Körper, Seele, Umfeld
Inhalt
- Beziehungsreiche Medizin
- Berührende Medizin –
- Emotionale Achterbahn
- Heilende Hände
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Beziehungsreiche Medizin
Publikation: Beziehungsreiche Medizin, DHZ, 2014 (4):15-18
Wer eine Krankheit hat, lässt sie beseitigen.
Der Chirurg versorgt den Beinbruch, der Internist tötet Bakterien, und der Psychiater behandelt die Depression. Und diffuse „seelische“, „psychogene“ oder „somatoforme“ Störungen, die sich einer klaren Diagnose entziehen, heilt der Facharzt für „Psychosomatik und Psychotherapie“. So gesehen wäre Psychosomatik ein Teilbereich der Medizin, in den Probleme ausgelagert werden, die die Abläufe der „richtigen“ Medizin stören. Ein wenig greifbares, nebulöses Sammelsurium von Methoden in Grenzbereichen von Schul- und Alternativmedizin.
Menschen haben keine Krankheiten. Sie [sind] manchmal krank.
Bilder gestörter Einzelteile passen zu Maschinen, Kränen oder Computern, bei denen Ursachen, Störungen oder Steuersignale klar von Auswirkungen getrennt werden können. Bei Lebewesen dagegen werden viele äußere Einflüsse intern komplex, eigendynamisch und auch zufallsbeeinflusst verarbeitet. Sie führen dann zu Äußerungen, die nicht genau vorhersagbar sind.
Der Chirurg kann das „seelische Leid“ wahrnehmen, das der Beinbruch ausgelöst hat. Der Internist kann sich mit dem „psychischen Stress“ beschäftigen, der zu einer Störung des Immunsystems beigetragen hat. Und der Psychiater kann auch die Störungen des Immunsystems oder des Bewegungsapparates, wahrnehmen, die zu den Gefühlen von Hilflosigkeit, Traurigkeit und Ohnmacht beitrugen.
ÄrztInnen und Hebammen mit einer patientenzugewandten Grundhaltung benötigen kein psychosomatisches Konsil (Dörner, 2001). Sie sorgen sich, wie das jeweilige Problem günstig beeinflusst werden kann, und nehmen gleichzeitig die Beziehungen ernst, in denen die Probleme entstanden sind. Sie helfen Frauen mit Hyperemesis, vorzeitigen Wehen, Geburtsangst oder Zervixdystokie, die Zusammenhänge ihrer Leiden zu verstehen. Und sie unterstützen sie dabei, eigene Wege der Linderung oder Gesundung zu finden.
Die voreilige Überweisung in Psychosomatik, Psychotherapie oder Psychiatrie gehört eher zu einer sinnentleerten, beziehungslosen Medizin, die mit der Therapie ihrer KlientInnen im Wesentlichen ökonomische und andere Sekundärinteressen verfolgt. Wenn die Mehrheit der handelnden Personen und Institutionen im Gesundheitswesen dieser Einstellung gemäß kommunikationskompetent handeln würde, müsste es den „Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie“ nicht geben. Oder umgekehrt: Die Tatsache, dass sich PatientInnen mit chronischer Erschöpfung oder körperlich-psychischen Belastungen spezialisierte ÄrztInnen und Kliniken suchen müssen, zeigt die Defizite moderner Medizin auf.
Psyche und Soma
Dass Psyche (Seele, Geist, Informationsverarbeitung) und Soma (Körper, Zellen, Bakterien) lediglich unterschiedliche Ausdrucksformen von Leben sind, ist seit den Anfängen der Medizin bekannt. Was lebt, das wächst und erneuert sich immer wieder – in Kommunikation mit biologischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Beziehungen, in denen es gedeihen kann. Die Umgebung wirkt dabei indirekt auf den lebenden, sich in seinem Wachstum selbst erneuernden Organismus und löst in ihm Strukturveränderungen aus. Die Ergebnisse dieser inneren Prozesse wirken dann auf die Umwelt zurück (Maturana). Medizin entstand aus meditatio (Lateinisch: „Nachsinnen“ über gestörte Zusammenhänge von Gesundheit und Krankheit) und führt zu medias (Lateinisch: dem Bemühen um Balance, Ausgleich und Mitte).

