücken
- Keine Angst haben exzentrisch zu erscheinen, denn jede akzeptierte Meinung war einmal exzentrisch.
- Mehr Spaß haben an intelligentem Dissens, als an passiver Zustimmung.
- Bei der eigenen Wahrheit bleiben.
- Nicht neidisch sein auf das Glück der Narren, die sich im Paradies des Wissens glauben.
Carl Sagan (1934-96, Rules for Bullshit- Busting & Critical Tinking, gekürzt und sinngemäß übersetzt)
- Unabhängige Bestätigung der „Fakten“.
- Alle sachkundigen Standpunkte einbeziehen.
- Wissenschaft kennt keine „Autoritäten“.
- Mehrere Hypothesen ausprobieren und verfolgen.
- Nicht (zu sehr) an einer Hypothese festklammern.
- Es messen, um es zu vergleichen.
- Prüfen, ob jedes Glied einer Argumentationskette funktioniert.
- Occam’s Rasiermesser anwenden: Im Zweifel die einfachere Hypothese wählen.
- Hypothesen versuchen zu widerlegen, besonders die liebgewonnenen.
- Imagination is more important than knowledge. Knowledge is limited. Imagination encircles the world.
- It’s not that I’m so smart, it’s just that I stay with problems longer.
- Great spirits have always encountered violent opposition from mediocre minds.
- I believe in intuitions and inspirations. I sometimes feel that I am right. I do not know that I am.
Literatur
- Bilheran A zur Psychopathologie der Multikrisen: En tant que docteur en psychopathologie, qu’est-ce qui vous frappe le plus dans la situation que nous vivons? (Interviews leider in Französisch)
- Esders M.: Das Hygieneregime als Sprachregime, in: Tumult: Vierteljahresschrift für Konsensstörung, Herbst 2021.
- Kanazawa S. et al: Happiness in modern society: Why intelligence and ethnic composition matter. J of Research in Personality, 59(2015):111-120
- Kanazawa S et al Country roads, take me home… to my friends: How intelligence, population density, and friendship affect modern happiness. Br J Psychol. 2016 Nov;107(4):675-697
- Rovelli C: Die Geburt der Wissenschaft, Anaximander und sein Erbe. Rowohlt 2019
- Schrappe M: Thesenpapier 7.0, 10.01.2021
- Wunder E: Skeptic Syndrome 1998 / 2019, veröffentlicht auf skeptizismus.de (zurzeit nicht erreichbar). PDF-Download
Anregungen zum Sinn des Fragens
- Victor Frankl: https://www.youtube.com/watch?v=s7s9iNrbrew –
- Ian McGilchrist: https://www.youtube.com/watch?v=STij2de52_4 –
- Nicolas Taleb: https://www.fooledbyrandomness.com/PrecautionaryPrinciple.html
Gewalt und Gegengewalt
Es herrscht Krieg. In Europa wird wieder zurückgeschossen. Man pokert und zockt mit hohem Risiko. In den Medien schrumpft der zweijährige Krieg gegen ein Virus auf seine realistische Kleinheit. Der übergeordnete Krieg, den die Menschheit gerade gegen die Biosphäre führt, wird verdrängt.
Vor 2.500 Jahren glaubte Heraklit, der „Krieg sei der Vater aller Dinge“. Denn wirklich große Veränderungen entstünden immer aus dem Streit von Gegensatzpaaren. Einflussreiche Manager sehen das ganz ähnlich: aus den Kriegen des 21. Jahrhunderts sollen blühende Landschaften erwachsen (Gilles Moëc, AXA, 07.03.2022 ; Klaus Schwab, WEF 17.07.2020)
Langfristig setzen sich in der Evolution lebender Systeme allerdings immer die friedlichen Arten durch, die in der Lage sind, Beziehungen einzugehen und zu kooperieren.

Gegen das Böse!
Die Guten wissen „Gott auf ihrer Seite“ (Brezinski 1979). Aber das reicht nicht. Sie müssen auch stärker, schneller, brutaler und trickreicher sein als der Feind.
Wer geradlinig-zielgenau Problembären erschlagen will, braucht wirksame Waffen.
Die einzigen Tiere, die ein Nachbar-Dorf ausrotten können, sind die Schimpansen. Mit starrem Blick auf die Gegner schlagen sie zu, bis die tot am Boden liegen.
Andere große Affen, wie die Gorillas, benutzen ihre großen Gehirne nur zur sozialen Kommunikation.
Unsere Gattung (Homo sapiens) steht den Schimpansen näher. Kriege führen, steckt in unserer Genetik. Aber unsere Intelligenz ist etwas höher als die der Schimpansen. Theoretisch könnten wir klüger handeln: Wir könnten z.B. versuchen, System-Zusammenhänge und Hintergründe zu verstehen.

