Ursprung des Dualismus
Inhalt
- Mensch und Natur
- Am Anfang war das Gute
- Zur Geschichte des Dualismus, TQJ 2022(1)14-21, dt , en
- Binärer Dualismus: AI und die digitale Weltformel
Mensch und Natur
„Alles ist ein Kreis. Er setzt sich fort. Er bewegt sich.“ JS Hallet, Schamanin der Seneca, „Der Große Geist hört und spricht. Er schreibt nicht.“ Häuptling Colonel Cobb, 1830, „Unsere Mutter ist die Erde.“ Häuptling Sitting Bull, 1866, „A very great vision is needed, And the man who has it must follow it as the eagle seeks the deepest blue of the sky. Hokahey! Today is a good day to die.“ Crazy Horse
Hunderttausende von Jahren galt das auch für moderne Menschen. Alles schien in gleichen Rhythmen miteinander verwoben zu sein. Das Dasein wandelte sich kreisförmig: Alles entstand und verging wieder. In ewiger, streng geregelter Wiederkehr.
Mit großer Wahrscheinlichkeit sah die Realität auch anders aus als heute: Denn Menschen, die heute noch in der Steinzeit leben, berichteten, dass sie den Raum immer noch so zu sehen, wie er in Wirklichkeit auch ist: krumm, logarithmisch verformt und subjektiv vom Beobachter gestaltet:
Wenn der Leopard vor mir steht, ist es ein großer Leopard, während ‚der da hinten am Waldrand‘ ein kleiner Leopard ist. Dan Everett, Die Sprache der Pirahá
Heute lernen Kinder schon im Krabbelalter, dass ihre Augen lügen müssen, weil ein Bauklötzchen immer gleich groß zu sein hat, egal ob es gerade in den Händen gehalten wird, oder „da drüben“ in der Schublade verborgen liegt. Ihre Weltsicht wird durch kulturelle Erziehung linear verformt, so als habe alles einen Anfang (Ursache oder Geburt) und ein Ende (Wirkung oder Tod), und als existierten die Dinge objektiv und unabhängig von dem, was persönlich wahrgenommen wird.
Vor zehntausend Jahren war die Welt Gegenwart.
Die Erinnerung der Nomaden an ihr letztes Stammeslager verblasste im Weiterziehen. Die Zukunft in weiter Ferne war ihnen wahrscheinlich unbedeutend, weil sie nicht unmittelbar beeinflusst werden konnte.
Sie verlief, sich stetig rhythmisch wandelnd, immer gleich und kehrte so scheinbar stets wieder in die Vergangenheit zurück. So als werde das Sterbende (im Winter) immer wieder (im Frühling) wiedergeboren.
Der Tod scheint in der Vorstellung des ewigen Kreislaufes nur als eine vorübergehende, wenn auch mit Schmerzen verbundene, Erscheinung zu sein, die für Krieger bedeutungslos zu sein hatte.
Am Anfang war „das Gute.“
Der Gegensatz zwischen „Gut und Böse“ ist wenige tausend Jahre alt. Zuerst musste „das Gute“ geboren werden, bevor etwas benannt werden konnte, das „nicht gut“ ist.
Pflanzen und Tiere sind weder gut noch böse.
Je nach Art kooperieren sie, oder sie fressen sich. Sie unterscheiden „nützlich oder schädlich“ für den Zellhaufen, der sie ausmacht. Sie befriedigen die Bedarfe ihres inneren Gewimmels. Sie wehren das sie umgebende Chaos ab.
Unsere Vettern, die Schimpansen sind schon weiter: Sie können andere erschlagen und Krieg führen. Ihre Zampanos herrschen so lange, bis ein stärkerer sie entthront oder umbringt. Wer ihrer Bedarfsbefriedigung nutzt, wird gönnerhaft belohnt, wer sich dagegen auflehnt, bekämpft und unterworfen.
Die ersten Menschen konstruierten übergeordnete Machtsysteme.
Ihre kulturell erworbenen Hirnprogramme spiegelten das Verhalten ihrer Sippen: allen Tabu, Rituale und Regelsysteme, die den Stamm zusammenhielten. Das immer wieder von außen Gehörte und Erlebte, beherrschte sie. Und nicht nur die affenartig äußeren Machtdemonstration.
Etwas in ihrem Inneren erschien ihnen als Vision, Stimme, Orakel, Erscheinung oder Traum, und lenkte sie. Im Zustand von Besessenheit wurden sie zu Opfer-Ritualen und Tabu-Gehorsam gezwungen: gegen direkte persönliche Interessen. Das, was wir heute Psychose nennen würden, nutzte damals dem Erhalt der eigenen Gruppe. Denn es half Frühmenschen, sich gewaltsam gegen andere zu behaupten, die von fremden Visionen gesteuert wurden. Ihre jeweiligen Trance-Geister waren ähnlich herrschsüchtig, verführerisch, gewalttätig, unberechenbar, geil, wirr, eifersüchtig und egoistisch. Besonders brutal gebärdeten sie sich, nachdem es den Herrschern versklavter Bauern gelungen war, die Nomaden ihres Umfeldes zu verdrängen.

