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10. Dezember 2023

Projekt-itis

„Ich bin kein Genie.
Ich bin nur länger bei manchen Problemen stehen geblieben.“
Albert Einstein

„Projekte“ sind zielorientiert

Kings Fund 1999, s. Lit. Pratt

Projekte sollen innerhalb einer gegebenen Zeit vorzeigbare Resultate erreichen. Oder Produkte, Sie sollen Problemlösungen, Dienstleistungen liefern. Oder Technologien erproben, die einem Auftraggeber Nutzen bringen.

Finanziert werden sie von Krankenkassen, Ministerien, Banken, Unternehmen, Sponsoren u.v.a., die eine bestimmte Summe für einen guten Zweck abfließen lassen wollen. Die Projekt-Durchführenden (die Expert*innen, Ärzt*innen), die sich um diese Mittel in einer Ausschreibung mit Worten bewerben, die die Auftraggeber hören wollen, haben gewisse Eigeninteressen, die sie oft nicht nennen. Die Betroffenen (Patient*innen, Flüchtlinge, Familien, …) hoffen, dass das Projekt ihnen nutzen werde – allerdings befinden sie sich in einer relativ schwächeren Position.

Denn die Projekt-Durchführenden müssen sich so verhalten, dass sich der Aufwand für sie lohnt und der Auftraggeber zufrieden ist: z.B. mit überzeugenden Berichten, Gutachten oder Dingen, die man bildhaft darstellen kann. Ob sich die Lebenssituation der Betroffenen tatsächlich verbessert, und es auch nachhaltige Effekte geben wird, die das Projektende überdauern, ist oft unklar.

Vorteil

Wir können aus Versuchen und experimentellen Eingriffen lernen.

Insbesondere dann, wenn sie, in einem kleinen, begrenzten Bereich, Fehler aufzeigen, die bei Intervention vermieden werden müssen. Die Stärke des Experimentierens (zum Beispiel mit kleinen Projekten) liegt in der Qualität des ergebnisoffenen Ausprobierens.

Tadellos gepflegte Entwicklungs-Ruine in Laos (Provinz Thàkek): Eine dörfliche Gesundheitsstation, nur bewohnt von den Familien der Wächter. Für die Ausstattung mit Personal wäre ein anderes Projekt nötig. Foto: Jäger 2018

Nachteil

Projekte beginnen oft damit, dass an erkannten Probleme, nichts praktisch erkennbares verändert wird. Stattdessen wird die verfügbare Energie in das Schreiben und Nachverfolgen eines Projekt-Antrages investiert. Der richtet sich (mindestens) an eine Institution, die über Mittel verfügt, die sie nach festgelegten Kriterien ausgeben muss. Dieser Prozess erfordert hohe administrative Kompetenz, er ist sehr zäh und dauert lange.

In dieser Zeit geschieht vor Ort zunächst meist nichts. Fließen die Mittel dann endlich, wird erfahrungsgemäß zuerst in die Infrastruktur und die Personalkosten der Durchführenden investiert und dann Flyer gedruckt, die den Betroffen mitteilen, dass es das Projekt jetzt gibt. Manchmal zeigen die dann aber wenig Interesse und erscheinen gar nicht. Dann droht das wichtigste Problem eines Projektes: die Mittelabfluss-Störung und damit die Verärgerung des Auftraggebers.

Weitere Nachteile:

  • Komplexe Zusammenhänge werden vernachlässigt, kleine Teilbereiche werden herausgelöst und isoliert betrachtet. Es wird zu wenig einkalkuliert, dass man vieles nicht weiß. Daher werden die Risiken einer Intervention in ein (übergeordnetes) komplexes System zu wenig kritisch hinterfragt.
  • Es wird zu schnell geplant und entschieden, ohne die Wirkungs-Zusammenhänge wirklich zu verstehen, ohne das Vorsorgeprinzip zu beachten („Keinen Schaden anrichten!“), und ohne Haftungsfragen (insbesondere für unerwartete Ereignisse) zu klären.
  • Die Durchführenden sind (durch die Projekt-Vorgaben) gezwungen sehr ergebnisorientiert, tunnelblickartig zu handeln, und haben nur wenig Spielräume, um sich prozessorientiert, flexibel an neue Gegebenheiten anzupassen.
  • Das Projekt wird am Ende der Laufzeit gelöscht. Die Probleme existieren häufig weiter, sodass nur eine Projekt-Ruine übrig bleibt, deren Erhaltung wie die Entsorgung viel Geld verschlingen wird (Beispiel: Sport-Arenen in Brasilien).

Projekt-itis?

