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17. August 2024

Archaisches (Gilgamesch, Ilias)

Inhalt

  • Gligamesch: Der moderne Mensch –
  • Illias: Die Marionetten-Krieger –

Gilgamesch

Das Gilgamesch Epos beschreibt die Revolution des menschlichen Bewusstseins im Übergang von der Mittel- zur Jungsteinzeit.

Gilgamesch ist ungeheuer … Ich rechne es zum Größten, das einem widerfahren kann.
.… Ich fühle: ich erzähl‘s besser … und mich geht‘s an!“ Rilke 1911

Die ersten Orte menschlicher Zivilisation. Bilder rechts: Qobustan (Jäger 2018), Karte: justusems.weebly.com

Mesolithikum

Über einen Zeitraum von tausenden Jahren entwickelten sich Stätten, die Nomaden heilig erschienen: an besonders eindrucksvollen Oasen: in der Nähe von Quellen, in fruchtbaren Landschaften oder in der Nähe imposanter Felsstrukturen. Jäger, Räuber und Viehtreiber pilgerten mit ihren Familien dorthin, um ihren Göttern zu opfern, Geister zu besänftigen, sich mit dem Schicksal zu versöhnen oder um Waren zu tauschen und zu handeln. Langsam wuchsen aus losen Dorfstrukturen kleine Städte. Man zelebrierte schamanistische Rituale, baute Gemüse und Getreide an, kommunizierte, und begann damit, die Tauschgeschäfte bürokratisch auf Tontäfelchen festzuhalten. Die ersten städtischen Gesellschaften beruhten auf offenen Märkte und freiem Handel. Die Hierarchien waren flach, soziale Klassen hatten sich (anfangs) bislang nicht herausgebildet. Der Zusammenhalt der theokratisch gesteuerten Gemeinschaft erforderte strikte Regeln und Ordnungsstrukturen: Ein weitgehend egalitärer Kommunalismus (mit zunehmend eingeschränkten Spielräumen für individuelles Handeln – im Gegensatz zum Leben „freier“ Nomaden.

Sargon von Akkad, oder sein Enkel Naram Sin, Steele 2007

Erst allmählich bildeten sich mit zunehmendem Bevölkerungswachstum arbeitsteilig soziale Klassen heraus: u.a. um Bewässerungs-Systeme und Dämme gegen Überflutungen anzulegen, und um den neuen Reichtum gegen räuberische Nomaden zu schützen. Vor 5.000 Jahren erschien in den Aufzeichnungen der erste „Lugal“ (der „große Mann“ Gushur von Kish).

Vom „Lugal“ (der sich als Zampano imposant und gewaltig in Szene setzen musste) war es dann nicht mehr weit bis zum „Stadt-König“ (von dem immer noch verlangt wurde, anderen körperlich überlegen sein musste). Bis schließlich zum ersten „Weltherrscher“ Sargon von Akkad (um 2.300 v.u.Z), der noch als alters-schwacher Mann regieren konnte. Sargon stammte von einfachen Leuten ab, und lies daher die (viel später in die Bibel übernommene) Geschichte konstruieren, eine höher gestellte Prinzessin habe ihn als Baby in einem Binsenkörbchen im Fluss ausgesetzt.

Aufbruch in eine neue Zeit

Vielleicht vor 10.000 könnte sich im Mittelmeerraum eine Extrem-Katastrophe ereignet haben. Möglicherweise brach durch steigende Meersspiegel die Landverbindung des Bosporus zum jetzigen Schwarzen Meer. Im Gilgamesch-Epos wird dieses Großereignis erinnert und beschrieben. Viel später wurde die Geschichte dann in die Bibel übernommen, und weitergesponnen mit Noahs Söhnen Ham, Sem und Jaffed von denen die Sprachfamilien im Raum des fruchtbaren Halbmonds abstammen sollen.

Das Gilgamesch-Epos ist fast vollständig erhalten. Verfasst wurde es vor über 4.000 Jahren. Vermutlich auf der Basis jahrhundertealter mündlicher Überlieferungen. Die Tontäfelchen wurden in der Bibliothek von Aššur-bāni-apli (Assurbanipal 7. Jhh. v.u.Z.) gefunden, und vielleicht vor 3.700 Jahre in Ton gedrückt.

Teile des Gedichtes erinnern an extrem weit zurückliegende Zeiten, als moderne Menschen sich noch „Menschen-ähnlichen“ Persönlichkeiten gegenübersahen, „die Tierhaft lebten“.

Einige Elemente der Sagen-Komposition stammen aus älteren Mythen und Erzählungen.

U. a. aus der Sintflutgeschichte von Atraḫasis, einem Schamanen, der durch göttliche Intervention die überlebte. Und dann als Stammvater der Menschen die Unsterblichkeit erlangte.

Oder von Lugal-banda, einen bedeutenden Führer, der in den Götterhimmel aufsteigen durfte. oder aus den Mythen rund um die „heilige Hochzeit“. Der rituellen Vereinigung der Göttin (des Eros, der Fruchtbarkeit, des Krieges und der Jagd) Ištar (Inanna) mit dem liebevoll-zärtlich-heldenhaften Hirten (Dumuzi).

Ein Drittel Mensch, zwei Drittel Gott

Der „Gilgamesch“ des Epos ist vermutlich eher eine dichterische Schöpfung als eine historische Persönlichkeit.

Er an Könige erinnern, die vor etwa vier bis fünftausend Jahren als Lugal oder als Stadt-Oberhaupt von Uruk gelebt haben. Einer dieser Herrscher von Uruk (Lugalbi-salsi) lies sich um 2.350 v.u.Z. lies auf einer Steinfigur verewigen.

Eine andere (vom überlieferten Charakter und Erscheinungsbild her) Gilgamesch-ähnliche Gestalt war der akkadische Großkönig Naram Sin, der Enkel von Sargon.

Naram Sin besiegte vor etwa 4.300 Jahren den Fürsten Anubani, der im Zagros-Gebirge über das Volk der Lulubi herrschte. Anubani hatte (wie später die Perser) Akkad immer wieder überfallen. Und sich dann nach erfolgreichen Raubzügen als Held und Diener der Liebes- und Kriegsgöttin Inanna (Ištar) feiern lies.