Vor 2.500 Jahren versuchten griechische Philosophen wie Alkmaion von Kroton, Anaximander und Empedokles widerstreitende Kräfte in Systemen zu verstehen. Störungen sollten verhindert und Gestörtes wieder in Harmonie zurückgeführt werden. Ihr Denken unterschied sich radikal von den schamanistischen Heilritualen, die Erkrankte mit den Ahnen, Göttern, Tabus oder Geistern versöhnen sollten. Stattdessen betonten die frühen Mediziner zeitlose Grundsätze öffentlicher und persönlicher Gesundheitspflege. Über die Seidenstraße wanderte dieses Denken nach China und kommt heute von dort als Fünf-Elemente-Lehre der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) wieder zurück. In Europa wurde es in der Finsternis des Mittelalters verbrannt und vergessen. Lange Zeit überlebten europäische PatientInnen Krankheiten nur deshalb, weil sie keinen Arzt aufsuchten.
Als im 19. Jahrhundert einige die damals moderne, „verschlimmbessernde“ Medizin des Aderlasses zu hinterfragen begannen, tauchte erstmals der Begriff Psychosomatik auf. Dann entdeckten Schopenhauer, Nietzsche und Freud die Psyche wieder. Und damit wuchs das Interesse an emotionalen Prozessen und Erkrankungen, bei denen ein klares organisches Substrat nicht ermittelt werden konnte. Oder an Krankheiten, bei denen der Organbefund Art und Ausmaß des Gesamtbildes einer Krankheit nicht wesentlich erklärte.
Integrierte Medizin
Der österreichisch-amerikanische Psychiater und Soziologe Wilhelm Reich (1897–1957), ein Schüler Freuds, erkannte schließlich, dass das „Unterbewusste“ im Wesentlichen der Körper sei. Andere beschrieben, wie unser Verhalten durch die Vererbung archaischer Handlungsmuster geprägt wird (Neumann 2004). Der Begriff „Psychosomatik“ sollte die Zusammenhänge von körperlichen und psychischen Vorgängen betonen, aber keineswegs zu einer Spezialdisziplin führen. Stattdessen wurde für eine andere Sicht auf die Zusammenhänge von Krankheit und Gesundheit im Wirkgefüge aller äußeren und inneren Beziehungen geworben. Dafür wurde der Begriff der „integrierten Medizin“ geprägt, der sich aber bisher kaum durchgesetzt hat (von Üxküll 1963).
Eine „integrierte Medizin“ sollte die somatischen, psychischen und sozialen Zusammenhänge von Krankheit wertschätzen (Hontschik 2013). Aber auch die Qualität der Arzt-Patient-Interaktion müsse verbessert werden. Ärzte sollten die Zeichen verstehen lernen, mit denen die Zellen, die biologischen Teil-Systeme und die Menschen insgesamt kommunizieren. Die Bedeutung, die PatientInnen ihrer Krankheit geben, und die Gestalten, in denen Störungen ihnen erscheinen, sollten wahrgenommen werden.
Tunnelblick oder Weitblick?
Medizin sollte heilende Prozesse anregen, das noch unsichere Probehandeln der Patienten ernst nehmen und sie unterstützen. In Notfällen greift sie auch heilsam ein, zum Beispiel wenn ein Kinderarzt die Problemlösung bei einem Neugeborenen mit Durchfall auf den Punkt bringt und die Infusion anlegt. Aber er sollte zeitgleich sehr komplexe Zusammenhänge wahrnehmen und versuchen, sie im späteren Verlauf zu verstehen: Warum hat die Mutter abgestillt? Ist sie überfordert? In welchen sozialen Zusammenhängen lebt das Kind? Aus solchen Fragen entsteht keine Diagnose, sondern eher eine Sicht auf Beziehungszusammenhänge, die der Frau helfen, das für sie Wesentliche zu erahnen.