Die Wortendung ‚itis‘ (altgriechisch -ῖτις) deutete ursprünglich auf eine ‚Eiterung oder Seuche‘. Also auf eine ansteckende Entzündung.

Projekt-itis kennzeichnet die Krankheit, unnötig und vorschnell in eigen-dynamische Zusammenhänge zu intervenieren.

In der Medizin, der Entwicklungszusammenarbeit, der Wirtschaft und in der Politik sind sogenannte „Verfahrens-Entscheidungen“ sehr beliebt. Ein Projekt zu realisieren ist, für jemanden, der entscheiden muss, ebenso attraktiv, wie eine Arbeitsgruppe zu gründen oder ein Gutachten zu beauftragen. Denn so kann man die eigentlich notwendige „Sach-Entscheidung“, die einen Gesamt-Zusammenhang betreffen müsste, wirksam vermeiden. Denn: „Es wird ja etwas getan“. Beispiel:

  • Völlig überlasteter Manager vor dem Zusammenbruch.
    Projekt-Idee: Nikotin-Pflaster aufkleben.
  • Vom Krieg zerstörte Region (Beispiel Gaza 2023).
    Projekt-Idee: Impfkampagne starten.
Den Naturpark langfristig schützen? Oder für drei Jahre ein „Adler-Projekt“ finanzieren? Foto Jäger. Laos 2018

Aus solchen eng-begrenzten Projekten entwickelt sich selten langfristig etwas Gutes und Nachhaltiges: Das System, in das interveniert wurde, konnte nichts lernen, und hat sich deshalb auch nicht in eine günstigere Richtung verändert. Nicht selten entstehen dann ‚Verschlimmbesserungen‘, ungeahnte neue Probleme und manchmal auch Katastrophen.

Menschen sind Problemlöser

Entdeckten unsere Steinzeit-Vorfahren eine ideale Höhle, in der leider ein Bär wohnte, wurde dieser ausgeräuchert, umgebracht und gebraten. Baute man später Stadtmauern oder Schiffe, holzte man die Umgebung so lange ab, bis es dort keine Wälder mehr gab.

Zielgerichtete Problemlösungen dieser Art sind uns bis heute sehr vertraut. Es fällt uns deutlich schwerer, komplexe, lebende Systeme zu verstehen, sie zu schützen und in ihrem Wachstum und ihrer Anpassungsfähigkeit zu begleiten.

Deshalb wimmelt es in der Politik, im Krieg, in der Wirtschaft und in der Medizin von Projekten, deren Ziel es ist, ein kurzfristiges Problem zu beseitigen.

Warum geht es so oft schief?

Die Psychologen Dietrich Dörner und Eduard Tenner, und der Mathematiker Niclas Taleb, analysierten (zeitlos aktuell), warum Menschen in komplexen Situationen immer wieder scheitern, und „die Dinge manchmal zurückbeißen“. (s. Literatur).

Warum schauen Expert*innen, die es besser wissen müssten, trotzdem meist nur nach hinten (wo alles gut war)? Und warum sind sie sich, gegen logisches Denken, so gewiss, dass die Zukunft, der sie den Rücken zuwenden, genauso aussehen müsse? Und dass die Experte*innen (für Vergangenes) auch morgen alles sicher im Griff hätten.

Dörner, Tenner und Taleb sind pessimistisch: Menschen interessierten sich nur für das wenige, was sie zu wissen glauben, und nicht für die komplexen Zusammenhänge ihres „Nicht-Wissen“. Sie neigen deshalb dazu anzunehmen, eine Situation sei kompliziert (also beherrschbar, statisch und tot), und nicht etwa lebendig, komplex, veränderlich und unvorhersagbar.

Zielorientierte Planung

Foto (Jemen 1998) und Grafik: Jäger

Für rasche Problemlösungen bietet sich eine der vielen Varianten der zielorientierten Projektplanung an. Denn Menschen denken spätestens seit der neolithischen Revolution der Bauern und Städter linear, und nicht mehr zyklisch wie ihre naturverbundenen Nomaden-Vorfahren.

