Bewusstseins-Revolution
Radikale Veränderung der Weltsicht
Vor 10.000 Jahren verloren die starke Paarbildung (Eros), und das kreisförmige Denken ewiger Wiederkehr an Bedeutung. Zumindest in Regionen, in denen Landwirtschaft betrieben werden konnte.
Stattdessen erzwangen neue Herrschaftsformen Fronarbeit. Damit Bewässerungsgräben und Getreidespeicher angelegt, und der neue Reichtum gegen Räuber verteidigt werden konnte. Menschen emanzipierten sich von der Natur und den Götter-Geister-Stimmen, die ihnen bisher in Trance sagten, was zu tun sei. Sie begannen sich von der Natur zu emanzipieren, und sie zu beherrschen.
Die Kämpfe zwischen alten und neuen Mächten, zwischen „freien“ Nomaden und versklavten Bauern und Städtern, verliefen brutal, gewaltsam und extrem blutrünstig.
Allmählich verdrängte die neue linear-göttliche Ordnung das sich zyklisch-drehende Chaos. Zuerst im „fruchtbaren Halbmond“ Mesopotamiens und in Ägypten.
Dort mussten die Herrschenden dann nun mit Schrecken erkennen, dass ihr Sein (im Rahmen der neuen linearen Weltauffassung) zwangsläufig auf ein Ende zulief.
Ohne Versprechen auf Wiederkehr nach dem Tod gab es für die Sehnsucht nach einem „ewigen Leben“ (Gilgamesch) nur eine Möglichkeit: Vorsorge treffen. Durch Rituale, Begräbniszeremonien und gewaltige Bauwerke.
Erstmals beschrieb das sumerische Schöpfungsmythos Enūma eliš (vor < 4.000 Jahren) die totale Vernichtung der Chaos-Kultur ewiger Wiederkehr. Jetzt herrschte Marduk, der männlich-kriegerische Einheitsgott (Aššur: im assyrischen Reich). Anders als innere Götterstimmen stand „der eine Gott“ außerhalb des Menschen. Er konnte überall (auch außerhalb seiner Kultstätten) angebetet werden, und erteilte seine Befehle aus einer externen Position.
In vielen Kulturen entstanden seither ähnliche Varianten der Marduk-Geschichte, in denen ein Held ein bösartiges Fabelwesen erschlägt (die Symbole alter Eros-Kulturen) Beispiele: Thor & Midgard-Schlange, Mithras & Stier, St. Georg & Lindwurm, Siegfried & Drache u. v. a.
Häufig erscheinen in den Mythen, die den Übergang zu einem neuen, sich seiner selbst bewussten Menschen beschreiben
- ein Stier (Symbol unbändig-urtümlicher Natur-Gewalt), der getötet oder kastriert werden musste. (Fischer 1979)
- ein Pferd (Zeichen der Bezwingung und Nutzbarmachung der Natur), das im Kampf geritten wird. (Schmalenbach 2002)
Die Vertreibung aus dem Paradies
Arbeit war Menschen ursprünglich fremd, wie allen Tieren.
„Meine jungen Männer werden niemals arbeiten! Menschen, die arbeiten, können nicht träumen, und Weisheit kommt aus den Träumen. Ich soll die Erde pflügen? Soll ich ein Messer nehmen und die Brust meiner Mutter zerfleischen? Ich soll graben? Soll ich unter der Haut meiner Mutter nach Knochen graben? Ich soll Gras mähen und Heu machen? Soll ich meiner Mutter das Haar abschneiden? Wir verletzten die Erde nicht mehr als die Finger eines Säuglings die Brust der Mutter verletzen.“ Schamane Smohalla um 1890
Damit sie Felder bearbeiteten, Korn ernteten, Gräben aushoben und Städte aufbauten, mussten sie dazu gezwungen werden. Die dafür nötigen Unterdrückungsformen bildeten sich erst allmählich aus, im Zeitraum einiger tausend Jahre.
Zunächst begannen Halb-Nomaden in den Landstrichen der südlichen Türkei, Armeniens, des Libanons, Syriens und des heutigen Irak damit, Wildgetreide zu hüten und sich Haustiere zu halten. Dafür blieben sie länger an einem Ort und bauten schließlich auch einfache Grundnahrungsmittel an.