Die Erfindung des Guten
Vor etwa 3.400 Jahren verbannte Amenophis IV die Herrschaft widerstreitender Stimmen in die Unterwelt seines Bewusstseins. Er definierte ein, der Besessenheit übergeordnetes, Prinzip des Guten, das alles durchstrahlte. Und stufte sich selbst zurück, vom lebenden Gott (Pharao) zu Echnaton, dem untergeordneten Diener. Sein „Gutes“ kannte kein Böses. Aber es war schwach. Nach seinem Tod wurde es durch eine Gegen-Revolution frustrierter Trance-Priester weggefegt, und der Name des Ketzers Amenophis IV wurde aus der Liste der Pharaonen gestrichen.
Auch Zarathustra, der zweite große Religionsstifter des Westens, erschuf zuerst das „Gute“. Das Prinzip eines alles durchdringenden, in sich ruhenden Gottes (Ahura Mazda). Allerdings gestand er den Menschen die Freiheit zu, sich aktiv für „Gutes Denken, Gutes Reden, Gutes Handeln“ zu entscheiden. Folglich musste es für ihn einen (vorübergehend) verwirrten Geist geben, der nicht gut sei. Seither ist sein Ahriman (das Zerstörerische, Teuflische, Verderbte, Bösartige) in der Welt. Es beherrscht bis heute alle Ablenkungs- und Kriegs-Mythen.
Im ersten Gottesstaat des Zarathustra spielte Ahriman allerdings neben dem „Guten“ eine untergeordnete Rolle. Das eindeutig Böse (als rassistischer oder ideologischer Begriff) war noch nicht erfunden worden. Tatsächlich gelang es so einige Jahrhundert lang einen multi-nationalen Vielvölkerstaat in relativem innerem Frieden zusammenzuhalten (Holland 2009).
Und heute?
Wenn Zerstörerisches auf Zerstörerisches trifft, entsteht nichts Gutes. Nur schreckliche Schäden und Wunden, die bestenfalls Pausen erzwingen, beim gegenseitigen Morden. In Kämpfen gewinnt der Stärkere. Vorübergehend.
In der Evolution setzen sich langfristig die durch, die sich in friedliche Ökosysteme integrieren. „Das Gute“ ist dem „dem Bösen“ (mit der Zeit) überlegen.
Deshalb reicht es nicht, Böses abzuwehren: Wir müssen Gutes entwickeln.
Zur Geschichte des Dualismus
Nach Hippolytus von Rom (gestorben um 235) soll Zarathustra Pythagoras gesagt haben, dass „die Ursachen aller seienden Dinge von Anbeginn an zwei sind, nämlich Vater und Mutter. Und der Vater ist das Licht und die Mutter die Dunkelheit: Und die Teile des Lichts sind die Wärme, die Trockenheit, das Leichte und Schnelle, und die der Dunkelheit das Kalte, Feuchte, Schwere und Langsame. Und aus diesen, aus Mann und Frau, setzt sich der gesamte Kosmos zusammen.“ (Hippolytus: Refutatio contra omnes haereses, zitiert aus Paul Wendland: Refutatio Omnium Haeresium,1897, Nachdruck: de Gruyter Verlag
Publikation
Jaeger H: Zur Geschichte des Dualismus und der Phasen, TQJ 2022 1:14-21
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Bilder zu den Urformen der Psyche
Reptilien konstruieren einen Unterschied zwischen „sich“ und anderem. Sie beurteilen, ob etwas nützlich oder gefährlich für „sie“ sei, könnten so Rivalen verdrängen, Beute machen und sich gegen Feinde verteidigen. Aber sie sind eingebettet in einen Gesamtkontext, von dem sie bedingungslos abhängen, und den sie nicht beeinflussen können.
Säugetiere erschaffen sich seit 50 Millionen Jahren zusätzlich zu ihrer individuellen noch eine Gruppenidentität, die bedeutsamer ist als das einzelne „Sein“.

Das Aufkeimen der Gegensätze bei Menschen
Mit der Früh-Menschen vor wenigen Millionen Jahren gewannen die sozialen Zusammenhänge noch weiter an Bedeutung. Die ersten Horden des Homo sapiens (vor vielleicht 60.000 Jahren) waren vermutlich nicht weise, aber sie verhielten sich ausgesprochen sozial. Sie trennten allmählich das große, ungeteilten Ganze auf. In Spannungspole, die für Dynamik sorgen.

Polarisierung des weiblichen und des männlichen Prinzips: Der erste Dynamo menschlicher Entwicklung. Eros bedeutet viel „Arbeit & Risiko“ und nur relativ wenig Sex (gegenüber im Vergleich Primaten). Stattdessen viel Sehnsucht (Himeros) & Verlangen (Pothos). Bilder: links und Mitte: Gobustan, Aserbaidjan, rechts: Qala, Aserbaidjan, Jäger 2019

Abbild der Psyche früher Menschen. Der Spannungsbogen zwischen Mann und Frau eingebettet in das ungeteilte Ganze. Bilder: Qala, Aserbaidjan, Fotos Jäger 2019

Frauen, Männer und (links) ein Schamane als Versöhner zwischen sichtbaren und unsichtbaren Welten. Bilder: Jäger 2019, Gobustan, Aserbaidjan, eine heilige Stätte von Nomaden des Mesolithikum (~15.000 Jahre). Eine ähnliche Fundstätte in der Türkei ist Göbekli Tepe

Prähistorische Musik: Naturgeräusche modulieren, um sich so gestaltend zu verbinden. Bilder: Klangsteine (vulkanischen Ursprungs mit inneren Lufteinschlüssen). Links: Gobustan, Aserbaidjan, rechts: Qala, Aserbaidjan, Jäger 2019. Weitere Bilder früher Instrumente: Knochenflöten, Harfen, „Neandertal-Musik“

Höhlenbilder und frühe Felszeichnungen spiegeln eine den Menschen umgebende, dynamisch veränderliche Realität. Vor 10.000 Jahren erscheinen dann abstrakte Linien und Muster. Spätestens ab dann benötigten Menschen professionelle Vermittler zwischen den Welten des Absoluten, die Alltags-Sinnen nicht zugänglich sind, und dem, was in der Gegenwart erfahren wird. Schaman:innen konnten in Besessenheits-Trance fallen, was Menschen, die begannen eigene Entscheidungen zu treffen, nicht mehr so gut gelang. Bilder abstrakter Muster: links: Gobustan, Aserbaidjan, rechts: Felsgravur auf La Palma, Bild-Quelle Wikipedia