Wir können eins nach dem anderen als Einzelnes, Totes, Abgetrenntes betrachten, und betonen dabei die Qualitäten der linken Gehirnhälfte. Oder wir nehmen alle Informationen gleichzeitig wahr und erkennen Stimmigkeiten oder Dissonanzen. Die besondere Qualität der rechten Großhirnhälfte, alles sofort zu erkennen, ist hocheffizient und zeitsparend. Dafür ist es nicht nötig, viele Details anzuhäufen, um das Entscheidende einer Situation zu erkennen. Wir sehen sofort und ohne Worte, ob uns ein Fremder in der U-Bahn bedrohen will oder freundlich gestimmt ist. Wir können den Gesamtzustand eines Neugeborenen wahrnehmen, wie es weint, sucht, grimassiert und atmet. Oder wir können auf das Punktsignal eines Messwertes warten, der uns beruhigt, wenn der pH nicht azidotisch war.
Beide Arten der Weltsicht, Tunnel- und Weitblick, sind nützlich, wenn sie sich abwechseln und ergänzen. In der zunehmend technisierten Medizin wird allerdings die Bewertung von Einzelwahrnehmungen intensiver trainiert als die Erfassung dynamisch-veränderlicher Zusammenhänge (McGilchrist, 2012). Für ÄrztInnen und PatientInnen scheint es einfacher zu sein, eine kleine Störung zu betrachten, die mit einem Medikament beseitigt werden kann, als gemeinsam zu versuchen, die Gesamtsituation zu verstehen, in der das Symptom aufgetreten ist, und die Möglichkeiten zu ihrer Veränderung zu prüfen. Es ist unkomplizierter, einen Blutdruck zu senken, als das Verhalten und die Verhältnisse wahrzunehmen, die dazu führen, dass ein Blutdruck steigt.
Komplexe Netzwerkstrukturen
Die Wechselwirkungen lebender Systeme sind gut untersucht. Wir können beschreiben, wie Zellen untereinander und mit den Milliarden unentbehrlicher Bakterien kommunizieren. Und wie sich daraus die Grundlagen bilden für körperliche, psychische und soziale Prozesse. Mikroben, Zellen und wie sie über Hormone, physikalische Reize, Nervengeflechte oder Immunzellen kommunizieren, sorgen für Flexibilität und Wachstum (Gesundheit) oder für Störungen oder Blockaden (Krankheit). Hirnprozesse dienen nahezu ausschließlich der Erzeugung komplexer Motoraktivität. Selbst Denken, Emotionen und Fühlen sind Muster neuraler Aktivität, die in Aktivierung von Zellen des Bewegungsapparates führen oder diese vorbereiten (Wolpert 2011). Nerv- und Effektorzellen bilden Funktionseinheiten, die einander beeinflussen. So hat das Bild eines lenkenden Gehirns und ausführender Muskeln mit der Realität lebender Systeme, in denen Funktionskreise schwingen und moduliert werden, nichts zu tun. Weil etwa Emotionen und Mimik zusammenwirken, entsteht emotionale Blindheit, wenn die Muskulatur durch Botox gelähmt wird (Havas2010, Günther 2011). Die Ausdrucksformen muskulärer Aktivität verbinden uns dann über Spiegelneurone mit anderen Gehirnen und Körpern, die uns und die wir beeinflussen.
Wir leben in einer sehr dynamischen Welt, in der wir ständig Wechselwirkungen zu vielen Objekten eingehen, die uns verändern, sobald wir uns mit ihnen beschäftigen. Der Informationsfluss komplexer Netzwerkstrukturen lebender Zellen unterscheidet sich deutlich von einem Kran, dessen Strippen und Kabel zu einem Zentralcomputer laufen und von dort gesteuert werden. Stattdessen erzeugen Schwingungskreise unterschiedlicher Zellverbindungen Oszillationsmuster, die durch zahllose Rückkopplungen moduliert werden (Greenfield 2005, Llinás 2002, Buzáki 2012).
Körperliches, wie die Verletzung von Gewebe bei einer Geburt, äußert sich seelisch als Disharmonie, Schmerz und Leiden, während sich seelische Störungen wie eine Wochenbettdepression körperlich in starrer Mimik und Körperhaltung zeigen.
Wertschätzung der Autonomie
Im Medizinsystem stellen PatientInnen manchmal lediglich Mittel zum Zweck dar: der Erreichung von Zielen und Interessen, die von ihren eigenen unabhängig sind, oder diesen auch scharf widersprechen können. Es ist möglich, dass die Art des Handelns durch ökonomischen Druck bestimmt wird, oder – für PatientInnen ebenso nachteilig – durch mangelndes Interesse am Objekt der Handlung. Der Trend führt in die „Waren-Gesundheit“, in der das, was sich nicht vermarkten lässt, outsourct werden wird: beispielsweise in Kliniken für Psychosomatik.
