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12. Februar 2024

Da-Sein: Aufmerksam Nicht-Tun

Zirkus-Show, Jäger, RoW 2019

Zurückgelehnt im Sessel in der ersten Reihe lümmeln.

Aufmerksam das Bühnenbild betrachten. Lauschen, wie der Unruhe und dem Gekicher, gespannte Stille folgt. Sich von Licht-Geflimmer und Farben beeindrucken lassen. Die Dramatik der Musik spüren. Die Gerüche einsaugen. Es genießen.

Und auf einen Wink mitspielen. Oder auch nicht.

Oder

Chaos und Gewalt erleben. In Ohnmacht erstarren. Sich zusammenreißen und auf Angriff oder Flucht vorbereiten.

Hokusai : Die große Welle vor Kanagawa

Und dann: Wenige Sekunden nicht handeln. Innere Stille zulassen. Wach werden. Das innere Toben wahrnehmen, und damit aufhören, im Tunnel zu rennen. Zurück-treten. Den Raum wahrnehmen. Erkennen, was geschieht. Sich verbinden, und es so verstehen.

Wie Segler im Sturm, die sich an Windböen und Wellenberge anschmiegen, und dem Boot vertrauen. Die nicht gegen die Gewalt kämpfen. Die sich anpassen, von Sehnsucht geleitet. Die möglichst wenig tun, und doch auf Kurs bleiben.

Möglichkeiten, wie wir bewusst (auch) sein könnten. Warum sind sie so selten?

Meist denken wir voraus.

Wir beseitigen eine Kiste, die uns im Weg steht. Bevor wir sie berühren, ist unser Geist bereits am Ziel, an dem es das Problem nicht mehr gibt. Bewusstsein und Handlung stimmen nicht überein. Das macht es so mühsam. Erfahrene Möbelpacker bleiben, bevor sie den schweren Gegenstand wegschieben, etwas länger stehen und tut scheinbar nichts, was äußerlich sichtbar wäre. Sie versuchen, das Objekt zu verstehen, und sich mit ihm zu verbinden. Kaum ist das gelungen, hört es auf, ein Problem zu sein. Stattdessen wird die Situation interessant, herausfordernd. Sie erzählt dann, was sie jetzt braucht.

„Wir überhöhen die Fähigkeit, Dinge zu manipulieren (engl. ap-prehend). Und verlieren die Kompetenz zu verstehen, zu erleben und etwas in einen sinnvollen Gesamt-Zusammen-hang einzuordnen (engl. com-prehend)“. Ian McGilchrist (2023)

Die Meisten aber nehmen die Gegenwart problembeladen wahr. Als eine Aneinanderreihung von Widrigkeiten, die uns die Zukunft verbauen. Es ist eben ‚Jetzt‘ nicht so, wie sie sein sollte. Deshalb ‚wollen‘ oder ‚müssen‘ sie es ändern. Oder sie halten es aus. Oder sie bekämpfen ein Problem nach dem anderen, oder alle gleichzeitig.

Bis sie kollabieren, und von der Bühne in ihre Höhle stolpern. Dort angekommen entspannen sie wie ein zerschnittenes Gummiband, lenken sich ab, verdrängen oder ziehen sich zurück. Bevor sie sich wieder die große Show stürzten, um den nächsten Kampf zu gewinnen.

Viele haben das Maß verloren, sind unglücklich, leidend, ausgelaugt, müde, gelangweilt, ängstlich. Sie konsumieren, glauben und hoffen. Und wollen nur noch das, was sie sollen.

In modernen Zivilisationen nimmt diese Art der Störung von Bewusstheit rasant zu: Denn wir werden gezwungen, uns auf immer größere Datenmengen toter Details zu konzentrieren, während unsere Fähigkeit schwindet, dynamische Zusammenhänge und körperliche Interaktionen zu verstehen. (MGilchrist 2024)

Das Zählen ’schwarzer und weißer Erbsen‘ gewinnt immer mehr an Bedeutung. Rechnen mit ‚Null und Eins‘ können Algorithmen wesentlich besser als Menschen. Roboter werden immer besser darin, geschickt und zielgenau, immer das Gleiche zu tun.

Menschen-typische verkörperte Kompetenzen werden weniger wertgeschätzt. Eine Hebamme, ein Gärtner, eine Lehrerin, ein Pilot, eine Ärztin sollen ‚richtig‘ handeln. Genau so, wie es ihnen Algorithmen und technische Handlungsanweisungen vorgeben.

Die Kunst, sich selbst oder die Situation oder andere zu spüren und fühlen, verliert an Bedeutung. Denn es wird verlangt, schnell, zielgenau und geschickt zu intervenieren. Wir werden für das Tore-Schießen bezahlt und nicht für die Freude am Spiel.