So wie später Gilgamesch im Epos brach Naram Sin nach seinen Siegen mit den Ritualen der starken Geschlechterpolarität, die die Kriegs- und Liebesgöttin symbolisierte. Ištar-Inanna wurde in die Unterwelt verbannt, und Naram Sim huldigte ab dann der männlichen Einheits-Gottheit.

Die Gilgamesch-Geschichte spielt in einer Zeit, in der Uruk von einer grandiosen Mauer umschlossen wurde.

anubani_inanna_naramsin
Vor 4.300 Jahren. Links: Anubani von Lulubi (Persien: Zagros, Kermānschāh) schenkt der Göttin Inanna Gefangene. Rechts: Wenig später besiegt ihn Naram Sin (der „Weltherrscher von Akkad“). Inanna-Ištar ist jetzt verschwunden und Naram Sim huldigt dem männlichen Gott Enlil. Bilder: Wikipedia

Das erforderte Fronarbeit, die befohlen werden musste. Von einer Elite, die deutlich bequemer lebte als die Sklaven. Aber zusätzlich zu seiner ererbten Autorität musste König auch körperlich strahlen, vor Kraft strotzen, jung-dynamisch und gewalttätig erscheinen. Er musste ein „Lugal“ (ein unerreichbar Großer) sein.

Die Macht mesolithischer Führer war körperbetont. Gilgamesch wurde zu Beginn des Epos nicht wegen seiner Weisheit gepriesen, sondern wegen seines schönen, mächtigen Körper und seines triebhaften Kraftprotzens. Er erwürgte Löwen, vergewaltigte Frauen und raubte die Dörfler und Nomaden der Umgebung aus. Er war jähzornig, unbeherrscht und „unglaublich“ stark. Seine wesentlichen Erkenntnisse flüsterten ihm Götter ein, die ihm im Traum oder in Trance erschienen. Eigene, abwägende Gedanken und Überlegungen werden von ihm zu Beginn des Epos (noch) nicht überliefert.

In seiner umwallten Großstadt lebten vielleicht 30.000 Einwohner oder auch mehr. Im Zentrum stand der aufgerichtete Hügel (Zikkurat) mit dem Tempel der Inanna-Ištar, der die Stadt und das Umland überragte. Er wurde von Ninsun geboren, einer „gottgeweihten“ Priesterkönigin, die ihn, ihren geliebten Helden und König, sein Leben lang begleitete und beschützte. Lugalbanda, sein Vater, wurde „der Friedliebende“ genannt. Er war ein bedeutender König, der beim Zeugungsakt gerade von einem Gott besessen war, was damals als vollkommen normal galt.

Gilgamesch sei deshalb (so glaubte oder suggerierte man) zu zwei Dritteln ein Gott, und nur zu einem Drittel ein Mensch.

Verknappung des Eros: Gilgamesch trennt Männer und Frauen

Die starke Geschlechterpolarität der Nomaden, der gewaltige Eros-Dynamo der Frühzeit, klingt im ersten Teil des Epos noch an. Aber Ištar (Inanna) hatte sich zu Lebzeiten Gilgameschs schon der neuen Zeit angepasst: Die Sehnsucht nach dem idealen Paar („Der heiligen Hochzeit von Göttin und Gott“) war ersetzt worden durch das Wegsperren der schönsten Frauen des Landes in einen Tempel. Damit hatte Inanna-Ištar das weltweit dritt-älteste Gewerbe erschaffen (nach den Hebammen und den Schamanen). Der Zutritt zu freiem Sex mit ihren jungen Priesterinnen war nur noch den stärksten Kriegern erlaubt. Alle anderen gingen leer aus.

Gilgamesch verschärfte dieses Regime der Verknappung des Eros noch weiter, indem er „Männer und Frauen trennte“: Seine Untertanen sollten Fron- und Kriegsdienste und Zwangsarbeit leisten, und nicht an Liebe denken. Schließlich bemächtigte sich Gilgamesch auch noch der Frauen seiner Offiziere, und erzwang das „Recht der ersten Nacht“.

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Enkidu, der Tier-Mensch, erlernt Kultur und stirbt. Bilder: Ludmilla Zeman, www.ludmillazeman.com

Das war zu viel: Die Frauen beklagten sich bitterlich bei Aruru, der Mutter „der Götter, aller Kinder und allen Lebens“. Sie verlangten eine Konterrevolution gegen den neuen Herrscher-Typ, der ihnen die Männer und die Liebe gestohlen hatte.

Um den übermütigen, macht- und sex-besessenen Neu-Menschen Gilgamesch zu kontrollieren, bildete Aruru aus Lehm einen „paradiesischen“ Tier- oder Vor-Menschen: Enkidu.

Der besaß eine gewaltige Körpergröße, und seine Stärke überstieg die des Gilgamesch bei Weitem. Aber er besaß keine Kultur, lebte direkt mit den Tieren und redete nicht:

„Mit Gazellen frisst er Gras und mit Herdentieren drängt er sich an die Wasserstelle.“

Die Enkidu-Passage erinnert an die seit 30.000 Jahren vergangenen Zeiten, als moderne Menschen (Homo sapiens) auf Titanen (Neandertaler) trafen,  und sich mit diesen auch paarten. Enkidu jedenfalls wird in den erhaltenen Ton-Reliefs halb-tierhaft dargestellt. Er ist unbändig und musste erst zivilisiert werden.

Seine Verwandlung zum Kultur-menschen gelang durch die Kraft der Sinnlichkeit und der sexuellen Energie einer Frau (Schamchat), einer geweihten Tempelpriesterin der Ištar (Inanna).

Durch die Frau wandelt sich Enkidu vom Tier zum Menschen.