Hebammen, Schwestern und ÄrztInnen steht es frei, unabhängig von der Situation, in der sie handeln müssen, im Interesse ihrer Patientinnen eine beziehungsorientierte Grundhaltung anzunehmen (Dörner Jahr). Gerade dann, wenn der ökonomische Druck groß ist, benötigt die Patientin besonders dringend eine für-sprechende Hebamme. Eine „psychosomatische“ Grundhaltung erfordert Respekt und Wertschätzung der Autonomie. Auf der Basis dieser Einstellung wäre es nützlich, die Art von Kontaktaufnahme und Gesprächsführung zu trainieren (Beispiel: Schweizer Akademie der Wissenschaften, SAMW 2013).
Es reicht nicht aus, passiv darauf zu warten, was von der Patientin wohl als Frage oder Wunsch kommen mag. Damit sich die Frau überhaupt äußern kann, muss sie sich versichern, dass sie in Sorge um das Wohl ihres Kindes und Ungewissheit über den Ausgang der Schwangerschaft, nicht weiter gefährdet wird. Dazu braucht sie Vertrauen. Dieses Gefühl vermittelt sich ihr durch die spontanen Gesten ihres Gegenübers. Sie spürt Empathie und fühlt sich berührt und angenommen. Weniger durch das, was die Hebamme sagt, sondern durch die Hinweise, die sie aus Haltung, Mimik, Blick und Stimme ableiten kann, und die ihr Offenheit, Wohlwollen und neugieriges Interesse vermitteln. Das Gelingen einer Erstbegegnung entscheidet sich in wenigen Sekunden. Gerade dann, wenn der Druck groß und die Zeit knapp ist, ist es wichtig, die ersten Sekunden optimal zu gestalten.
Eine Hebamme, die einen sicheren Kontakt zur Gebärenden aufbauen konnte, wird sich über ihre administrative Zuständigkeit hinaus verantwortlich fühlen. Sie wird sich um die Frau sorgen, sich kümmern und mit ihr kommunizieren. Gerade dann, wenn die Zeit für lange Gespräche fehlt, ist die Einstellung, etwas für die Patientin Gutes tun wollen, wichtig, weil sich der Frau schlagartig die Empathie der Hebamme durch Mimik, Körperhaltung und Berührung vermittelt.
Die passende Technik
Eine den Körper einbeziehende Kommunikation vertieft die Beziehung und vermittelt intensiveres Vertrauen – die Sicherheit, geborgen zu sein. Es tut gut, in einem als anonym empfundenen System einen Menschen zu fühlen, der sich einsetzt. Die Zugewandtheit der Hebamme kann sich auch als aufmerksames Abwarten vermitteln, wenn gerade nichts getan wird, die Wachheit der Hebamme aber Sicherheit vermittelt. Manchmal kann eine eher „paternalistische“ „Subjekt-Objekt-Beziehung“ erforderlich sein, wenn die Entscheidungskompetenz der Hebamme die Führung übernehmen muss, beispielsweise wenn in der Austreibungsperiode mehr Schwerkraft nötig ist und die Geburt auf dem Hocker weitergehen sollte.
In anderen, weniger akuten Situationen, wäre dagegen ein Austausch unter gleichberechtigten Subjekten angebracht, wenn im Zwiegespräch etwas gemeinsam entschieden oder ausgehandelt werden muss. Oder wenn geprüft wird, welche Möglichkeiten der Unterstützung in sozialen Netzwerken bestehen könnten. Oder wie die Art der Schwangerschaftsbetreuung aussehen sollte, und ob bestimmte Formen der Diagnostik notwendig erscheinen oder nicht. Hierbei sind auch Interessengegensätze möglich, beispielsweise hinsichtlich der Intensität der Betreuung, die im Rahmen eines stabilen Kontaktes transparent ausgehandelt werden können.
Schließlich könnte auch eine „Objekt-Subjekt-Beziehung“ im Vordergrund stehen, wenn die Frau von der Hebamme Leistungen einfordert, die diese erfüllen soll: beispielsweise hinsichtlich der Schmerzfreiheit während der Geburt. Wie mit der Frau im Rahmen einer guten, vertrauensvollen Beziehung gemeinsam gehandelt wird, kann also je nach den Erfordernissen der Situation sehr unterschiedlich sein. Die passende Technik ergibt sich aus der Qualität der Beziehung.