Waren Psychosen und Autismus früher normal?
Die Analyse der Höhlenzeichnungen in Europa und auch in Südafrika lassen Psychologen (wie u.a. Nicolas Humphrey) vermuten, dass sich die Künstler in einem psychischen Ausnahmezustand befanden. Vielleicht war das, was wir heute Psychose nennen, damals der Normalzustand.
Das Gehirn von Homo sapiens hat sich zwar seit mehr als 50.000 Jahren nicht mehr anatomisch verändert, aber die Art, wie es genutzt wird, muss rasante Wandlungen durchlaufen haben, die zu psychischen Zuständen führten, die uns heute merkwürdig erscheinen.
Hirnforscher betonen den stark symbolischen Charakter früher Kunst (u. a. Ramachandran 1999)
Die „Venus von Hohefels“ war nach Ramachandran nicht etwa ein ungeschickt-stümperhafter Versuch, eine Frau realistisch abzubilden. Sondern umgekehrt eine genial-groteske Übertreibung von Signalen, die bei Betrachtung oder der Berührung in einem Jäger ein bestimmtes (heldenhaftes) Verhalten anregten: Sie verhalfen zur Ausschüttung von Überträgerstoffen im Gehirn (Dopamin u. a.) Ähnlich wie der Zaubertrank des Druiden, der den Kriegern die Illusion übernatürlicher Kräfte vermittelte.
Die Kunst spiegele so bestimmte Geisteszustände, was auch die Untersuchungen des Archäologen David Lewis-Williams zu bestätigen scheint. Er fand dort deutliche Ähnlichkeiten zwischen den 30.000 Jahre älteren Steinzeit-Picassos in Südfrankreich und erst zweihundert Jahre alten Höhlenmalereien der San In Südafrika (Video): In den in Raum und Zeit weit auseinander liegenden Kunstzeugnissen schienen visionäre Verzerrungen und stilisierte Muster für psychotische Zustände sprechen.
Bis heute suchen Schamanen Zustände veränderter Realitätswahrnehmung auf, um in Welten einzutauchen, in denen sich das Alltags-Bewusstsein verliert. Sie versetzten sich durch Rituale, Tänze oder Halluzinogene in Trancezustände und irrten dann durch das unsichtbare Paralleluniversum. Anschließend versuchen sie das, was sie dort erlebten, durch künstlerisches Schaffen, Tänze, Gesänge oder prophetische Erzählungen wiederzugeben.


Mehr zu Kunst und Trance
- Clottes, Jean (2016): What Is Paleolithic Art? Cave Paintings and the Dawn of Human Creativity. Univ of Chicago Press. http://gbv.eblib.com/patron/FullRecord.aspx?p=4437849.
- Jaynes J: Der Ursprung das Bewusstsein, rororo 1993, pdf-download, Video-Vortrag
- Williams G: What is it like to be nonconscious? A defense of J. Jaynes. Phenom Cogn Sci 2011, 10:217-239
- Bräuer K: Julian Jaynes und Bewusstsein, philosophische Aspekte der modernen Physik, Uni Tübingen 2014, pdf-download
- McGilchirst: The Master and his Emissary (2010), The Divided Brain and the Search for Meaning: Why We Are So Unhappy (2012)
Die Philosophie des ungeteilten Kreises

Das Symbol der Schlange, die sich selbst frisst. Ouroboros, das Bild des ewigen Werdens und Vergehens in einem großen Ganzen. Der Mensch als Teil göttlich durchwebter Natur. Bild: Wikipedia. Zitat: „Erste Darstellung des Ouroboros auf dem zweiten Sarkophagschrein des Tutanchamun („Änigmatisches Unterweltsbuch“) Ägyptisches Museum Kairo: Material aus dem Grabschatz des Königs Tutanchamun, 18. Dynastie, Neues Reich

Der sich selbst fressende Drache. Das ewige (bewegte oder unbewegte) Universum, das ‚Alles‘ (oder auch ‚Nichts‘) enthält. Links: Neumann 1949 (neu Patmos 2004), rechts: Bild aus Wikipedia von Theodoros Pelecanos aus Synosius, einem alchemistischen Traktat um 1648.

Die ewige Flamme
Südlich des Kaukasus tritt Erdgas aus Felsspalten und brennt so seit Tausenden Jahren. Bild rechts: Yanar Dag (brennender Berg), Aserbaidschan, Jäger 2019. Links. Buta: Feuer-Symbol ewig verströmender Energie. Quelle: Buta-Film 2011


Buta im Alltag. Links: Flame-Tour in Baku. Mitte: Alltagskleidung. Rechts: Teppich aus Shirvan, Aserbaidschan. Fotos: Jäger 2019

Die Schlange teilt den Kreis

Die Ouroboros-Schlange hört auf, sich selbst zu fressen. Sie kriecht durch den Kreis nach oben und teilt ihn in zwei gleiche Hälften. In Aserbaidschan von der Historikerin, die das Objekt in den Händen hält, „Todes-Symbol“ genannt: Der ewige Kreislauf wurde unterbrochen. Ab jetzt gibt es „Anfang & Ende“, „Geburt & Tod“. Das Objekt stammt aus der frühen Eisenzeit Aserbaidschans. Nationales Geschichtsmuseum in Baku. Vielleicht 2.500-3.000 Jahre alt. Bilder Jäger 2019

Ähnlichkeiten und mögliche Beeinflussungen entlang der Seidenstraße: Links außen: Der ewige leere Kreis, der alles umfasst (Ouroboros, die Schlange, die sich selbst frisst, chinesisch Wuji, das umfassende Nichts). Links innen: Die Schlange, die südlich des Kaukasus den Kreis zerteilte und so die Linearität von Geburt zu Tod einleitete. 3. zwei aneinandergelegte Buta-Flammen. 4. Taiji: der höchste Gegensatz maximaler Widersprüche, die ohne inneren Energieverschleiß rundlaufen, weil sie durch ein großes Ganzes zusammengehalten werden. Das Symbol perfekter, reibungsfreier, dynamischer Dualität.
Drachen töten

Das alte Herrschaftskonzept der starken jungen Frau und des männlichen Helden zerfiel mit der Entstehung bäuerlicher Fron und der Verstädterung. Links: vor 4.300 Jahren schenkte Anubani von Lulubi (Persien: Zagros, Kermānschāh) noch der Kriegs-und-Liebes-Göttin Inanna Gefangene. Allerdings besiegte ihn wenig später Naram Sin (der „Weltherrscher von Akkad“) (Stele rechts). Inanna verschwand in die Unterwelt, und Naram Sim huldigte nun dem männlichen Gott Enil. Bilder: Wikipedia. Das Gilgamesch-Epos erzählt von dieser frühen Bewusstseins-Revolution. Wenige hundert Jahre später wird sie dann in Mesopotamien mit der Vernichtung des weiblichen Tiamet-Drachen durch den männlichen Gott Marduk abgeschlossen. Seither wurden in vielen späteren Kulturen mythischen Schlangen und mythologische Drachen getötet (und so die alten Symbole der nomadischen Herrschaftsprinzipen starker Frauen und Männer beseitigt). Picasso beschrieb diesen bis heute brutal geführten Krieg in einer Stierkampf-Serie. Sie huldigt der Ermordung des alten Eros-Machos der Jäger und Sammler (symbolisiert als gewaltiger Stier) durch den modernen Reiter, der nun die Natur beherrscht. Sein Sieg wird bis heute gefeiert. (Picassos obsession with bullfighting. Guardian 2017). Statt Erotik und zirkulärer Weltsicht herrscht nun lineare, zielorientierte Macht.
Dualismus in China