Dumuzi & Inanna
Die heilige Hochzeit: Dumuzi (der Hirt) und Inanna-Ištar (die Göttin) vor 4.000 Jahren. Bild: Wikipedia

„… Nimm dir ein blühendes Weib aus Ischtar’s (Ištar) heiligem Tempel und führe sie hin zu ihm. Wenn er kommt mit den Tieren zur Tränke, werfe sie ab ihr Gewand, damit ihre Fülle er nehme.“ … Es kommt das Vieh und trinkt an der Tränke … Da ist auch er, Enkidu, des himmlischen Gottes gewaltiger Spross. Mit den Gazellen isst er die Kräuter, mit den Tieren schlürft er gemeinsam das Wasser. Munter tummelt er sich mit dem Gewimmel in der Flut. … Ihn sah das heilige Weib, den Menschen voll Kraft, den wilden Gesellen, den Mann vom Gebirge. Er schreitet über das Feld spähet umher, kommt näher…. Da löste das Weib das Tuch ihres Busens, enthüllte den Flügel der Freude, damit ihre Fülle er nehme. Sie zögerte nicht, nahm wahr, seine Lust. Hin sank das Gewand, er sah sie und warf sie zu Boden. Begierde erregte sie ihm, das Fangwerk des Weibes. Fest ruht seine Brust auf der heiligen Dienerin der Göttin. Sie waren allein. Sechs Tage und sieben Nächte erkannte Enkidu das Weib, vereinte sich ihr in der Liebe. … Von ihrer Schönheitsfülle gesättigt, erhob Enkidu sein Antlitz und blickte umher in die Steppe. Er spähte nach den Tieren. Kaum sehen sie ihn, da jagen im Sprung die Gazellen davon, die Tiere des Feldes scheuen vor ihm zurück. … Er wendet sich um zum Weibe und setzt es sich zu ihren Füßen. Er blickt ihr ins Auge, und wie sie nun spricht, da horchen auf seine Ohren: „Enkidu schön bist du, wie ein Gott bist du! Warum willst du mit dem wilden Getier hinjagen über die Felder? Komm mit mir nach Uruk, in die umfriedete Stadt, zum heiligen Tempel, der Wohnung Anu’s und Ištar’s! (Text von Georg Burckhard, Insel 1955)

Wie aus einer Raupe ein Schmetterling aufsteigt, erwuchs durch die Begegnung mit der Inanna-Priesterin ein (einfacher) Kultur-Mensch: Enkidu redete. Aber er fühlte sich noch mit der alten Kultur der Nomaden verbunden, und mit deren Bräuchen, die von einer starken Paar-Beziehung bestimmt waren. Gilgameschs Ausübung des „Rechtes der ersten Nacht“ erschien ihm, als man ihm davon erzählte, abscheulich und ungesetzlich zu sein. Deshalb war er entschlossen, für die alten Nomaden-Rechte zu kämpfen.

2.000 Jahre später erinnert die Bibel an diesen Konflikt, mit der Geschichte des Nomaden Abel, der durch Kain, den Ackerbauern, ermordet wird.

Im Gilgamesch-Epos jedoch können sich die beiden Gegenpole noch versöhnen. Zumindest im ersten Teil des Epos, weil der „Tiermensch“ später sterben muss.

gilgamesh harder
Jens Harder Gilgamesch, Carlson Verlag 2018,

Ninsun, Gilgameschs Mutter, löste den Konflikt

Die Göttin Ninsun nahm Enkidu als ihren Sohn an, und eröffnete damit ein neues Kapitel: Das der starken Männerfreundschaft ebenbürtiger Krieger mit gleich-geschlechtlicher Erotik. Aus der alten Frau-Mann-Dynamik entstand eine Liebesbeziehung von Mann zu Mann. Enkidu und Gilgamesch waren nun Brüder, vertraute, beste Freunde. Wie die weitere Geschichte zeigt, brachte ihnen diese Art der Beziehung wesentliche Überlebensvorteile. Evolutionär wird es sich sicher ausgezahlt haben, wenn „Mann“ fern der Heimat einen geliebten Mann neben sich wusste.

Enkidus Nomaden tauchten anschließend im Epos nicht mehr auf. Sie zogen, mit der Macht der Stadt versöhnt, im großen Weltreich umher.

Gilgamesch und Enkidu machten sich, vereint und gemeinsam, auf zur nächsten Revolution, der Unterjochung der Natur.

Bis dahin empfanden sich Menschen als Teil eines ewigen Kreislaufes der Natur, als Kinder der Mutter Erde und des Himmels. Jetzt erschien Gilgamesch in seinen Träumen ein (in der Götter-Hierarchie unbedeutender, aber trickreicher) Gott, Schamasch „die Abendsonne“. Gilgamesch ließ sich von ihm als Instrument benutzten, als dieser neuzeitliche Geist ihm befahl, ein drachenähnliches Monster zu erschlagen, das einen Zedernwald bewachte. Mit dem Holzreichtum könne man die Stadt besser befestigen. Humbaba, der Wächter dieses Waldes, war von den natur-verbundenen Alt-Göttern eingesetzt worden, und die von ihm beschützte Natur galt (bis dahin) als heilig.

Trotzdem zogen Gilgamesch und Enkidu los, wanderten mit Ihren Soldaten monatelang, um Humbada zu finden, zu bekämpfen und zu ermorden. Und natürlich, um den ganzen Wald anschließend abzuholzen und das widerrechtlich Geraubte nach Uruk zurückzubringen.

Uroboros: Der ewige Kreislauf des Werdens und Vergehens, vor der Entwicklung von Dualismus und linearem Denken

Die neue Menschheits-Epoche beginnt mit einem Kahlschlag

Mit Gilgamesch wagten sich Menschen erstmals an riesige Umweltzerstörungen, und sie erkannten, dass dieser Frevel von den Göttern nicht (sofort) gesühnt wurde.

Ištar (Inanna) die Liebesgöttin, wollte sich mit dem heimkehrenden Helden Gilgamesch trotzdem aussöhnen, weil er siegreich geblieben war. Sie wollte ihn, wie schon tausendfach zuvor, zu ihren neuen Geliebten erheben, so wie sie es immer mit erfolgreichen Kriegern getan hatte.

Gilgamesch aber wies Inanna-Ištar zurück. Denn er erkannte, dass in ihrem alt-ideologischen Nomaden-Herrschaftsbereich Männer nur solange geliebt und mit Sex umgarnt wurden, wie sie stark und potent erschienen. Schwächelten sie, ließ man sie fallen und wandte sich dem erst-besten Herausforderer zu. Anschließend ließ „frau“ dann, die alt gewordene Machos kastrieren oder umbringen.

Gilgamesch aber fühlte sich nach dem Sieg über die Natur erstarkt und wollte sich dieses Schicksal nicht bieten lassen. Also wagte er es, die alte Religion der Ishtar (Inanna) bösartig zu beleidigen und zu verhöhnen.