Schließlich bauten (mit einem heiligen Ort verbundene) Wildbeuter große Heiligtümer (u. a. Göbekli Tepe). Und schließlich kleine Städte (u. a. Çatalhöyük). In Mesopotamien und in Ägypten mussten Bewässerungssysteme und Dämme gegen Fluten errichtet werden. Das erforderte nicht nur große Arbeitsteilung, sondern auch ein anderes Wertesystem. Neben der nomadischen Belohnung für Heldentaten (Eros) trat die Pflicht des Schuftens für höhere Wesen, von denen Hohepriester besessen waren. Ihre Trance-Befehle verlangten gnadenlos Leistung und Knochenarbeit. Neben dem nomadischen Kriegsfürsten erstarkte die Macht der Schaman:innen, die mit den unsichtbaren Kräften verbunden waren. Die Ahnen wurden jetzt nicht mehr zurückgelassen, sondern lebten weiter und mischten sich durch die Stimme der Schaman:innen ununterbrochen in die Gestaltung des Alltags ein.
Das neue Leben der Halb-Nomaden der Mittelsteinzeit muss anstrengender, stressiger, genuss- und lustfeindlicher gewesen sein, als das der frei umherziehender Jäger, Räuber und Viehzüchter.
Die Erfindung der Landwirtschaft führte zudem (neben sehr viel, brutaler, harter Arbeit) zu Hunger, Krankheit, Seuchen, Ungleichheiten, Kriegen und Stress. (James Scott, Die Mühlen der Zivilisation, Suhrkamp)
Warum wurde die Fron angenommen?
Das harte bäuerliche oder städtische Dasein scheint, trotz allem, bei den frühen ortsständigen Kulturen zu Bevölkerungswachstum geführt zu haben. Denn von Anatolien kommend, begannen Trupps von Ackerbauern und Viehzüchtern stetig Europa und Asien vorzudringen. Vielleicht handelte es sich bei diesen sogenannten Bandkeramikern, die bevorzugt an Flussbiegungen rodeten und siedelten, um eine kultische Bewegung? Oder erklärt sich ihr Erfolg durch technische Innovationen? Oder durch eine starke Disziplinierung der Sozialgemeinschaft? Oder durch einen starken psychologischen Druck durch die Vermittler:innen des Willens von Ahnen und Trance-Göttern?
Der Raum für die Wanderschaften der Jäger, Räuber, Schafzüchter und Sammler wurde allmählich enger. Nomaden konnten einige tausend Jahre später nur noch überleben (oder manchmal auch herrschen), wenn sie sich militärisch organisierten, u. a. wie indoeuropäische oder asiatische Völker (Hethiter, Skythen, Hunnen, Mongolen u. a.). Durch bessere Bewaffnung und Kriegstechnik waren sie dann in der Lage, Bauern und Städter zu überfallen und auszurauben. Gelang ihnen das, mussten sie anschließend sesshaft werden. Und zwangsläufig auch wesentliche Anteile der Kultur (manchmal sogar Schrift oder Sprache) der von ihnen gering geschätzten, unterjochten Bauern-Zivilisationen annehmen.
In Papua-Neuguinea endeten nomadische Wanderschaften an den natürlichen Grenzen der Täler in einer schroffen Bergwelt. Deshalb blieben dort die Denkweisen der Besessenheits-Kulte (z. B. bei den Asmat) bis in die Neuzeit wie einem Museum erhalten.
Als die Menschen damit begannen, an einem Ort zu verharren, wurden Mütter und Väter nach der Beerdigung nicht mehr zurückgelassen. Ihre Erinnerung blieb (vor Ort) lebendig. Man begann mit ihnen zu leben. Man begrub sie unter sich und schlief auf ihnen. Und hatte sie so ständig um sich herum: als Geist, als innere Stimme oder als Totenschädel.
Körperteile geliebter Ahnen oder gefürchteter Feinde, wurden einverleibt, oder zerstückelt und (wie uva. in der Osiris-Sage) über die Felder verteilt.
In Europa sind die letzten Belege für rituellen Kannibalismus etwa 2.000 Jahren alt. In Papua wurde er noch bis Anfang 1960 praktiziert. Die Aufnahme roher Hirnsubstanz geliebter Verstorbener führte dort zu einer degenerativen Erkrankung (Kuru), die noch bis 2006 sporadisch nachgewiesen wurde. (Lancet 2006)
In fruchtbaren Flusstälern und Ebenen baute man den toten Fürsten heilige Hügel, und deponierte sie darauf, damit sie von dort aus die Feldbestellung beschauen und überwachen konnten. Da ihre Leichname verwesten, ersetzt man sie wohl bald durch haltbare Statuen aus Holz oder Stein.