Bei mangelndem Kontakt entwickeln sich dagegen aufseiten der Frau Zurückgezogenheit, Verschlossenheit oder Abwehr und aufseiten der Hebammen oder ÄrztInnen Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit. Daraus resultiert ein Verhalten, die Begegnung mit der Patientin möglichst schnell, distanziert und fehlerfrei zu beenden, damit keine Sekundärinteressen gefährdet werden.
Die Auswirkungen zielgenauer, technischer Behandlungen (wie Ultraschall) werden meist überschätzt. Die Wirkungen gelungener Kommunikation, die Auswirkungen von Berührungen im Rahmen der Leopoldschen Handgriffe und vermeintlich unbedeutende Begleitumstände für Heilungsprozesse werden dagegen meist zu gering bewertet. Für den Erfolg einer Begleitung oder einer Behandlung sind aber oft indirekte Wirkungen entscheidend, die durch den Eingriff ausgelöst wurden (Enck 2013). Das ist für Hebammen ein alter Hut. Sie haben erfahren, dass die Art, wie eine PDA, ein Homöopathikum, ein Opiat, eine Akupunktur oder ein Spasmolytikum verabreicht wird, sich erheblich auf die Wirksamkeit auswirkt. Diese indirekten Wirkungen ergeben sich aus der Kommunikation. Sie könnten, wenn sie im Medizinsystem bekannter wären, sehr viel professioneller und zugleich transparenter eingesetzt werden (Kaptchuk 2010; Schneider et al. 2012).
Möglichkeiten schaffen
Schwangerschaft und Geburt sind Entwicklungsprozesse, die begünstigt und unterstützend begleitet werden können. Das ist die Aufgabe von Hebammen. Sie helfen, den Rahmen zu sichern, in dem eigene Entwicklungswege möglich sind. Dazu benötigen Hebammen eine psychosomatisch-soziale Grundhaltung. Und Institutionen, die sie darin bestärken, sie fördern und nicht in die innere Kündigung treiben. Die Schwangeren brauchen gerade dann, wenn Schwierigkeiten zunehmen, nicht nur Problemlöser, die Ratschläge erteilen oder intervenieren. Sondern ebenso kompetente Menschen, die helfen, Schaden abzuwenden, und sich dafür einsetzen, dass die Zahl der Möglichkeiten, selbst zu handeln, steigt.
Frauen benötigen Ärzt:innen und Hebammen, die kompetent mitfühlen, mitnachdenken, aufmerksam da sind und günstige Lösungswege bahnen, die die Frau, soweit möglich, selbst gehen kann.
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Berührende Medizin
Emotionale Achterbahn
Manche Diagnosen katapultieren uns in Gefühls-Achterbahnen.
Zum Beispiel, wenn auf eine ängstlich-bange Frage („Was ist es?“) eine schreckliche Gewissheit folgt. Oder wenn alle Tests negativ ausfallen, aber die Krankheit bleibt. Solche unerklärbaren Gefahren sind noch schlimmer als eine „schreckliche Gewissheit“. Die eröffnete zumindest die Chance etwas zu besiegen. Damit der Kampf überhaupt beginnen kann, muss eine Krankheit einen Namen erhalten. Erst dann entsteht Gewissheit, dass der Sieg in erreichbare Nähe rückt.
Ist die Diagnose dann erst gestellt und die Strategie der Problemlösung besprochen, zieht die Gondel der Achterbahn hoch in manchmal euphorische Höhen. Glaube und Hoffnung vermitteln Zuversicht: Bald wird es überwunden sein.
Von dort folgt der Absturz, wenn das Chaos nicht beherrscht werden kann. Ein Fall in einen erneut diagnoselosen Zustand. In eine unerklärbare Realität außerhalb des Bekämpfungsmodells, das sich offensichtlich als untauglich erwiesen hat. Ein schreckliches Gefühl. Viele Verzweifelte suchen dann panisch nach anderen Modellen und Diagnosen im bunten Gesundheitsmarkt, die sie schnell in eine neue Bekämpfungs-Euphorie führen sollen. Das ist dann die Zeit für Doktor-Hopping, Pharma-Shopping und CRAP (engl.: „Für Konsumenten empfängliche alternative Produkte“).