In China durfte der Drache im Himmel überleben. Als Mutter, die den Sohn des Himmels, den Kaiser, beschützt. Ausschnitt einer Nachbildung des Throns des Qin Shi Huang Di. (Foto Jäger, Ausstellung „Die Soldaten des Kaisers“, Bremen 2018)

Die Erfindung der binären Logik aus der ursprünglichen dualen Teilung (in Tag-Nacht, Plus-Minus, Schwarz-Weiß …): Aus der weiteren Aufteilung in vier Varianten (stark-hell, schwach-hell, stark-dunkel, schwach-dunkel) ergeben sich acht Trigramme (Bagua). Aus deren Zweier-Kombination werden 64 Worte gebildet. Ähnlich, wie bei der DNA, die ein Alphabet aus vier Buchstaben besitzt (die Nuklein Basen G, U, A, C). Aus ihnen entstehen ebenfalls 64 Worte. Grafik: Jäger 2015
Dualismus im Westen

Im medisch-persischen Vielvölkerstaat wurde der monotheistische Dualismus vor 2.600 Jahren durch Kyros II und Dareius den I. zur Staatsreligion erhoben. Einige Hundert Jahre zuvor hatte Zarathustra den Kampf des Guten (des Einheitsgottes Ahura Mazda) gegen das Böse (den Teufel Ahriman) beschworen. Der „Eine Gott“ werde zwar siegen, und so den Dualismus einst wieder auflösen, aber bis dahin müsse sich der Mensch aktiv (für das Gute) entscheiden. Nach dieser Weltsicht galt Feuer als Symbol ewig fließender (göttlicher) Energie, das die Elemente, aus denen die Welt bestehe, durchdringe und ineinander verwandele. Zarathustrische Tempel wurden viereckig gebaut und bargen in ihrer Mitte eine ewige Flamme: Ateshgar, Aserbaidschan (erbaut über einer natürlich brennenden Erdgasquelle, Bilder: Jäger 2019). In Ateshgar behauptet man heute, die Kanten des Tempels symbolisierten die vier „griechischen“ Elemente „Feuer, Wasser, Luft, Erde“ und die Flamme die „Quintessenz“ (die Wandlung). Allerdings ist die Lehre des Zarathustra einige hundert Jahre älter als die „griechische Elementenlehre“, aus der später das erste Medizinmodell entstand.

Teppich mit Bildern der großen Herrscher des medisch-persichen, monotheistischen Vielvölkerstaates, der den Dualismus von Gut und Böse zur Staatsreligion erhob. Oben unter dem Zeichen des Zoroastrismus (dem erleuchteten Menschen, dessen gute Gedanken, Taten und Handlungen ihm Flügel verleihen) sitzt Kyros II der erste zoroastrische Herrscher. Er ist für den Westen deshalb von Bedeutung, weil es ohne ihn die drei, auf dem Alten Testament fußenden Religionen (so) nicht gäbe. Denn er war als von Gott gesandter Heilsbringer von der jüdischen Elite im babylonischen Exil empfangen worden, und ermöglichte nicht nur deren Rückkehr. Sondern er schützte auch das Wachstum und die Ausreifung des jüdischen Monotheismus, dessen Wurzeln auf die Herrschaft des Pharao Amenophis IV – Echnaton zurückreichen. Der Gott Zarathustras war allerdings nicht parteiisch. Er glich eher einem energetischen Fluss, der alles durchdringt. Verwandt der Vorstellung, die Baruch de Spinoza im 17. Jh.. formulierte: „Es gibt nur eine, alle Determination und Negation von sich ausschließende, unendliche Substanz, welche Gott genannt wird und das ein Sein in allem Dasein ist.“ Ateshgar, Aserbaidschan (Jäger 2019)
Die Philosophie des Zarathustra blieb nach der Invasion Alexanders in einem kleinen Landesteil des neuen Großreiches unberührt. In den übrigen eroberten Regionen wurde stattdessen die Religion der Gottesmutter und des Heilands (Soter) propagiert. Der Herrscher des Südkaukasus, Atropates, ein General der medisch-persischen Armee, konnte durch geschicktes Verhandeln eine Autonomie für sein Land erreichen. Hier blieb der Monotheismus des Zarathustra weitgehend intakt, was Jahrhunderte später seine Renaissance unter den Sassaniden ermöglichte. Bild: Artopates trifft Alexander den Großen. National Museum of History of Azerbaijan.

Zoroastrisch dualistische Ideen prägen alle drei anderen großen Weltreligionen (Gut-Böse, Himmel-Hölle, Gott-Teufel). Aber auch andere östliche Interpretationen des Dualismus sickerten in den Westen. Das ist leicht verständlich, angesichts der wechselnden Herrschaft über den Südkaukasus und der intensiven Handelswege von und nach Indien und China. Die Sassaniden dehnten ihren Herrschaftsbereich im 6. Jh. (in Konkurrenz zu Ost-Rom) bis nach Jerusalem aus. Die zoroastrische Religions-Philosophie war kurz vor der Ausbreitung des Islam im östlichen Mittelmeerraum und auf der arabischen Halbinsel sehr präsent. Bilder: links: Felsinschrift eines römischen Legionärs, Gobustan, Aserbaidjan. Rechts: Schildwappen der weströmischen Infanterieeinheit armigeri defensores seniores (um 430 n. Chr.) mit dem vermutlich aus China stammenden Yin-Yang-Symbol.