Im Gegensatz zu Maschinen können Menschen aber auch gewandt handeln, sorgsam, verbunden, kunstvoll. Dann gleicht ihr Bewusstsein nicht mehr einem Spot-Light, das versucht, im Dunkel der Bühne hektischen Handlungen zu folgen. Sondern: Die gesamte Bühnenbeleuchtung wird anschaltet. Alle Körpersinne klingen in Resonanz mit dem, was geschieht.

Wird der Zusammenhang nicht betrachtet, sondern nur ausgewählte Einzeldetails, kann er nicht verstanden werden. Strampelt man immer verzweifelter, im Orkan sinnloser Information, ist es einfach Ängste auszulösen, Scheinlösungen anzubieten, und Interessen-geleitet zu manipulieren und lenken. (Desment 2023, Mausfeld 2023)

innehalten
Innehalten: (Bild: svdf.de/archives/607)

Innehalten

„Si cada dia cae,
dentro de cada noche
hay un pozo
donde la claridad está encerrada.

Hay que sentarse a la orilla
del pozo del la sombra
y pescar lu caida
con paciencia.“

„Wenn jeder Tag sinkt, in jede Nacht, gibt es einen Brunnen, in dem Klarheit eingeschlossen ist. Man muss sich an den Rand des Brunnens des Schattens setzen, und nach dem Licht fischen, mit Geduld.“ Pablo Neruda

Sehr wirksame Technik, um von ‚Tunnel‘ auf ‚Überblick‘ zu schalten: Den Raum hinter dem Rücken vorstellen. Einen Schritt zurücksetzen.

Was auch geschehen mag:

Es ist immer möglich, eine Sekunden-Pause einzulegen, stehenzubleiben. Das Wollen aufzugeben. Wahrnehmen: sich und alles andere, in Verbindungen, Wechselwirkungen und Bewegungen. Einfach da sein. Nicht tun. Wach, ohne Wollen, weder für sich, noch für irgendetwas anderes.

‚In Verbindung‘ sein hat in unserer Kultur an Bedeutung verloren.

Obwohl uns Naturwissenschaft bestätigt, dass die Realität ungetrennt ist. Alles gibt es nur in Resonanz und in Wechselwirkung.

Luke Fildes 1890: Watchful Waiting. Ich erinnere mich gut an den Zwang etwas ‚machen‘ zu müssen: nachts, als unerfahren bei einer sterbenden Frau. Ich wollte Fehler vermeiden. Und war nicht verbunden, mit dem, was geschah. Voller Angst und Hilflosigkeit quälte ich sie mit Spritzen und Herzmassagen. Mir fehlte der Mut, einfach da zu sein, ohne sie zu stören.

Vor 2.300 Jahren warb der chinesische Lackbaumpächter Zhuangzi dafür, ‚Da-Sein‘, oder So-Sei‘ als ideale Staatsform zu pflegen. Er nannte es „Nicht-Tun“ (Wu Wei).

Dabei dachte er an eine Energie-volle, absichtslos-ruhende Form des Lebens in Verbindung mit einem Gesamtsystem. Ein Fluss des Geschehens, in dem sich die Notwendigkeit verliert, ein ‚Ich‘ zu konstruieren.

‚Nicht-Tun‘ unterscheidet sich von handlungsbezogener Trance und auch von Energie-leerem ‚Nichts-Tun‘.

Im wachen, absichtslosen ‚Verbunden-sein‘ bleibt die Wahrnehmung klar, weit und unbewegt. Die Trennung in Subjektives oder Objektives löst sich auf, man ist einfach betrachtend da und handelt nicht:

Einfach Nicht-Tun: Beteiligt, aufmerksam, mit halb-geschlossenen Augen. Wahrnehmend, wie ein Vogel von rechts nach links fliegt, wie ein Zweig im Abendwind wippt oder eine Wolke vorüberzieht.

Diese Möglichkeit bewussten Seins kann man messen. Forschung kann sie im Hirnscanner beobachten und in psychologischen Experimenten objektivieren. (Metzinger 2023)

Im Geschehen ruhen und wachen. Kaum sichtbar: die aufmerksame Wildgans im Zentrum. Jäger, RoW, 2024

Zitat: „Bewusstsein kann nicht nur in Abwesenheit von Gedanken und Sinneswahrnehmungen existieren, sondern ohne Zeitwahrnehmung, ohne Selbstverortung in einem räumlichen Bezugssystem und ohne jede Form von körperlichem oder egoistischem Selbstbewusstsein. .. Das Ich-Gefühl stellt keine notwendige Bedingung für Bewusstsein dar.“ (Metzinger 2023)

Man kann Nicht-Tun ebenso (oder besser) persönlich erfahren: Als eine bewusste Möglichkeit.

Man kann sich in den Garten setzen, oder still den Wald betrachten.
Oder zu anderen Kulturen reisen, denen „Da-Sein“ im Alltag noch vertraut ist, und einfach schauen.

Still, ruhend, bewegt.

Mehr

Literatur

Letzte Aktualisierung: 18.02.2024