Dazu müssten allerdings die ultraschnellen Reptilien-Reflexe des Stammhirns besänftigt werden: „Zubeißen“ oder „Wegtauchen“. Wir müssten, gerade in Gefahr, inne-halten und uns umschauen. Nachdenken, bevor wir etwas tun. Das Blickfeld weiten. Komplexe Realitäten, Wechselwirkungen und Möglichkeiten wahrnehmen.
Werden so gestörte Beziehungen verstanden, schrumpft die Bedeutung einzelner Feinde. Stattdessen werden die gruseligen Kollateralschäden bewusster, die infolge rabiater Kriegs-Maßnahmen entstehen.
Kriege sind nicht nur sinn-, sondern meist auch erfolglos. Beispiele:
- Vor 900 Jahren ereignete sich ein relativ banaler Zwischenfall zwischen den friesischen Stämmen der Wangerländer und der Harlinger. Gewalt und Gegengewalt eskalierten. Man begann zu brandschatzen, zu plündern, Felder zu verwüsten, Ernten zu vernichten, zu morden und zu vergewaltigen. Erst dreißig Jahre später – „als beide Seiten völlig erschöpft waren, …“ – endete das sinnlose Gemetzel. (Kurowski 2009).
- 1958 erklärte der chinesische Staat den Spatzen den Krieg: Denn „sie pickten den Menschen die Nahrung weg“. In relativ kurzer Zeit gelang es tatsächlich, die kleinen Vögel (und nebenbei noch viele andere) auszurotten. Diesem großartigen Sieg der Partei, folgte die ökologische Katastrophe: Eine Hungersnot (u.a. weil Heuschreckenschwärme die Ernten vernichteten).
- 2001 begannen die USA ihren Krieg gegen den Terror in Afghanistan. 2017 sollte dann die „Mutter aller Bomben“ (MOAB) den Endsieg bringen. Und tatsächlich: Vier Jahre später endete der Krieg. Allerdings mit einer vollständigen Niederlage.

Kriege „gegen …“ sind sich gleich
Kriege, die Menschen anzetteln (gegen Viren, Bakterien, Krebszellen, Verbrecher, Schädlinge, Terroristen, Ungläubige …) ähneln sich: Zuerst erzeugt eine große Verunsicherung Angst. Wie in einem Theater-Saal, in dem ein Grusel-Stück gespielt wird. Der Scheinwerferkegel fällt auf einen Schauspieler, der das Böse verkörpert. Der Rest der Bühne versinkt im Dunkel. Hypnotisiert fallen die Zuschauer in Trance. Sie gehören jetzt zu einer Zwangs-Bekennergemeinschaft, die auf Zuruf bereit ist, selbst auf die Bühne zu stürmen, um das Böse zu vertreiben.
Anderes Bild:
Hineingepresst in den Gewehrlauf zielgerichteter Aktionen, ist es nicht mehr möglich, die Vorgeschichte des Geschehens oder komplexe System-Zusammenhänge zu erkennen. Was nicht sichtbar ist, kann es nicht geben, und wenn doch, wäre es bedeutungslos.
Der Weg zurück ist verbaut. Vorne, vor dem Gewehrlauf, droht der Feind. Ihn zu beseitigen ist alternativlos. Es muss getan werden, was getan werden soll: Kostete es, was es wolle.
Wer keine Kriegsbegeisterung empfindet, ist feige oder verrückt oder paktiert mit dem Feind. Das darf nicht toleriert werden, denn Unbelehrbare schwächen die Kampfkraft.
Die Ergebnisse vieler Kriege (gegen Mikroben, gegen Krebs, gegen Gesellschaften oder gegen die Biosphäre) gleichen sich: Verbrannte Erde, Verwüstung, Traumatisierung. Der Sieg mag errungen sein, aber bis zum Frieden ist es meist noch ein weiter Weg. Immerhin, das Böse scheint tot zu sein. Oder?
Gewinnen ohne zu kämpfen
Ja: Manchmal muss konsequent gehandelt werden – um Leben zu erhalten. Notärzt:innen ist das vertraut. Aber meist entwickeln sich dramatische Ereignisse aus einer Vorgeschichte, die zu wenig beachtet wurde. Manchmal hatte sich eine Situation durch unnötige und vorschnelle Interventionen verschlechtert. Deshalb erfordert gerade unmittelbares Tun unaufgeregte Ruhe, Verstehen und Aufmerksamkeit.