In der chinesischen Philosophie vollzog sich die Wandlung der großen Gegensätze im Rahmen eines form- und namenlosen Ganzen. Zarathustra sah (ähnlich wie Heraklit) alle Existenz durchflutet von einer unaufhörlich fließenden Energie. In Europa dagegen zerbrach der Dualismus in kategorische Gegensätze. Die Erschaffung eines trennenden, parteiischen Gottes belohnte Gläubige und bestrafte Ungläubige (Bild links: Jan Assmann, Totale Religion. Wien 2016). Aristoteles erfand ergänzend die begriffliche Wahrheit, das sichere und beweisbare Wissen (Episteme). Bis dahin war die europäische Philosophie „zu gut um wahr zu sein“ (Zitat: Karl Popper, Die Welt des Parmenides, 1998). Seither ist das westliche Weltbild von starken Gegensätzen geprägt, die sich ausschließen: wahr-unwahr, richtig-falsch, gut-böse, materiell-geistig, …. Erstaunlicherweise, denn der technische Fortschritt wäre undenkbar, ohne eine Physik, die seit 100 Jahren ungeteilte Systemzusammenhänge und die Subjektivität von Beobachtungen wahrnimmt.
Eine Aussage kann nicht nur wahr, falsch oder sinnlos sein, sondern auch imaginär.
Laws of Form, George Spencer Brown (1923–2016).
Binärer Dualismus (AI & digitale Weltformel)

„Alle Lebensbereiche werden derzeit einer umfassenden Digitalisierung unterzogen. Alles, was digitalisierbar ist, kommt nicht mehr als Einzelobjekt vor, sondern lässt sich beliebig vervielfältigen. Die analoge Wirklichkeit verkommt zur Schwundform, zur Schlacke ihrer selbst.“ Burkhardt, Höfer 2015
Der Einfluss der digitalen Erscheinungsformen wird übermächtig.
Die binäre Computer-Logik von „Null und Eins“ drängt in alle Lebensbereiche. Immer mehr von dem, was ist, kann kopiert, ausgedruckt und so schier endlos vermehrt werden. Als typisch menschlich kann bald nur noch das gelten, was bisher nicht digitalisiert wurde: u. a. kreative Kunst, Bewegung und die Beschäftigung mit dem, was noch nicht ist, und deshalb in seiner in der Zukunft gelegenen Einmaligkeit auch weiterhin nicht vervielfältigt werden konnte.
Martin Burkhardt und Dirk Höfer zeichnen 2015 ein düsteres Bild unserer Welt. Alles, was ist, scheint sich vollständig einer digitalen Logik unterworfen zu haben, die von dem Begründer der Informationstechnologie George Boole (1815-64) ersonnen wurde.
Seine Zahlenwelt bestand nur aus den Elementen 0 und 1. Entweder sei ein Zustand „wahr“ oder „falsch“. Entweder „fließe“ Strom durch einen Schalter oder er „fließe nicht“. Solche Zustände können miteinander durch „und“, „oder“ oder „ist nicht“ verknüpft werden. Wenn sich einer der Schaltkreise gerade im Zustand „an“ befinde, könne er nicht „aus“ sein. Das besondere dabei: Jedes der beiden Elemente ergibt, mit sich selbst mal genommen, „sich selbst“:
- 0 x 0 = 0 und 1 x 1 = 1.
- Oder: X = X . X = X . X . X = X . X . X . X = X . X . X . X . X = …. = X
- Oder allgemeiner: X = Xn – Die „digitale Weltformel“, wie Burkhardt und Höfer sie nennen.
Bald seien, so fürchten Burkhardt und Höfer, alle Gedanken und jede Kommunikation endlos kopiert und damit entwertet. Der Prozess des Kopierens auf einem Zeitstrahl führe, wobei auch immer, zu einer zunächst linearen und dann exponentiellen Vermehrung immer gleicher Erscheinungen. Es beginne noch langsam, bis dann alles „mit dem Gleichen“ überflutet sei:
Etwa so wie dem Import zweier Kaninchen nach Australien bald vier und dann sechzehn und dann 256 folgten, bis dann Millionen von ihnen den Kontinent zu verwüsten drohten.
Am Ende aller Entwicklungen, die der „Booleschen Formel“ folgen, steht zwangsläufig der Zusammenbruch. Und so werden die digital aufgetriebenen Luftballons, die alles schonungslos normieren und bis zur absoluten Sinnfreiheit multiplizieren, früher oder später von selbst platzen und sich auslöschen.
Aber können wir so lange warten? Und wenn nicht: Wer kann und soll diese „Null & Eins“- Blasen, die in allen gesellschaftlichen, sozialen und technischen Bereichen blubbern und wachsen, regulieren? Und wie? (Helbing 2015)
Bleibt uns angesichts des Wahnsinns, der alles Menschliche zu zerstören droht, vielleicht nur die stille Verzweiflung?
Burkhardts und Höfers Analyse der drohenden digitalen Apokalypse hat (mindestens) vier kleine Lücken. Vielleicht müssen wir deshalb doch nicht alle Hoffnung fahren lassen:
(1) Die Verkörperung der Informationsverarbeitung
Menschen bestehen aus Körpern, die sich in einem Umfeld befinden. Und Körper verarbeiten Informationen ganz anders als Computer. Sie kümmern sich nicht um die Boole’schen Algebra. Denn ihre Sinnesinformationen sind begrenzt, und die Zahl der Möglichkeiten und Risiken, wie sich die Zukunft entwickeln könnte, dehnt sich ins Unendliche. Daher „rechnen“ lebende Organismen lieber mit der Wahrscheinlichkeitslogik, die (etwa zeitgleich mit Boole) der englische Pfarrer Baye entdeckt hatte (s.u.).
Menschen wirken aber gegenüber Computern und Robotern lächerlich langsam, wenn sie etwas tun, was diese viel besser können: Boole’sche Informationsverarbeitung eben.
Körper, insbesondere der des Menschen mit seinem Hochleistungs-Gehirn, können dagegen alle digitalen Informationen, inklusive der Möglichkeiten dessen, was sein könnte, gleichzeitig (!) verarbeiten und schlagartig (!) zu einer Entscheidung kommen. Das ist möglich, weil Informationen nicht linear über In- und Output verarbeitet werden.
Stattdessen bilden sich in dem Superorganismus Mensch über vielen Rückkopplungsschleifen aus intensiv miteinander verbundenen Nerven-, Bewegungs- und Drüsenzellen, Bakterien und Viren sehr komplexe Schwingungsmuster. Die Zahl der Zustände, die dadurch entstehen kann, ist grenzenlos, und mit rationalen Zahlen nicht beschreibbar. Dennoch können sie, gleichzeitig erfasst, zu einer spontanen Handlungsentscheidung führen.
Bei einem Roboter laufen Befehle von einem Zentral-Computer zu einem Bewegungselement und von einem Fühl-Element zum Zentralcomputer: eins nach dem anderen – entsetzlich langsam. Menschen dagegen können Beziehungsschleifen aktivieren, bei denen alle Elemente gleichzeitig aktiv sind und die nur moduliert werden müssen, um gleichzeitig alles zu verändern.
Das Geniale am menschlichen Geist, ist deshalb, im Gegensatz zu jedem Computer, seine „Verkörperung“. Ein Computer könnte jeden Experten besiegen, der versucht, „innere Datenbanken“ abzurufen. Er scheiterte aber an der Bewegungskompetenz, die etwa einen Tennisspieler ausmacht. (Wolpert 2015).
Zusätzlich einmalig ist die menschliche Kommunikationskompetenz, die es ermöglicht, zwei getrennte Körper (ohne Berührung) gemeinsam über gespiegelte Gefühle abzustimmen. Zum Beispiel, wenn sich zwei Wissenschaftler beglückt anstrahlen, weil sie zeitgleich einen genialen Gedanken erfasst haben, den niemand außer ihnen verstehen kann.
(2) Mathematik des Lebens
„Engel fliegen in Spiralen.
Nur der Teufel fliegt geradeaus.“
Hildegard von Bingen