Der Stierkampf: Niedergang des Eros und Aufstieg des Patriarchats

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Picassos Stierkampf. Bild: Foto eines Drucks. Mehr: s. Wiki: La Tauromaquia Picasso

Ištar (Inanna) schäumte vor Wut und wollte Gilgamesch ein für alle Male vernichten. Damit begann der radikale und blutige Kampf der Besessenheits-Gesetzes-Kulturen der Städter und Bauern gegen die Reste der nomadischen, naturverbunden, „monogamen“ Stammesriten, deren Dynamik aus klaren Gender-Rollen erwuchs.

Ishtar (Inanna) mobilisierte gegen Gligamesch die stärkste Waffe, die sie noch besaß: den Himmels-Stier (auf dem auch heute noch Europa reitet). Er ist das Symbol des gewaltig-brutalen (aber hirnlos-stumpfen) Macho, der von einer klugen Frau gelenkt wird.

Enkidu und Gilgamesh töteten ihn, weil sie schlauer waren als er. Bis heute wird dieser Kampf des neuen klugen Mannes (des Toreros), gegen den alten Muskelprotz der Vorzeit in Mythen, in Gemälden und auch bei echten Stierkämpfen zelebriert.

Inanna-Ištar musste ihre Niederlage erkennen. Sie trauerte, verfluchte Gilgamesch und musste sich, entmachtet und verlacht, in die Unterwelt zurückziehen. Ihre Religion des kämpferischen Eros war zerplatzt.

Die jungen, schönen Frauen wurden entmachtet und dienten ab jetzt nur noch als Sex-Sklavinnen oder Kinder-Gebärende. Die vollkommene und unwidersprochene Macht lag bei dem jüngeren Gott-König und der älteren Frau: seiner göttlichen Mutter.

In diesem neuen, städtischen Herrschaftssystem war für urgewaltige Nomaden-Naturen kein Platz mehr. Als Strafe der Verletzung der bisherigen Ordnung, ließen deshalb die Götter nicht etwa Gilgamesch (den neuen Menschen) sterben, sondern Enkidu (den vorzeitlichen). Denn er wurde von nun an nicht mehr gebraucht, und lebte nur noch in Erinnerungen und Träumen fort.

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Burghard Pfister: Gilgamesch Tafel 9, Projekte Verlag, www.gilgamesch-epos.de

Ende des kreisförmigen und Geburt des linearen Weltbildes

Gilgamesch erkannte im Ableben seines geliebten Enkidu den Tod. Bisher gab es die Todesvorstellung nicht, denn alles Vergehen war zugleich neues Werden: ein unendlicher Fluss und Übergang. Deshalb konnte man ohne Sorge jederzeit für den Stamm sterben, weil man weiterhin im Stamm (in einer neuen, unsichtbaren Rolle) verblieb und weiterlebte. Die Zukunft führte vor Gilgamesch direkt in die Vergangenheit, zu der Gemeinschaft mit den Ahnen, aus der dann die Wiedergeburt zu den Lebenden erfolgte.

Nun gab es ein Ende: Die drohende Leere.

Gilgamesch sah, wie sein kreisförmiges Weltbild zerbrach. Ihm wurde eine Zeit-Linie zwischen Vergangenheit und Zukunft bewusst. Erwachend wollte er verstehen, was geschah, und legte sein ursprüngliches Macho-Gehabe ab.

Er begab sich allein auf die Suche nach Erkenntnis, nach letztem Wissen und (vorwiegend) nach einem Weg zur Unsterblichkeit. Wie später Odysseus irrte er in einer grenzenlosen Welt umher und tastete nach neuem Halt.

Nach einigen Abenteuern gelangte er zu Utanapishtim, oder Atraḫasis, der viel später in der Bibel Noah genannte wurde. Ihm und seiner Frau, Stammeltern der neuen Menschheit, hatten die Götter nach der Sintflut Unsterblichkeit verliehen.

Historisch mag die Sintflut die Erinnerung an einen Tsunami gewesen sein, der möglicherweise lange vor Gilgamesch einige Mittelmeerregionen überflutet haben soll. (s.u.).

Die Flut, so erzählt Utanapishtim, sei vom Götterkönig Enlil geschickt worden, der des Lärms der Menschen überdrüssig geworden war. Gilgamesch sah und hörte in den Gesprächen mit dem abgeklärten Heiligen, was bisher „keiner gesehen und gehört“ hatte. Auch er wollte nun weise und gott-gleich werden, aber selbst den „kleinen Tod“, den Schlaf, konnte er nicht bezwingen. Auf Bitten der Gattin von Utanapishtim, wurde ihm aber erlaubt, im See nach dem „Kraut der Jugendlichkeit“ zu tauchen.

Er fand es tatsächlich, riss es aus und durfte es behalten. Auf seiner Rückreise aber  raubte ihm eine Schlange die Zauberpflanze, als er traumlos schlief.

Wie so vieles aus dem Gilamesch-Epos taucht die Schlange viel später auch in der Bibel  wieder auf. Sie symbolisiert auch dort die endgültige Vertreibung aus dem Paradies des ewigen Lebens.

Schlangen sind mythische Kreaturen, die bis heute mit vielem in Zusammenhang gebracht werden: mit Fertilität, sexueller Energie, Vitalität, Transformation, Heilung, Wieder-Geburt und natürlich mit der Erbsünde. Häufig dienten sie Priesterinnen, Hexen, Schamaninnen oder Göttinnen. Und ebenso häufig galten sie dann den ernsten, streng-gläubigen, religiösen Männern als ein Symbol der Sünde und des Teufels.

Der Tod wird zum unausweichlichen Ziel 

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Burghard Pfister: Gilgamesch Tafel 11, Projekte Verlag, www.gilgamesch-epos.de

Gilgamesch weinte. Er sah keinen Ausweg. Aber er fühlte, dass er zurückkehren müsse, um ein neuer, abgeklärter und ernsthafter König zu werden.

Und so wanderte er wieder nach Uruk, und wirkte dort für dessen Größe und für die Macht des regionalen Gottes Enil, der Jahrhunderte später im Schöpfungs-Epos Enumah Elish unter dem Namen Marduk verherrlicht wurde.

Gilgamesch jedenfalls soll als Patriarch neben der alten, geliebten, göttlich-verehrten Mutter und vielen namens- und bedeutungslosen Sklavinnen gelebt haben.

Voller Angst begegnete er seinen Träumen nochmals Enkidu. Der schilderte, aus dem Totenreich aufsteigend, eindringlich, wie es denen erginge, die im Diesseits nicht für ein standesgemäßes Leben im Jenseits sorgen.