Fast is fine but, accuracy is final. You must learn to be slow in a hurry.
Wyatt Earp, US-Revolverheld, 1848-1929
Selbst in großer Gefahr ist es möglich, damit aufzuhören „gegen“ etwas vorzugehen. Es ist immer völlig unnötig, dass Gewalt- und Gegengewalt Schad-Wirkungen erzeugen, die eine Situation eskalieren. Sinnvoller wäre es, sich zunächst zu beruhigen und die Situation so annehmen, wie sie ist – bevor gehandelt wird.
Den hektischen Be-kämpfer:innen erscheint langsam-abwägendes, gewaltloses Verhalten Verrat zu sein: Aufgeben, Resignieren, Irrsinn oder Ohnmacht. Oder gar als ein Kollaps, der den Sieg des Feindes ermöglicht oder in den sicheren Tod führt. Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis.
Beispiele:
- Die Vernichtung bestimmter Darminfektionen (durch Antibiotika) erhöht das Risiko von Organversagen durch Zerfallsprodukte. Bei Beruhigung der Situation (durch gute Pflege) steigert die Überlebenschancen.
- Die Verarmung der Artenvielfalt und das Aussterben von Nützlingen ist für Ökosysteme gefährlicher, als eine Vermehrung der Räuber.
- Immer durch-schlagendere Waffensysteme wählen in Ökosystemen, besondere (resistente) „Terroristen“ aus, denen es gelingt, Kriege zu überleben oder von ihnen zu profitieren.
Will man Gewalt erzeugen, muss man gewalttätig werden
Gewalt erzeugt immer gegen-Gewalt. Viel effektiver (kräfteschonender) wäre es deshalb, sich „für“ etwas einzusetzen (statt „gegen“ etwas zu kämpfen). Friedvolle Entwicklungen können gebahnt, unterstützt und begleitet werden: Bei Infektionen, in der Krebsbehandlung, in persönlichen Krisen, im Management, in kulturellen Auseinandersetzungen und in gesellschaftlichen Konflikten.
Strategien „für etwas“ verlangen Sicherheit. Zuerst muss die Gewalt enden. Im Stress ist es nicht möglich, sich zu beruhigen. Ein Blick kann sich erst weiten, wenn es gelingt, aus dem Tunnel des Be-Kriegens auszusteigen und die ganze Realität wahrzunehmen. Ihr aufmerksam zu lauschen. Um dann für sich nachzudenken, zu fühlen und zu spüren. Um komplex-lebende System-Zusammenhänge zu verstehen. Um Störungen in Beziehungen und Wechselwirkungen zu entdecken. Um Möglichkeiten zu erkennen, die sich bieten, und die, die entstehen könnten.
Kriege sind eine menschliche Kinderkrankheit
In der Evolution überleben langfristig Nützlinge, denen es gelingt, mit anderen gemeinsam zu wirken. „Kriegs-Strategien“ (Identifizieren, Isolieren, Abwehren, Bekämpfen, Vernichten, Ausrotten) kommen in der Biologie der Arten nicht vor, oder sie erwiesen sich als erfolglos (Hontschik 2022, Wallace 2020, Laxminarayan 2022, Mendelson 2017, Lederberg 2010). Lebewesen, die sich nicht störungsfrei in übergeordnete Systemen einfügen, sondert die Evolution aus. (Kreislauf des Lebens, Arte 14.03.2022).
En vogue sind „Wachstum für das Klima“ und „Atombomber für den Frieden“. (NZZ 15.03.2022) Wird das so weiter gehen bis zum ganz großen „Wumms“?
„Das Wumms-Gefühl: .. Ich höre sozusagen wirklich den Krach. ..
Da ist ein Riesending bei uns gelandet und hat einen Einschlag verursacht.“
Ulrike Draesner, Deutschlandfunk 05.06.2020
Appell
Mehr
- Evolution: Nützlinge & Killer –
- Mikrobiom –
- Antibiotikaresistenz –
- Fragen –
- Sprachen des inneren Teams –
Literatur
- Hontschik B: Wer war Robert Koch? 2022 FR 05.02.2022
- Laxminarayan R 2022: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736%2822%2900087-3/fulltext – Antimicorbial Resistance Collaborators: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)02724-0/fulltext
- Kurowski F: Die Friesen., Das Volk am Meer. Nikol, 2009, ISBN: 9783868200188
- Mendelson M 2017: https://www.nature.com/articles/545023a
- Wallace R 2020: Dead epidemiologists https://monthlyreview.org/product/dead-epidemiologists-on-the-origins-of-covid-19/
- Lederberg J: https://www.project-syndicate.org/commentary/microbiology-s-world-wide-web