Die Natur rechnet nicht mit „Plus und Minus“. Lineare Entwicklungen kommen in der Evolution der Natur nur vorübergehend und in Ausnahmen vor. Ausbrüche unbegrenzter Vermehrung führen relativ rasch zu einer Selbstvernichtung.
Stattdessen gestaltet sich natürliche Entwicklung in Spiralen. Das gleiche kehrt scheinbar, in einer anderen Qualität, an seinen Ursprung zurück. Die Natur „rechnet“ nicht mit „wahr“ oder „falsch“, sondern u.a. mit Pi (π), einer Zahl, die kein Computer bestimmen kann.
Pi (π) beschreibt das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser. Das ergibt ungefähr 3,1415. Ein ägyptischer Schreiber um 1.650 v.u.Z. soll in dem sogenannten ‚Rhind Papyrus‘ das Verhältnis schon fast korrekt beschrieben haben. Seiner Berechnung nach entsprach die Kreisfläche einem Quadrat mit einer Grundlinie von 8⁄9 des Kreisdurchmessers. Damit traf er das Verhältnis, das durch Pi (π) beschrieben wird, schon ziemlich gut: 3,160.
Bis heute kann kein Rechner Pi (π) auf die letzte Kommastelle ausrechnen, sondern sich der Zahl nur annähern. Pi (π) wird deshalb in der Mathematik eine „Transzendente Zahl“ genannt, denn es gibt keine Menge rationaler Zahlen, die auf Pi (π) zurückgeführt werden könnte. Das uralte Problem der Quadratur des Kreises ist deshalb nicht lösbar. Das „Pi (π) der Ingenieure“ wäre „ungefähr drei“ und reicht so für Maschine meist völlig aus. Das „Pi (π) der Physiker“, die bei ihren Beobachtungen des allerkleinsten und unendlich großen, wesentlich genauer rechnen müssen, ist schon viel genauer: „3.1415927 plus oder minus 0,000000005“
Aber auch das ist nicht das exakte Pi (π) der natürlichen Rundungen, Spiralen und Kurven, die um uns herum wachsen, blühen und gedeihen. Die wuchernde Digitalisierung der toten Schaltkreise, die zu dem leblosen Haufen unzähliger Kopien (X = Xn) führt, passt nicht zur Mathematik des Lebens (u. a. mit Pi (π), etwa dem der Pflanzen. Sie sind unbewegliche Lebewesen, die ohne Organe und definierte Schaltkreise existieren, und dennoch riesige informationsverarbeitende Netzwerke bilden, die, ganz anders als Rechner, in einer Art von Schwarmintelligenz Überlebensstrategien entwickeln (Mancuso 2015).
Die mathematische Beschreibung der Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten solcher Systeme, die sich dynamisch entwickeln und verändern, ist zwangsläufig subjektiv. Denn die, die sie analysieren, sind ebenfalls Teile von Systemen, die das Beobachtete beeinflussen. Und Systeme, die ausschließlich aus sich selbst heraus erklärt werden, kann es nicht geben (Gödel 1931).
(3) Die Chinesische Zahlenlogik des Werdens und Vergehens
Die europäische Zahlenlogik begann erst vor wenigen hundert Jahren, führte im 19. Jahrhundert zur heute scheinbar alles beherrschenden Weltformel X = Xn. Damals stand die industrielle Revolution bevor, die nach der Lösung mechanischer Probleme verlangte.
Der große antike Mathematiker, Pythagoras, war damals schon lange vergessen. Er sah in seinen Zahlen Klang, Schwingung, Harmonie und Rhythmus. Alles Erscheinungen, die in den aufstrebenden Naturwissenschaften den Mystikern, Künstlern und Priestern überlassen wurden. Pythagoras hielt die Zahl für den Ausdruck des Wesens aller Dinge, für ihre Qualität. Die neue Generation der Ingenieure dagegen war mehr an der Vermehrung und Verbesserung der Dinge interessiert: an der Quantität.
In China war man der westlichen Mathematik bis ins 14. Jahrhundert unserer Zeitrechnung deutlich voraus. Dort rechnete man bereits vor dreitausend Jahren mit Dezimalzahlen und auch mit Näherungswerten von Pi (π). Vor allem aber hatte man dort die Zahl Null entdeckt, die erst langsam über islamische Länder im Mittelalter nach Europa einsickerte. Die Null ist ein leerer Kreis, der absolut nichts enthält, und doch zugleich alles, was je entstehen kann.
„Die Welt ist nicht nur alles, was der Fall ist, sondern auch alles, was der Fall sein kann.“
Anton Zeilinger
Der chinesische leere Kreis (Wuji) gleicht der „Raumdimension aller Möglichkeiten“, dem, was sich Physiker als den Zustand vorstellen, der unmittelbar vor dem Urknall geherrscht haben soll. Auch bei den Sekunden nach dem Urknall sind die alte chinesische und die moderne, physikalische Weltsicht noch deckungsgleich: Es seien entgegengesetzt wirbelnde Teilchen oder Wellen entstanden, deren Summe insgesamt null ergeben habe. Die antiken Chinesen blieben bei dieser harmonischen Vorstellung. Während die Quantenphysiker bis heute zu erklären versuchen, warum es in unserem Universum mehr Teilchen statt Anti-Teilchen herumfliegen. Also: warum es uns überhaupt gibt.
Die Chinesen jedenfalls entwickelten 3.000 Jahre vor Boole eine Mathematik, die seiner gleicht, aber nicht linear verläuft, sondern kreis- oder genauer spiralförmig. Diese Logik liegt dem alten Orakel- und späteren philosophischen Grundlagenbuch „I Ging“ (Yijing) zugrunde (s.u.). Auch hier gibt es absolute Gegensätze als „hell-dunkel“, „schwarz-weiß“, „weiblich-männlich“. Aber sie sind nicht wahr oder falsch, weil „das eine“ immer den Keim „des anderen“ in sich trägt. Wenn das „helle“ schwach ist, wird es dynamisch wachsen. Und wenn es am stärksten scheint, steht sein Wechsel in das „dunkle“ unmittelbar bevor.
Die Zahlen des I Ging beschreiben ein unablässige Dynamik der Veränderung und der Wandlung. Der Zufall spielt darin eine wichtige Rolle. Er lenkt die Bewegung in neue Bahnen – ohne versteckte göttliche oder andere Ursachen.
Aus der kreisenden Dualität der Gegensätze können, wie bei Fotos eines Bewegungsablaufes) Zustände durch die Kombination einfacher Linien symbolisiert werden. Bewusst vereinfachend sind es vier („Stark hell“, „Schwach hell“, „Schwach dunkel“, „Stark dunkel“). Ihre Kombination ergibt acht Dreier-Silben, die zu 64 Wörtern (Sechser-Kombinationen) zusammengesetzt werden können. Diese Art der Logik kommt der natürlichen Mathematik deutlich näher als die lineare Boole’sche Logik: Mit den Silben und Worten des I Ging der kann der genetische Code des Menschen geschrieben werden.