Man müsse sich im Leben intensiv für das Leben nach dem Vorbereiten und sich dafür ausstatten. Das Leben sei dafür sehr kurz bemessen, die Ewigkeit aber sei lang. Also solle man das Diesseits besser gering schätzen, und sich gut auf ein standesgemäßes Leben mit den Göttern vorbereiten.

Die neue Zeit war endgültig angebrochen.

Eros (die starke Paar-Beziehung) war endgültig besiegt. Liebe galt den Mächtigen nun als verdächtig und sündhaft, weil es den neuen Pflichten widersprach. Die Verehrung der Natur war belanglos geworden. Die Umwelt war nur noch Mittel zum Zweck der Bedarfsbefriedigung von Menschen: Spätestens ab jetzt wurde sie ausgebeutet und unterjocht.

Die Zeit verlief nun geradlinig von der Geburt zum Tod, oder zu einem Leben nach dem Tod, für die Auserwählten oder die anderen, die daran glaubten. Und die Mächtige ließen sich für ihr halluziniertes, nachgeburtliches Leben in Fronarbeit riesige Grabanlagen errichten.

Gilgamesch: die Transformation des archaischen zum modernen Menschen  

Den bis heute erhaltenen Ton-Täfelchen des Gilgamesch-Epos folgten wenig später die ersten Gesetzestexte des Hammurapi und Schöpfungsgeschichte der neuen Menschheits-Epoche (Enumah Elish).

Ein tausend Jahre später wurde dann in Griechenland die Ilias aufgeschrieben: ein anderes Psychogramm der Frühzeit. Der darin verherrlichte Held (Achilles) litt an allen Anzeichen einer produktiven Psychose (Wahn, Halluzinationen, Aggressionsattacken). In der Ilias bekämpften sich in den Hirnen der Beteiligten fantasierte Bildwesen untereinander. „Sie“ bedienten sich als innere Stimmen der Menschen, als seien diese Marionetten. Die Betroffenen hielten das offenbar für normal. So redete eine Frau (Helena) nicht mit einer alten Sklavin, die vor ihr stand, sondern mit einer Göttin, von der die Sklavin gerade besessen sei. Und ein Mann (Hektor) erkannte in dem Rat seines vermeintlichen Bruders die Bösartigkeit einer feindlich gesinnten anderen Göttin, die sich wohl des Bruders bemächtigt habe.

Langsam aber wurde es den Menschen leid, sich von solchen in Besessenheit erlebten Gottheiten gängeln zu lassen. Etwas veränderte sich die Art, wie sie ihre Gehirne nutzten. Sie wurden allmählich Herren und Frauen ihres Inneren und verschoben oder projizierten, die „übergeordneten System-Vorstellungen“ nach außen.

Ersten Persönlichkeiten, die es wagten, radikal mit den alten Besessenheits-Religionen zu brechen, waren der ägyptische Pharao Echen-Aton und der baktrische Wanderprediger Zarathustra. Unabhängig voneinander entdeckten sie äußere Einheits-Gottheiten, die zwar weiterhin alles durchfluteten, aber den Menschen die Eigenverantwortlichkeit zugestanden, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden.

Nochmals mehrere hundert Jahre später begann eine Zeitspanne, die Karl Jaspers „Achsenzeit“ nannte (800–200 v.u.Z.), und in der Menschen nahezu gleichzeitig in Europa, Indien und China damit begannen, schöpferisch selber-zu-denken, und ihre eigenen Regeln zu erlassen.

Gilgamesh Schrott
Raoul Schrott: Gilgamesch-Epos. ISBN 13978-3-89940-743-3

Was ist an der alten Geschichte so einzigartig?

Das Gilgamesch-Epos wurde seit 3.400 Jahren nicht verändert. Seither konnte es niemand mehr verfälschen.

Im Gegensatz zu den Dichtungen der Bibel, die aus vielen, jüngeren Erzählungen stammen, erst in 6. Jh.. v.u.Z. zusammengestellt wurden. Immer wieder übersetzt, umgeschrieben, verändert, verbessert, erweitert oder aussortiert, an Zeitgeist und politische Notwendigkeiten angepasst und geglättet. (Die älteste hebräische Bibel nur 1.000 Jahre alt: Codex Leningradiensis).

Niemand kann bei mehrmals abgeschriebenen Texten sagen, was historisches Original, Fiktion, Fabel, Dichtung, Ideologie oder Glaubens-Konstruktion sein könnte.

Das Gilgamesch-Epos dagegen liegt vor uns, wie eine archaische, rohe Skulptur: grob behauen, brutal, gewaltig. Es regt das Unbewusstes und Unsagbare an. Es zeigt, wie sich das moderne menschliche Denken entwickelte.

Es regt zum Weiterdenken an. Es wirft grundsätzliche Fragen auf:

  • Wie findet die Menschheit aus der Krise des linearen, Natur-bezwingenden und ausbeutenden Handelns wieder heraus?
  • Ist Eros endgültig tot?
  • War die Bewusstseins-Revolution des Gilgamesch die letzte der Menschheit?

Mehr

Literatur und Links

Deutscher Text

  • Gilgamesch Epos
  • Gilgamesch (11 Tafeln), Übersetzung: Stephan Maul, Verlag H.H. Beck, 2007
  • Gilgamesch (12 Tafeln), Übersetzung Herrmann Ranke, Verlag Maris, 2006

Englischer Text

Kunst

Geschichtlicher Kontext

  • Fischer P: Mythos Stier. Eigenverlag,1987
  • Groneberg B: Die Götter des Zweistromlandes, Patmos 2004
  • Kriwaczek P: Babylon. Mesopotamia and the birth of civilization. Atlantic Books, 2010
  • Masalha N: Palestine. A 4.000 year history. ZED Books 2018
  • Schmalenbach W: Kleiner Galopp durch die Kunstgeschichte. DuMont 2002
  • Steele P: Mesopotamien. Die Wiege der Zivilisation. Gerstenberg 2007

Hinweise

Ilias: „normaler“ Wahnsinn

Das menschliche Wesen bestand aus zwei Teilen:
dem Lenker und Leiter (namens Gott) und
einem Gefolgsmann (namens Mensch). Julian Jaynes 1976

Marionetten Bewusstsein

Bewegt sich etwas, nachdem ein Stromkreis eingeschaltet und ein Befehl erteilt wurde, muss es sich um eine Maschine handeln. Oder auch um einen Menschen? Wenn sie oder er in einem ich-un-bewussten Trance-Zustand nicht weiß, was sie oder er tut. Wenn der „Sinn“, der zu einer Handlung antreibt, in einem „Wahn“ erkannt wird. Und nicht in einer Realität, wie sie anderen erscheint. Sondern in inneren Bildern oder Klängen, die andere nicht erleben: in einem Traum oder in einem inneren Dialog.