Wenn auch das nichts hilft, oder die Situation nur weiter „verschlimmbessert“ wurde, folgt der Zusammenbruch. Die Ursache konnte offenbar nicht erfolgreich bekämpft werden, weil es viele Ursachen und gestörte Zusammenhänge gab, die in kein medizinisches Modell zu passen scheinen. Die Betroffenen rutschen dann in ein psychisches Tief, das ausgeprägter sein kann, als der Schreck der ersten Diagnose. Ein Zustand unerträglicher Depression. Sie „haben“ dann keine Krankheit mehr, sondern sie „sind“ krank. Darin liegt der Keim einer Verwandlung der scheinbar hoffnungslosen Situation: im Akzeptieren von dem, was sich nicht ändern lässt. Gerade weil das Bekämpfen nicht mehr weiterführt, kann eine Situation angenommen werden. Erst dann werden die Möglichkeiten deutlich, die sich noch bieten. Das Problemlösen mit Tunnelblick ist gescheitert, aber offenbar ist noch kein Ende eingetreten. Also kann das Puzzle neu sortiert werden. Vielleicht sind da doch noch winzige Chancen. Dann beginnt die Zeit des Ausprobierens und schließlich eines erneuten Wachstums aus der Krise heraus. Neue Erfahrungen werden gemacht, die schließlich dazu führen, dass die Situation verstanden werden kann, mit all den kleinen Spielräumen und den begrenzten Möglichkeiten, die sie bieten.

In der emotionalen Achterbahn wird reflexhaft nach Problemlösern gesucht. Sie sollen „Es“ so schnell wie möglich „wegmachen“. Gute Ärzt:innen sollen die Ursachen benennen und Heilung bewirken. Das ist häufig (z. B. bei Krebs oder Unfällen) auch dringend nötig. Aber Problemlösungen allein reichen nicht aus.
Nötig sind zugleich aufmerksame Begleiter, die (unabhängig von Therapieentscheidungen) helfen, ein gefährlich überschießendes „Auf und Ab“ der Emotionen abzufedern. Gerade in schwierigen Situationen benötigen Betroffene
- Unterstützung, wenn der Selbstwert im freien Fall abstürzt, oder
- Konfrontation, wenn die Bekämpfungseuphorie zu groß und der Tunnelblick zu eng werden, oder
- Förderung, wenn sich zarte Ansätze für neues Wachstum zeigen, oder
- Forderung, wenn der Ausstieg aus der Talsohle nur sehr zögerlich erfolgt.
Heilende Hände
Computer können vieles besser als Menschen: z. B. die richtigen Antworten aus einer Datenbank herauspicken. Dafür können elektronisch gesteuerte Maschinen nicht tasten, fühlen oder elegant mit Dingen umgehen. Computer errechnen Schachzüge, die Weltmeister ins Schlingern bringen, aber sie versagen kläglich gegenüber den Fertigkeiten kleiner Kinder, die Schachfiguren spielerisch und scheinbar sinnlos über das Brett schieben.
Die Hand ist eines der wichtigsten Kommunikationsorgane des Menschen. Sie fühlt ertastend in etwas hinein, offenbart sich gestikulierend und vermittelt berührend Aufmerksamkeit, Anteilnahme, Mitgefühl und Sicherheit.
Allerdings werden die Techniken der Informationserhebung durch die Hände in der Medizin zunehmend durch sehr genaue bildgebende Verfahren abgelöst. Der räumliche Eindruck, der durch die Hände im Inneren eines Untersuchers entsteht, verblasst gegenüber bunten zweidimensionalen Bildern, die auf Papier gedruckt werden können. Diese technische Brillanz elektronischer Medien verändert die Arzt-Patient-Kommunikation: Abstrakte Einzelmesswerte erhalten ein größeres Gewicht gegenüber der Beurteilung eines ganzen, sinnlich wahrgenommenen Körpers. Eine vertrauensvolle Verbindung zu Patient:innen kann sich dann nur noch auf Stimme und Mimik gründen.