Die alten Chinesen waren an alltagspraktischen Konsequenzen interessiert. Der flache Kreis, mit seiner im inneren wirbelnden Dynamik, galt ihnen nur als Moment-Aufnahme oder als nützliche Vorstellung einer Welt, die sich in Wirklichkeit spiral- oder kugelförmig ausdehnen sollte. Ihre Philosophien kommen daher dem sehr nahe, was Phythagoras vorschwebte:
- Fleißig sein und höchste Harmonie der Gegensätze anstreben. (Konfuzianismus: Taiji)
- Nichts finden außer dem leeren Kreis (Cha‘an (jap. Zen): Wuji)
- Nicht intervenieren, sondern das Natürliche sich entwickeln lassen (Dao: der Übergang)
(4) Die Brown’sche Algebra
Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind in der Form, identisch gleich. Daher ist, dass alles und nichts formal gleich sind, leicht zu beweisen. G.S. Brown
George Spencer Brown begründete 1969 eine neue Art mathematisch-philosophischen Denkens, die in gewisser Weise an die Boole’sche Logik und auch an die Dynamik der chinesischen Dualität erinnert, sich aber zugleich von beiden deutlich unterscheidet.

Er geht aus von einem Un-Unterschiedenem, einem Namenlosen, das nicht einmal leer ist, weil es absolut nichts enthält. In diesem Nichts wird eine Unterscheidung getroffen, und damit zwei Zustände geschaffen, ein „marked state“ und ein „unmarked state“ und eine Grenze dazwischen. Diese Unterscheidung enthält alles, was sie benötigt. Folglich ist gleichgültig, was etwas ist oder nicht ist, und sei es das Universum, weil es zugleich durch sein Nicht-Ist definiert wird. Es macht also keinen Sinn, ein Ding als alleinstehendes anzunehmen, sondern nur als eine Dynamik, die zwangsläufig von einem Beobachter ausgeht, der eine Unterscheidung trifft.
Folglich sei es also prinzipiell auch unwichtig, sondern nur praktisch nützlich, zu wissen, ob ein Auto Ledersitze, ein Steuerrad oder eine Klimaanlage enthielte, oder alle drei oder nichts davon. Denn die Welt sei Eins (+) und Nichts (-) zugleich, und dass wir sie in Etwas und Nichts unterschieden, liege nur an uns.
Jede mathematisch-wissenschaftliche Erkenntnis beginne daher mit der willkürlich-persönlichen Unterscheidung:
Etwas könne daher, weder „wahr“ noch „falsch“, auch „imaginär“ sein. Es läge dann außerhalb eines Bezugssystems, so wie „hohe oder tiefe“ Punkte, die von einem zwei-dimensionalen Figuren-Wesen, das nur seine Fläche überblickt, nicht erkannt werden können.
Unsere tag-täglichen Unterscheidungen (nach Boole in „wahr“ und „falsch“), träfen wir allein aus Nützlichkeits-Überlegungen. Aber nichts, was ist, sei so, ohne dass es jemand von etwas anderem abgetrennt habe.
„Alles, was gesagt wurde, wurde von jemandem gesagt.“ F. Varela
Frisst uns die digitale Weltformel nun? Oder nicht?
Die Evolution wird es leidenschaftslos sehen: Es setzt sich immer durch, was sich bewährt, und dann vergeht es auch wieder. Menschen bilden keine Ausnahme. Angesichts der digitalen Gleichmacherei der Analog-Computer besteht bei Quanten-Computern, wie es menschliche Körper und Gesellschaften sind, die Möglichkeit, etwas kreativ gänzlich anders zu machen.
Die letzte große Transformation der Menschheit war die neolithische Revolution: der Übergang von nomadischen Jägern und Sammlern zu Bauern und Städtern. Sie spielte sich vor vielleicht 10.000 Jahren ab. Vielleicht erleben wir noch, oder auch erst unsere Enkelkinder, den nächsten genialen Sprung der Informationsverarbeitung auf diesem Planeten.
Der drohenden (digitalen) Ver-Ameisung des menschlichen Lebens können wir etwas Wirksames entgegensetzen: Indem wir das intensiv trainierten, wozu Computer niemals fähig sein werden. In Kindergärten, Schulen und Universitäten könnte man z. B. angesichts der vielen Hochleistungsrechner damit aufhören, auswendig gelerntes „Buch- oder Datenbank-Wissen“ abzufragen. Und stattdessen Gelegenheiten fördern, an denen körperliches und geistiges Erfahrungs-, Bewegungs- und Beziehungs-Wissen erworben werden kann.
Die Idee der zyklischen Digitalisierung der klassischen chinesischen Philosophie, könnte uns zu nachhaltigem Verhalten inspirieren, zu Produktionszyklen, bei denen etwas quantitativ Gleichbleibendes sich ständig qualitativ erneuerte.
Die Brown’sche Mathematik bildete eine Grundlage der Systemtheorie (u.v.a.: Luhmann, Capra s.u.). Die von ihnen beschriebenen Systeme sind eigen dynamische, informationsverarbeitende Organismen, deren Funktionsweise sich deutlich von Maschinen unterscheidet. Diese basieren auf dem, was war und aufgeschrieben und einprogrammiert wurde, und deshalb auch als Wissen kopiert werden kann.