Marmor parium, Ashmolean Museum, Oxford: „am 17. Tage des Monats Thargelio, im 22. Jahr des Königs Menestheus von Athen“ (am 05.06.1209 v.u.Z.) „fiel Troia“. Bild: Ausstellungskatalog „Troia. Traum und Wirklichkeit“ Stuttgart 2001.

Vor 2.700 Jahren beschrieb Homer „Held:innen“ in entrückten Bewusstseins-zuständen. Sie sollten etwa 400 Jahre vor ihm gelebt haben.

Die Troja-Sagen Homers entfalteten enorme ideelle Wirkungen: sowohl hinsichtlich der gemeinsamen Handlungsfähigkeit griechischer Städte, als auch für das Selbstbild Roms. Historisch scheint Troja oder Ilios (um 1.200 v.u.Z.) eine Kleinstadt in der halbautonomen, entlegenen Provinz Wilusa des Hethiterreiches gewesen zu sein. Die Grundannahme des Epos, alle zersplitterten griechischen Stämme hätten sich vereint, und aus einem relativ nichtigen Anlass, ohne territoriale Interessen, einen zehnjährigen Krieg gegen eine Provinz des mächtigen Hatti-Reiches geführt, klingt nicht sehr wahrscheinlich. Eher gab es wohl (wie so oft) einen regional begrenzten Krieg, der dann durch Barden besungen wurde. Und den Homer dann zu einer monumentalen Geschichte ausgestaltete.

In Homers Epos rund um den Trojanischen Krieg, handeln unberechenbare, aggressive, launische, gemeingefährliche, mordende, selbstsüchtige „Wahn-Sinnige“. Gesteuert von dem Verlangen der jeweiligen „Götter“ in ihnen. Also von Assoziationen und Klangmustern, die ihre Gehirne aus nachgeburtlich entstandenen, kulturell erworbenen Bildern, Geschichten und Tabus erzeugten.

Angeregt wurden diese Menschen durch ungerichtete Lebenskraft („thymus“). Bei Homer besaß auch das aufgewühlte Meer „Thymus“. Der Begriff erinnert mich an das chinesische Schriftzeichen für ein ähnliches Konzept (Qi), das aufsteigenden Dampf über einem brodelnden Kochtopf symbolisiert.

Ein selbstständiges „Ich“, dass diese diffuse Antriebs-Kraft lenkt, kommt in der Ilias nicht vor. Dafür wimmelt es von Visionen oder Stimmen, die im Traum oder im Stress befehlen, was zu tun sei. Und die niemand anderes sehen oder hören konnte, als die Besessenen selbst.

Der Löwenmensch. Ulmer Muse. Ein Schamane, der vor 30.000 lebte? Mit klarer Intention. Ohne modern-auftrennendes Ich-Bewusstsein?

Die Willensäußerungen der Bronze-Zeit-Krieger:innen werden in der „Ilias“ als unreflektiert-eruptive Bewertung unmittelbarer Bedarfe oder Zwänge geschildert. Etwa so wie man es in einem Wolf-Rudel beobachten kann. Oder in einer Schimpansen-Gruppe mit einem wichtig-tuerisch-prahlenden Zampano.

Die abgeleiteten Handlungs-Intentionen (angeregt durch Lebensenergie oder auf Befehl einer Gottheit) konnten sich diametral (und qualvoll) widersprechen.

Ähnlich wie bei einem gut dressierten Jagdhund:

Das Tier wird (genetisch festgelegt) von Impulsen getrieben. Es hetzt aufgescheuchtem Wild nach. Zugleich wurden aber durch intensives Training die Befehle des Herrn verinnerlicht. Seine Gebote sind im Tier präsent, auch wenn sein Chef körperlich nicht vor ihm steht. Das übergeordnete Programm erzwingt Gehorsam: die Unterwerfung des UrTriebes. Der Vorstehhund erstarrt vor dem gestellten Beutetier, verbellt es, und ruft so seinen Beherrscher auf die richtige Fährte. Der darf dann das Wild töten, während der gute Hund nur Lob, und einen geringen Beuteanteil erhält. Eingebläute Verhaltensmuster dieser Art sind relativ stabil, solange der Hunger nicht zu groß ist.

Politische Karte um 1.200 v.u.Z (Quelle Wikipedia): Grüner Kreis: Troia/(W)Ilios in der Wilusa-Provinz des Hatti-Reiches. Rot: die von Assyrien um 700 v.u.Z. eroberte Provinz Kilikien (Laut R. Schrott „Homers Heimat“)

Noch vor zwei- bis dreitausend Jahren scheinen Bewusstseinszustände, die wir heute als „gespalten“ (oder „schizophren“) bezeichnen würden, „normal“ gewesen zu sein. So verlangte das Volk, dass der Heerführer (Agamemnon) seine geliebte Tochter Iphigenie opferte, weil ein fantasiertes Trugbild der Göttin Artemis es ihm befahl (der Göttin des Krieges und der Liebe).

„Der blutige Tod der Tochter muss vollzogen sein, das ganze Griechenheer verlangt es …“ (Schwab, Troja, Reklam 1986, S.35)

Es verwunderte niemanden, dass ein Held, von Stimmen beherrscht, halluzinierte und zu impulsiv-irrational-gewalttätigem Verhalten neigte. Und schließlich im Stress widerstreitender innerer Befehle in einen Lähmungszustand verfiel (psychiatrisch „Katatonie“).

„Achilles entbrannte, sein Herz ratschlagte unter seiner Männerbrust, ob er das Schwert ziehen und A. … auf der Stelle niederhauen sollte … Da stand plötzlich unsichtbar hinter ihm die Göttin Athene, enthüllte sich ihm allein, … und sprach … zücke das Schwert nicht …“ (Schwab, Troja, Reklam 1986, S.5)

Nicht etwa sein Verstand (in seinem Kopf) „ratschlagte“, sondern das „Herz“ (in seiner Brust). Dem Zentralnervensystem gelang es trotzdem, die Herrschaft an sich zu reißen: mit einer unwiderstehlichen Vision, oder einem kulturell-geprägten Über-Ich-Muster. Ein zwischen beiden abwägendes, sich-bewusstes „Ich“ kommt hier nicht vor.