Wenn sich aber die Medizin vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklungen von System-Physik und Systembiologie von dem mechanisch-interventionistischen Denken des 19. Jahrhunderts lösen sollte, würde auch die Kommunikation mit den Händen wieder an Bedeutung gewinnen.
Angehende Ärzt:innen im Umgang mit ihren Händen zu trainieren, ist schwieriger geworden, da sie in ihrer Kindheit oft weniger Erfahrungen mit gewandten Handbewegungen machen konnten, als die Generationen vor ihnen. Folglich müsste in der Ausbildung medizinischer Berufe die manuelle Ausbildung erheblich intensiviert werden. Denn Hände, die heilsam wirken sollen, müssen wesentlich mehr tun, als Objekte verändern oder bearbeiten.
Eine tastende Hand reicht mit ihrem Sensorsystem heraus. Bevor sie das tut, entsteht eine Vorstellung von dem, was berührt werden soll. Und dann folgt zunächst eine aktive Bewegung zum Untersuchungsgegenstand hin. So, als würde ein Blinder seinen Stock ausstrecken. Dann sucht er Kontakt, so leicht und störungsfrei wie möglich. Er nimmt die feinen Vibrationen seiner Stockspitze wahr, die in ihm ein Bild der Umwelt entstehen lassen. Er spürt und fühlt mit dem Stock, und nicht etwa mit der Handfläche, die den Stock hält. Weil alle Bewegungsmelder seines Körpers beteiligt sind, entsteht der Eindruck, die Stockspitze sei ein Teil seines Körpers. Damit ein solches „Herausreichen“ optimal gelingen kann, ist es unerlässlich, den eigenen Körper zu entspannen.
Eine Ärztin, die ein Baby untersuchen will, muss ihre Hand zuerst dem Kind nahebringen und sich vorstellen, wie es wäre, wenn sie es berühren würde. Dazu muss sie (vor der Berührung) eine Atmosphäre vermitteln, in der Vertrauen entstehen kann, denn wenn das Baby die Hand als Gefahr empfände, wäre anschließend die Informationsausbeute wegen der Abwehrspannung des Kindes sehr mager. Viele bevorzugen deshalb elektronische Untersuchungsmethoden, weil die selbst dann Bilder liefern, wenn der Patient nicht kooperieren will. Untersuchen aber die Hände, muss der eigene Körper vor der Berührung entspannen: die gesamte Haltung, die Schulter, den Ellenbogen, das Handgelenk, die Finger. Erst dann kommt es zum Kontakt, bei dem die einzige Kraft, die zu wirken scheint, die Schwerkraft ist. Es entsteht eine für beide Seiten angenehme Berührung, aus der sich über die Hand ein Dialog entwickeln kann.
Die Gestik der Hand reicht weiter hinaus in den ganzen Körper des anderen, und sie fühlt mehr als den zu untersuchenden Körperteil, sie nimmt wahr, wie sich die Psyche des anderen loslässt, und sich Spannung verliert. Umgekehrt wirkt die Bewegung des anderen, z. B. infolge seiner Atmung, in die Untersucherin und beeinflusst sie. Denn auch der Andere wird befähigt, fühlend in die Untersucherin, „hinauszureichen“. Es ist so, als flössen zwei Informationsströme gleichzeitig in entgegengesetzter Richtung: hinaus und hinein gleichermaßen. Gelungene Verbindung ist immer wechselseitig. Im Bereich der Berührung verschwimmen die klaren Grenzen, und aus Trennung wird Gemeinsamkeit. Die Hand und die Fläche, auf der sie ruht, werden zu einem System, das sich verändert, und das in seinen nunmehr inneren Beziehungen wechselwirkt.
Erfahrene Handwerker benötigen sehr wenig Zeit, um sich mit dem, was sie gestalten wollen, zu verbinden, und um sich gewandt zu bewegen. Die resultierende Gestaltungs-Kunst erstaunt, weil sie mühelos erscheint. Wer solche Erfahrungen bisher nicht gemacht hat, wird versuchen, mehr oder weniger geschickt zu hantieren oder zu manipulieren. Dabei bleibt ihm das Objekt, das verändert oder untersucht werden soll, fremd und von seinem Subjekt getrennt. Das mag zur Erreichung von Zielen reichen, aber das Ergebnis ist oft unschön.
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