„Oma und Opa“ blieben so der Gemeinschaft mit ihren guten Gedanken erhalten und mischten sich als Ahnen, Geister und Götter mit Tabus und Traum-Befehlen ständig in das Alltagsleben ein.
Aus den besonders wichtigen Verstorbenen entwickelten sich schließlich Stammes-Götter und später überregionale Gottheiten, die den Lebenden befahlen, was zu tun sei. Um mit diesen Vorstellungen zu kommunizieren, musste von der Gemeinschaft ein spezialisierter Menschentyp ernährt werden, der weder arbeiten, noch jagen, noch kochen musste: die Schaman:innen und später die Priester:innen der Religionen. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie besonders leicht, unter dem Einfluss von Trommeln, Tänzen und Drogen, in Trance fielen. Um mit dem Unsichtbaren im Sinne des Stammes über das Wetter, das Wildvorkommen, die Krankheiten, die Nachbarschaftskriege, und vieles andere zu verhandeln.
Der Archäologe Cauvin vertrat die Ansicht, dass es nicht die ökonomischen Zwänge waren, die die Menschen in den Ackerbau trieben. Vielmehr habe sich zuerst das Bewusstsein verändert. Erst die neue Kultur des Lebens mit den Ahnen und den Göttern habe langsam auch zur Entwicklung der Landwirtschaft geführt.
Die neolithische Revolution wirkt bis heute
Seit vielen zehntausend Jahren wurden Gefangene, Schwächlinge oder Verräter getötet, geblendet oder kastriert, damit sie sich nicht mehr vermehren konnten. Bis intelligentere, symbolische Formen der Kastrationen erfunden wurden.
Als Zeichen der Unterwerfung unter eine neue Ordnung wurden dann Teile des männlichen und später auch dem weiblichen Genitale herausgeschnitten. Eros wurde äußerlich sichtbar abgetötet, während die Fortpflanzungsfähigkeit erhalten blieb.
Sexualität wurde akzeptiert, damit sich Arbeiter, Leibeigene und Sklav:innen vermehren konnten. Auch Vergewaltigung war ggf. legitim, als ein Mittel der Machtausübung im Rahmen von Zwangs-Heiraten, dem „Recht der 1. Nacht“, gegenüber Sklav:innen oder im Rahmen der Kriegsführung.
Dagegen wurde das Eingehen starker Liebesbeziehungen (unabhängig von sexueller Orientierung) als schwerwiegende Sünde angesehen. Liebende widersprachen den neuen hierarchischen Ordnungen und galten daher als gemeingefährlich. Besonders wenn ein Liebes-Paar sein gemeinsames Glück für wichtiger hielt als die übergeordneten „großen Ziele“ des Staates und der Religion, für die sie sich aufopfern sollten.
So verschwanden mit den Bildern der starken Frauen auch die zärtlich-liebevollen Männer: Die sanften Helden wie Dumuzi und Adonis waren endgültig in die Unterwelt eingegangen, und kehrten nicht mehr wie früher im Frühling wieder zurück.
Entfremdete Sexualität als effektives Mittel, Eros weiter zu verdrängen
Moderne Herrscher (nach Gilgamesch) sollten nur noch einer Frau wirkliche Bedeutung beimessen: ihrer Mutter. Die vielen Sex-Sklavinnen dienten der Triebbefriedigung. Ständige Wechsel der Haremsdamen verminderte die Chance, dass sich eine intensive Liebesbeziehung entwickelte. Denn die hätten das Reich gefährdet, wie Nagib Machfus (Radubis), oder Lion Feuchtwanger (Jüdin von Toledo“) erzählen. Die einzige reale Chance einer Frau mächtig zu werden, bestand darin, ein männliches Kind zu gebären. Und dann als Mutter einen mächtigen Jüngling zu erziehen, der ggf. den Vater und Vergewaltiger der Mutter umbringen würde.
Die radikale Zugangsbeschränkung zu Sex erschuf die Prostitution:
Sex gegen Geld oder als (gnädig gewährte) Belohnung. Prostitution ist also ein relativ junges Gewerbe nach den älteren Berufen der Hebammen und den Schaman:innen. Sie diente (wie heute die Pornografie) der Systemerhaltung. Die Befriedigung des Sexualtriebes konnte ohne (systemgefährdende) erotische Bindung abreagiert werden.
Erstaunlicherweise ließen sich bis heute trotz intensivster Bemühungen weder die Dynamik der Geschlechterpolarität noch der Homoerotik verdrängen: Die verfluchten erotischen Teufel trieben und treiben in jeder Generation aufs Neue ihr Unwesen.