Achilleus konnte sich später nur durch Auslösung einer unkontrollierbaren Aggressions- und Hass-Raserei aus seiner Lähmung befreien. Er kämpfte, raubte, tötete, vergewaltigte weiter bis in den Tod (mit einem Heldenbegräbnis im vierundzwanzigsten Gesang der Odyssee).

Alle in der Ilias-Sage geschilderten Persönlichkeiten waren in ähnlicher Weise wie Achilleus von „göttlichen“ Bildwesen beherrscht: Die Fürstin Helena redete nicht mit einer alten Sklavin, die vor ihr stand, sondern mit einer Göttin, von der die Sklavin gerade besessen sei. Und der Heerführer Hektor erkannte in dem Rat seines vermeintlichen Bruders sofort die Bösartigkeit einer anderen, feindlich gesinnten Göttin, die sich sicher gerade des Bruders bemächtigt habe.

Oft brabbelten oder keiften die „Göttinnen und Götter“ ziemlich unverständlich, chaotisch, launisch oder mehrdeutig in wirren Träumen. Die Wesen der parallelen, inneren Welten bedienten sich der (von ihnen besessenen) Menschen, wie Marionetten, um sich untereinander zu bekämpfen. Oft irrational, ohne erkennbaren Sinn, aus einer Laune heraus. Und vollkommen ungestört von einer übergeordneten Ethik, die bisher nicht erfunden worden war.

Die herrsch- und rachsüchtigen Wahnbilder, die im Traum, oder in heilloser Verwirrung erschienen, beruhten auf erworbenen Erinnerungen. Folglich war das, was sie verkündeten und befahlen, vergangenheitsbezogen. Innovation oder Kreativität hatten sie nicht zu bieten.

Möglicherweise war das der Grund, warum sie allmählich verschwanden. In den wirren Zeiten des Übergangs von der Bronze- auf die Eisenzeit bildeten sich aus furchtbaren, metzelnden, bestialischen Kriegen allmählich Staaten heraus. Menschen hatten in diesen großen Gemeinschaften vielleicht größere Überlebenschancen, wenn sie in gewissen Grenzen selbst dachten und schlaue, neue Wege ersinnen konnten. Zumindest galt das für ihre Führungspersönlichkeiten. Denn die konnten sich so flexibler an Veränderungs-Dynamiken anpassen. Und später durch eine einigende Ideologie auch großen Staatsgebilde zusammenhalten.

Nach der „Normalität von Besessenheit“ blitzte in der Menschheitsgeschichte eine relativ kurze Phase kreativen, rationalen Denkens auf.

In den vermutlich lange nach der Ilias verfassten Gesängen der Odyssee-Sage verdrängte der heimkehrende, egoistisch-tricksend-schlaue Pirat seine inneren Stimmen, die ihn weiterhin zu beherrschen suchten. Er begann, nach eigenen, innovativen Lösungen zu suchen, die ihm keine Götter mehr einflößten.

Emily Wilson: The Odyssee. Norton 2013

Nur 200 Jahre nach Homer versuchte dann Xenophanes die Bessenheits-Götter durch eine übergeordnete einheitliche Theologie und Ethik abzulösen:

Zitat: „Homer und Hesiod haben die Götter mit allem befrachtet, was bei Menschen übel genommen und getadelt wird: stehlen und ehebrechen und einander betrügen … wenn aber die Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten und mit diesen Händen malen könnten und Bildwerke schaffen wie Menschen, so würden die Pferde die Götter abbilden und malen in der Gestalt von Pferden, die Rinder mit der Figur von Rindern. Sie würden solche Statuen meißeln, die ihrer eigenen Körpergestalt entsprechen.“

Er erkannte, dass „kein Mensch jemals die Wahrheit kenne“. Denn: Selbst der Vollkommenste „weiß es selbst doch nicht; nur Raten ist alles und Meinung“.

Xenophanes eröffnete in Griechenland den Raum für zwei neue Möglichkeiten, um die Realität und das direkte Umfeld bewusst anders zu betrachten:

  • Selber-Denken
  • Handeln im Rahmen eines übergeordneten ethischen Prinzips

Die Phase des Selbst-Denkens und der kritischen Ethik hielt nicht lange an. Ab ~300 v.u.Z. wurde beides allmählich durch staatstragende Formen von „Religion oder Gesetz oder Wahrheit oder Esoterik“ abgelöst.

Historischer Hintergrund

Die Begebenheiten, die Homer schildert, sollen sich etwa vor 3.200 Jahren zugetragen haben. Der Erzähler (über den wenig bekannt ist) gab eine Geistesverfassung wieder, die ihm durch tradierte Gesänge überliefert worden war, oder die vielleicht auch seiner eigenen entsprach.

2008 analysierte der Literaturwissenschaftler Raoul Schrott historische Texte von Kriegsereignissen, die sich um 700 v.u.Z. in einer griechisch besiedelten Grenzregion zum Assyrerreich zugetragen haben sollen: in Kilikien (nordwestlich vom Libanon). Homer, oder die verschiedenen Personen, die am Epos mitschrieben, stammten möglicherweise aus dieser Region, und hätten dort als griechische Siedler einen über zehnjährigen Krieg miterlebt. Das persönlich genau Erinnerte wäre dann sehr detailreich in traditionelle Überlieferungen und Gesänge eingewoben worden. „Homer“ habe dabei keine exakte Geschichtsschreibung im Sinn gehabt, sondern habe ein literarisches Epos erschaffen wollen.

Raoul Schrott. Homers Heimat. Hanser 2008

Ob gewollt oder nicht, verhalf die Ilias (und später die Odyssee) zersplitterten Völkern, Stämmen, Piraten, Räubern, Kleinbauern, Städtern und Händlern zu einem Gefühl eines psychologisch-einheitlichen Kulturraums. Die Ideologie der Kultur-Gemeinschaft (untereinander heillos zerstrittenen Gruppen) ermöglichte es immerhin dreihundert Jahre später, dass ein Bund loser Stadtstaaten einem großen und besser strukturierten Staatsgebilde standhalten konnte: dem medisch-persischen Großreich. (Persisches Feuer)

Psychologischer Hintergrund

Die Archäologie der Psyche ist spekulativ.