Lebendes ist dagegen zukunftsbezogen: Es wird. Es probiert etwas aktiv aus, schöpferisch und innovativ, und beobachtet dann, was geschieht, um daraus Handlungskorrekturen abzuleiten. Lebendiges Lernen ist Erfahrung, die aus aktivem Erleben entsteht. Nichts davon ist kopierbar. Also besteht die Rettung vor dem Verschlungen-werden durch die „digitale Weltformel“ (X = Xn) darin, etwas absolut Einzigartiges zu schaffen und zu erleben. Etwas zu dem kein anderer Mensch in diesem Universum fähig wäre, weil er oder sie zwangsläufig ganz anderer Erfahrungen gemacht haben müsste.
Um dieses Einzigartige zu finden, eröffnet die Erkenntnis, dass jede Unterteilung willkürlich sei, unbegrenzte Freiräume: Die Dinge, die sich nicht verändern lassen, können bleiben, wie sie sind, aber sie können in einem anderen Zusammenhang betrachtet werden: Zum Beispiel könnte ein „Ich“, das leidet, weil es sich einsam fühlt, sich als Teil einer größeren sozialen Gemeinschaft erkennen, und schon wäre das Gefühl der Isolierung verschwunden, ohne dass sich an der Situation etwas verändert hätte.
Die Bedrohung durch die „digitale Weltformel“ (X = Xn) ist real, aber nicht alternativlos. Denn immer wieder entsteht, um uns und in uns, faszinierend einzigartiges, das in der Einmaligkeit seines Werdens nicht kopiert werden kann:
„Kaum sichtbar ist heute der Fuji im Schleier des winterlichen Regens.
Und doch! Wie ist er schön!“ Bashō
Links
- Boole’sche Algebra: Uni. Gießen, Mathepedia
- Fritjof Capra, Pier Luigi Luisi: The Systems View of Life. A Unifying Vision. 2015
- Hölle im Mäuse-Paradies: Calhoun JB: Population Density and Social Pathology, Calif Med. 1970, 113(5):54 (Volltext) , Video: Mouse Utopia
- Pi (π), Mathepedia, Blatner D: The Joy of Pi. Penguin Books 1997
- Kurt Gödel: Unvollständigkeitssatz 1931, (Mehr dazu)
- George Spencer Brown: Laws of Form, 1969, Mehr über GS Brown, Wikipedia
- Niklas Luhmann: Kurzvideo, Lit.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, neue Auflage 2001. Einführung in die Systemtheorie, 5. Auflage, Carl Auer, 2009
- Tor Nørretranders www.tor.dk, Vortrag:
- Pythagoras
Literatur
- Burckhardt M, Höfer D: Alles und Nichts. Ein Pandämonium digitaler Weltvernichtung, Mattes&Seitz 2015
- Charbonneau D et al: Workers ‘specialized’ on inactivity: Behavioral consistency of inactive workers and their role in task allocation, Behavioral Ecology and Sociobiology 2015, 69(9):1459–1472 – News-Artikel zur Publikation: 22.09.2017
- Gordon DM: The Ecology of Collective Behavior PLOS biology, 2014, , TED Vortrag 2014, Web-Site
- Gulland A: First doctor on the red planet. Life in Mars, Life on Mars, BMJ 13 Apr 2016
- Harari YN: Guardian 2015: The age of cyborg has begun – and the consequences cannot be known – Harari YN: Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen, C.H. Beck 2017
- Helbing D et al: Digitale Demokratie statt Datendiktatur. Big Data, Nudging, Verhaltenssteuerung: Droht uns die Automatisierung der Gesellschaft durch Algorithmen und künstliche Intelligenz? Spektrum der Wissenschaft, Digital Manifest 12.11.2015
- Hutter M: Universal Artificial Intelligence, observed on sequential decisions based on algorithmic probability. Springer, Heidelberg 2005, http://prize.hutter1.net
- I Ging (beide Ausgaben erschienen bei Dietrich):
- Richard Wilhelm. Basis: Konfuzianers Wang Bi (3. Jhh.n.u.Z.). Digital Version
- Frank Fiedeler. Yijing. Wesentlich ältere, daoistisch geprägte Version.
- Mancuso St, Viola A: Die Intelligenz der Pflanzen, 2015
- Maturana H, Verden-Zoller G: Biology of Love,1996 – Matuana H: What Is Sociology?, Constructivist Foundations 2015, 10(2):176-179
- Merö L: Die Grenzen der Vernunft, rororo 2002
- Sapolsky RM: Super Humanity, Sci Am. 2012 Sep;307(3):40-3, deutsch: Spektrum d.W. 2013: Auf dem Weg zum Supermenschen
- Taleb NN et.al: The Precautionary Principle with Application to the genetic modification of organisms, NYU School of Engineering working papers series, 04.09.2014 (pdf). Weiter Bücher: Anti-Fragilität – Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen Knaus 2012, Skin in the Game, Allen Lane 2018
- Rifkin J: Empathic Civilisation 2010: RSA-Animate
- Silver D et al.: Mastering the game of go with deep neural networks an tree search. Nature Jan 2016
- Stiller S: Planet der Algorithmen: Versteht sie bevor sie euch verstehen. Knaus Verlag 2015
Mathes&Seitz Verlag 2015, - Tannenbaum JB: Human-level concept learning through probabilistic program inductionScience 2015, 350: 1332-1338
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- Wolpert DM et al: Principles of sensorimotor learning, Nature Reviews Neuroscience (2011)12: 739-751, Download und weitere Studien bis 2015
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- Ziegler MG, Meck JV. Physical and psychological challenges of space travel: an overview. Psychosomatic Medicine 2001; 63: 859-861.