Alle späteren, eros-unterjochenden Kultur-Formen, konnten die urmenschliche Liebesfähigkeit nur eindämmen und kanalisieren, aber nie völlig beseitigen.
Dafür gelang es (in den wenigen Jahrtausenden nach der neolithische Revolution) sehr erfolgreich, die alte Kreis-Philosophie zu kippen.
Sie ist im Zeitalter des linear-zielorientierten Denkens heute fast gänzlich vergessen. Deshalb erscheint vielen der Tod als das Schlimmste, das ihnen geschehen könnte.
Neue Bewusstseins-Revolution?
Das Denken der Nomaden kreiste im Rhythmus des Umfeldes, in dem sie sich eingebettet fühlten. Nach der Transformation ihrer Lebenswelt musste die Natur bekämpft, ausgebeutet und beherrscht werden. Das ist erfolgreich gelungen.
Die Gattung Mensch hat im Bewusstsein erbitterter Kämpfe „GEGEN“ (was auch immer) den Gipfel ihrer Macht erreicht. Jetzt beißt die Biosphäre zurück. Wir haben uns verrannt. Die Grundlagen für Leben auf der Erde sind in Gefahr.
Eine zweite Bewusstseins-Revolution „FÜR“ friedvolle Systemzusammenhänge ist nicht absehbar. Vielleicht wird sie nie oder zu spät kommen.
Evolution verläuft gesetzmäßig
Vor über 3.000 Jahren schrieb ein Kabiti-Ilani-Marduk auf Tontäfelchen, ihm seien im Traum Welten-Zusammenhänge vermittelt worden. Seine Geschichte handelte von dem „Helfergott“ Erra, der das göttliche Zerstörungsprinzip symbolisiert (Seuchen, Hunger, Chaos, Katastrophen, verbrannte Erde …). Also all das Unglück, das „der einzige“ Gott (Marduk) bereithalte, um seine ungläubigen Feinde zu treffen und zu zerstören.
In einer dramatischen Raserei vernichtete Erra hier (fast) alles Lebende. Ohne ersichtlichen Grund. Eher zufällig, aus einer Laune heraus.
Anders als in der späteren Sodom-Gomorrah-Geschichte unterschied der Vernichtungs-Engel nicht zwischen Guten und Bösen, Gerechten und Sündern, Menschen und Tieren. Während Erras Wahnsinns-Attacke sei der „allmächtige Gott“ (Marduk) „gerade mal nicht da“ gewesen. Erst nachdem sich Erra schlafen gelegt hatte, erschien Gott wieder.
Kabiti-Ilani-Marduk erkannte, wie biologische Gesetzmäßigkeiten ablaufen, wenn ein Ökosystem kippt: blind, leidenschaftslos, an Einzelschicksalen nicht interessiert, brutal und radikal. In der Medizin ist das Phänomen vertraut: Wenn ein Infektionserreger sich grenzenlos vermehrt und den Wirtsorganismus mit seinen Giftstoffen verseucht, brechen Gleichgewichtszustände zusammen. Im Armageddon des Überlebenskampfes sterben dann nicht nur die Krankheitsverursacher, sondern auch vieles andere, und manchmal zugleich der Wirt. Kabiti-Ilani-Marduk beschrieb, wie eine radikale Zerstörung bei geeigneten Bedingungen scheinbar zufällig ausgelöst werden kann. Und wie sie dann ungebremst (und unabhängig von „göttlichen“ Eingriffen) abläuft. Wie eine Lawine, die ins Tal rast.
Das Lehrgedicht endet dennoch mit einer optimistischen Botschaft: Wir seien zwar von Niedergang, Kollaps und Zerstörung bedroht. Aber ohne Wegwischen des Alten könne das Neue nicht geboren werden.
Mehr
Literatur
- Fischer P: Mythos Stier. Eigenverlag ,1987
- Groneberg B: Die Götter des Zweistromlandes, Patmos 2004
- Kabiti-Ilani-Marduk: Erra & Ishtum (um 1.800 v.u.Z.?)
- Kriwaczek P: Babylon. Mesopotamia and the birth of civilization. Atlantic Books, 2010
- Masalha N: Palestine. A 4.000 year history. ZED Books 2018
- Schmalenbach W: Kleiner Galopp durch die Kunstgeschichte. DuMont 2002
- Steele P: Mesopotamien. Die Wiege der Zivilisation. Gerstenberg 2007