Knochensplitter und DNA scheinen objektiv zu belegen, dass sich die Hardware des menschlichen Zentralnervensystems seit über 60.000 Jahren nicht mehr verändert hat. Entsprechend sind sich die unbewussten Anteile der Psyche, die während der Schwangerschaft geprägt werden, und die bei Geburt einigermaßen ausgereift sind, bei allen Mitgliedern der Gattung Mensch sehr ähnlich. Das betrifft z. B. die Ausprägung der menschentypischen Gefühle oder die besondere Qualität, intensive Bindungen und Beziehungen eingehen zu können.

Wir besitzen bei Geburt „zwei leere Festplatten“: unsere beiden Großhirnhemisphären. Sie müssen kulturell nicht nur mit Daten, sondern auch mit Bedeutung gefüllt werden. Ihre Hauptaufgabe ist die Befähigung zu Beziehungen und zu sinnvoller Bewegung. Viele Psycholog:innen behaupten, dass sich die Koordination dieser Hirnanteile in der Entwicklungsgeschichte erst langsam optimierte, und vor wenigen tausend Jahren noch sehr störungsanfällig war.

Die linke Großhirnhälfte kann z. B. das Wort „B-a-u-m“ prägen (und damit zugleich alles bezeichnen, was „Nicht-B-a-u-m“ ist). So kann „das eine“ manipuliert und „das andere“ ignoriert werden. Gleichzeitig und ohne Verzögerung erscheint aber in der parallelen Hirnhälften ein Bild einer Erscheinung in ihren Zusammenhängen: z. B. Pflanzen in ihrem Lebensraum Wald. Beide Sichtweisen der Realität gehören zusammen, und müssen, ohne sich zu stören, abgestimmt erfolgen. Das erfordert u.a. eine genaue Zeitgleichheit der Wahrnehmung, die über die Nerven-Verbindung beider Hirnhälften erfolgt (Corpus callosum).

Archäolog:innen der Psyche glauben, dass diese Verbindungen in der Entwicklung unseres Zentralorgans zunächst verzögert erfolgten, besonders in Angst, Informationsüberflutung oder im Stress. Das bedeutete, dass der manipulative Anteil eines Selbst („Schwert ziehen und niederhauen …“) plötzlich mit einem anderen unkoordinierten Befehl konfrontiert wurde („Schwert einstecken und gehorchen …“).

Oder noch drastischer:

  • „Leben und lieben!“
  • „Töten und sterben!“

Viele, wie der Psychologe Humphrey, vermuten, die Psyche der früher Künstler:innen vor 30.000 Jahren habe sich durch absolute (un-getrennte) Verbundenheit ausgezeichnet, mit der Situation, in der sie sich befanden. Erich Neumann skizzierte eine sehr langsame, allmähliche Bewusstwerdung des Menschen, die sich in Überlieferungen und Mythen widerspiegelt. Jacques Cauvin schlussfolgerte, Menschen hätten in der Zwischensteinzeit (Mesolithikum vor 12.000 Jahren) als Wildbeuter zuerst an heiligen Orten ihre Götter erschaffen, um dann dort zu siedeln und Ackerbau zu betreiben. Die Landwirtschaft sei also der Ideologie gefolgt und nicht umgekehrt. Um 1950 beschrieb Eric Dodds die „Irrationalität des griechischen Denkens“, und Julien Jaynes, behauptete 1979, davon angeregt, Menschen hätten bis vor wenigen tausend Jahren in einem Zustand gelebt, den wir heute in psychiatrischen Kliniken behandeln würden.

Viele der Abhandlungen der Psycho-Archäologie beziehen sich nicht nur auf Datenanalysen, sondern reflektieren und spekulieren (literarisch und poetisch), wie es auch gewesen sein könnte. Sie regen Weiterdenken an und werfen Fragen auf.

Und heute?

Seit 2010 versucht der Psychiater Ian McGilchrist einen Gesamtüberblick zu geben, über das zurzeit verfügbare empirisch-überprüfbare Wissen zu psychologischen Aspekten der Funktionen beider Großhirnhälften. Und beschreibt so auch das Wesen psychischer Störungen in modernen Zivilisationen:

  • Den Verlust der Fähigkeit, Systemdynamiken zu verstehen und entsprechend sinn-voll zu handeln
  • Die Überhöhung der Bedeutung fragmentierter, toter Einzelfakten, die zu vorschnellen Interventionen verleiten.

Stress, Angst und Verunsicherung fördern auch bei modernen Menschen das Abspulen automatisierter Verhaltensweisen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Aber heute funktioniert bei der Mehrheit der Menschen die Hemisphären-Koordination im Alltag zufriedenstellend genau.

Die alten, inneren Götter der Bronzezeit sind scheinbar verschwunden:
Sie wurden ins Unbewusste verdrängt.

Stattdessen quatschen heute elektronisch erzeugte Wesen in die sinnliche Wahrnehmung hinein. Damals wie heute ist es schwer, klare, eigene Gedanken zu fassen. Und die Versuche, eine übergeordnete Ethik wiederzubeleben, sind schwach. (siehe u.v.a. UN-Artenschutzkonferenz 2022).

Eines scheint gewiss:

Ohne neues Denken und Handeln werden sich der Gattung Mensch auf Dauer wenig Chancen bieten.

Mehr

Literatur

  • Cauvin. J: The Birth of the Gods and the Origins of Agriculture, Cambridge 1994
  • Dodds E, 1951: „Irrationalität des griechischen Denkens“. Comment 2018
  • Homer: Götterhymnen, Anaconda, 1974 (neu 2006)
  • Humphrey N: A History of the Mind: Evolution and the Birth of Consciousness. 1999
  • Jaynes J: Ursprung des Bewusstseins, rororo 1993, Original 1976
  • Massala N: Palestine, A 4.000 year history, ZED, 2018
  • McGilchrist M: The matter with Things. Perspektiva Press 2021 (Essenz-Comic 2011, Video 10/2022)
  • Schrott R: Homers Heimat. Hanser 2008
  • Schwab G: Die Sagen Troias, Reclam 1986
Letzte Aktualisierung: 18.08.2024