Die zielorientierte Planung ist einfach:

Man greift ein konkretes Problem aus einem Zusammenhang. Definiert es dann prägnant und verdreht es einfach in sein Gegenteil: Schon hat man so das Ziel definiert. Das Problem („Höhlen-Bär“) wird zur konkreten Vision („Kein Höhlen-Bär“). Damit ist die Aktionslinie gesetzt und man muss nur noch die einzelnen Schritte und Zuständigkeiten festlegen. Ganz wie in der Medizin:

  • Problem: ‚Krebs‘. Ziel: ‚Kein Krebs‘
  • Problem: ‚Influenza‘. Ziel: ‚Keine Influenza‘
  • Problem: ‚Hochdruck‘ Ziel: ‚Kein Hochdruck‘

Beispiele

Cholera

Cholera ist eine Infektionserkrankung. Sie forderte viele Todesopfer, u.a. auch in Bangladesch. Dieses Problem wurde in den 70er-Jahren beseitigt durch Anlage tausender Bohrbrunnen, aus denen sauberes Trinkwasser floss. Der unmittelbare Erfolg war sehr überzeugend! Nur: drei Jahrzehnte später stellte man bei Millionen von Menschen Arsenvergiftungen fest. Dieses neue Problem war infolge der Bohrbrunnen künstlich entstanden. Es erwies sich als vielfach größer und als das Ursprüngliche. Und es ist unumkehrbar. Mehr: Arsen in Bangladesch

Vom Medizinsystem übertragene Infektionen

GAU in Atom-Kraftwerken

Die Atomkatastrophe in Fukushima (2011) war ein „Schwarzer Schwan“ (s.u. Taleb). Etwas, dass manchmal urplötzlich auftaucht, wenn man nur in die Vergangenheit schauend mit dem Rücken in die Zukunft rudert. So wie wir das besonders gerne bei medizinischen Interventionen tun. Das Tschernobyl-Ereignis (1986) war dagegen weder Naturereignis noch Technik-Versagen. Sondern ein Beispiel für typisch menschliches Versagen, gekennzeichnet u.a. durch ‚Herumfummeln‘ in komplexen Zuständen, und ein anschließendes Übersteuern bei sich aufschaukelnden Schwingungen (s.u. Dörner)

Oft folgen Interventionen in komplexe Systeme, neue (ungeahnte) Probleme, oder Katastrophen, die ohne die Lösungsversuche des ursprünglichen Problems nicht entstanden wären.

Typischerweise wird dann die zielgerichtete Strategie zum zyklischen Projekt-Management, bei dem eine Intervention der nächsten folgt.

Projekt-itis ist altbekannt

Bild: Wikipedia

Hodscha Nasreddin, gilt als Till Eulenspiegel der Türkei. Sein Grabmal in Aksehir. Er soll vor seinem Tod versprochen haben, noch eine letzte Weisheit zu verkünden. Er würde sie aber nur denjenigen offenbaren, die direkt an sein Grab träten, ihre Hand auflegten und die ‚reinen Herzens‘ seien,

Zu seinem Grabmal führt, ein Weg, der an einem Eisentor endet. Das Gatter ist mit einer dicken Kette verschlossen. Einen Schlüssel zu dem rostigen Schloss scheint es nicht zu geben. Gewalt hilft nicht. Der Weg zur letzten Weisheit bleibt versperrt.

Es bleibt nichts anderes übrig, als sich auf eine Parkbank zu setzen und den Blick in die Landschaft schweifen zu lassen. Dann erkennt man vielleicht einen Trampelpfad, der um den Gitterzaun herumführt. Folgt man ihm neugierig, findet man an der Rückseite eine Lücke zwischen den Gitterstäben … der Weg zu Nasreddins letzter Weisheit ist frei: „Hör auf, am Problem zu rütteln. Problemlösen macht müde. Gib auf. Nimm hin. Entspann dich. Trinke Tee, Betrachte die Landschaf

Grafik: Jäger 2005

Die Welt ist komplex und veränderlich

Und die Zukunft ist ungewiss. Das Meiste und vermutlich auch das Wichtigste, was wir theoretisch wissen könnten, wissen wir nicht. Diese Annahme ist die Basis wissenschaftlicher Erkenntnis.

Der Physiker Stephan Hawking nahm an, dass alle Modelle, die eine zutreffende Vorhersage liefern (z.B. aufgrund von „Naturgesetzen“), als real angesehen werden können. Solange, bis eine neue Realität der gewohnten Modell-Annahme widerspräche. Dann müsste das Modell geändert werden. Bei der Projek-titis (und auch in der Medizin) ist es häufig umgekehrt. Etwa nach dem Motto von Paul Watzlawick: Wenn die Tatsachen der Theorie widersprechen: „Umso schlimmer für die Tatsachen!“

Ist man sich der Komplexität von Wirkungszusammenhängen bewusst, sinkt der Bedarf an mutigen Projekt-Intervention: Die Handelnden werden deutlich bescheidener, kommunizieren mehr und gehen langsamer vor:

Grafik: Jäger 2005

Mehr

Zusammenhänge

Verschlimmbesserungen

Kreativ Planen

Literatur

Letzte Aktualisierung: 18.12.2023