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15. August 2024

Taiji in helfenden Berufen

Helmut Jäger, Norbert Heinrich, Christian Auerbach, 2020

Berührung
Berührung (Bild: Jäger 2017)

Menschen, die in heilenden oder helfenden Berufen arbeiten, sind Anforderungen ausgesetzt, die ihre eigene Gesundheit gefährden.

Wesentliche Faktoren sind dabei der ständige Kontakt mit Hilfesuchenden und die große Verantwortung für die Klient*innen. In der Art, in der im Taijiquan ein entspanntes Miteinander mit einem Gegenüber, das Arbeiten und Neutralisieren von Kräften und das Loslassen unter Belastung geübt wird, sehen wir ein großes Potenzial, um einen kräfteschonenderen Umgang mit den eigenen Ressourcen zu entwickeln.

Starke Belastungen in helfenden Berufen

Ärzt*innen, Krankenschwestern, Hebammen, Lehrer, Therapeut*innen und (Sozial-)Pädagog*innen sind teilweise selbstständig, leiten ein Team oder sind Teil davon, müssen ihre Arbeit dokumentieren, haben oft wenig Pausen, sind immer mit Menschen zusammen, die etwas von ihnen verlangen. Sie wollen und müssen auf ihre Klienten eingehen, in Kontakt gehen, sie ganz wahrnehmen, ihnen zuhören, sie verstehen, und auch das nicht Gesagte erfassen. Dann müssen sie Diagnosen stellen, Operationen durchführen, Medikamente verabreichen, eine Geburt begleiten. Oft geht es dabei um Leben und Tod oder um die Zukunft der zu beratenden oder zu behandelnden Menschen.

Der Wille zu helfen ist in diesen Berufen stark ausgeprägt. Dies mobilisiert Kräfte und verleitet »Helfer« oft dazu, aus ihrer Mitte heraus zu gehen, um ganz beim Klienten zu sein.

lm Folgenden gehen wir den nützlichen und gesundheitsfördernden Aspekten des Taijiquan nach, die insbesondere für diese Berufsgruppen ein Potenzial darstellen, um gesund und mit der eigenen Mitte verbunden zu bleiben.

Wir betrachten hier Gesundheit als Mittel und nicht als Ziel: als eine (idealerweise wachsende) Summe der Möglichkeiten, um Lebensziele zu erreichen. Unter Taijiquan verstehen wir ein im östlichen Kulturraum entwickeltes System von Achtsamkeit und natürlicher Bewegung. dessen Anwendungen sehr unterschiedlich sein können: von ausgesprochen effektivitäts-orientierter Kampfkunst bis zu meditativ inneren Formen. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden und den Rückgriff auf die Prinzipien hervorzuheben, schreiben wir hier in Folge von »Taiji«.

Diese den verschiedenen Taiji-Formen gemeinsamen Grundprinzipien zeigen sich u. a. als Entspannung in eine elastische Struktur unter Belastung, widerstandslose Nutzung äußerer Wirkkräfte (wie Gravitation oder Fliehkräfte), nicht-lineare Bewegung in Verbundenheit mit dem Geschehen und dem, was die Situation erfordert. Wirkungsvolles Lenken und Leiten mit minimalem inneren Kraftaufwand, Wachheit für komplexe Wechselwirkungen und gewaltfrei begleitete Beziehungen.

Die Grundidee des Taiji. gerade unter Belastung loszulassen, ähnelt dem Segeln: Dort werden Wind und Wellen genutzt, statt sie auszuhalten, gegen sie anzukämpfen oder vor ihnen zu fliehen. Taiji-Bewegungen passen sich widerstandslos und flexibel an das an. was gerade geschieht, und bekämpfen es nicht. Alle Anteile des Körpers und der Aufmerksamkeit wirken zusammen als eine elastische Einheit. So werden Achtsamkeit (mindfulness) und körperliche Koordination gleichermaßen trainiert.

Taiji: Effektiv ohne Kollateralschäden

Gesundheitsstörungen sind meist die Folge ungünstiger Bekämpfungs- oder Handlungsstrategien angesichts zu großer Belastungen. Verhaltensweisen. die zu Schäden des Bewegungsapparates, der lmmun-Darm-Funktion und des neurophysiologischen Systems führen, können durch Taiji bewusster wahrgenommen und verändert werden. Deshalb kann das Erleben von Taiji zu körperlichen und psychologischen Entwicklungen führen, die vorhandene Ressourcen mobilisieren, um sie schonend und zugleich wirksam einzusetzen.

Gymnastik, Yoga, Pilates, Qigong und andere, den Körper und den Geist gleichermaßen schulende und spannungs-regulierende Methoden wirken sich oft günstig auf eine innere Harmonisierung der Lebensfunktionen aus. Taiji erweitert das Feld der Schulung und bezieht zusätzlich die Dynamik des unmittelbaren Umfeldes mit ein.

Entspannt, verbunden, zentriert. Bild: Jäger, Bangkok 2018

Bei Taiji wird in besonderer Weise die Kunst der Berührung unterrichtet. Menschen können mit Geist und Körper »in das Umfeld hinaus- und in das Feld anderer hineinreichen“, und sich so mit einem Geschehen außerhalb des eigenen Körpers verbinden. Berühren wir den Körper eines Menschen, können wir (mit etwas Übung) seine Struktur, deren Bezug zur Schwerkraft und die kleinen unwillkürlichen Bewegungen wahrnehmen. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten ist in heilenden Berufen von überragender Bedeutung. Denn sie haben gleichermaßen Bedeutung für das Erkennen und die Unterstützung des anderen. (Miller 2018)

Die Fähigkeit, sich mit dem im Umfeld wirkenden Kräfte zu verbinden und eigene Kräfte zu entwickeln, ohne sich abzumühen, beruht auf dem Grundprinzip aller lebenden Zellen. In Bezug auf die Körperorganisation eines Menschen lässt sich in dem ursprünglich aus der Architektur stammenden Konzept der Tensegrity ein gutes Beschreibungsmodell finden: ln Ruhe befindet sich jede einzelne Körperzelle genauso wie das gesamte Gewebe des Menschen (etwa das myofasziale oder das viszerale System) im Zustand elastischer Auf-Spannung in einer flexibel verformbaren Struktur. Wie ein Hüpfball muss der Körper dann nur wenig aktiv tun, damit äußere Kräfte (wie Gravitation. Fliehkräfte oder Druck oder Zug eines Trainingspartners) ausgeglichen und in Folge optimal genutzt werden können.

Diese Idee führt nun direkt zu Wirkungen des Taiji, die die Möglichkeiten vieler anderer körperorientierter Verfahren überschreiten. Die meisten „Wellness-Methoden“ bieten im gestressten Alltag Entspannungspausen, die eine schnelle Rückkehr in das gleiche Hamsterrad begünstigen. Taiji dagegen kann dazu führen, künftig das Gleiche körperlich und psychologisch anders zu tun.

Stress

Das menschliche Bewegungs- und Nervensystem kann sich Belastungen flexibel anpassen. Auch starke Beanspruchungen können von ihm ohne Schäden verarbeitet werden, sofern ein Nutzen erkennbar ist: wenn die erforderliche Arbeit der Befriedigung von Grundbedürfnissen dient, die Zukunft sicherer gestaltet wird, wenn die Bewältigung der Situation im Rahmen der eigenen Kompetenz realistisch erscheint, und wenn sie in einem Gesamtzusammenhang sinnvoll wirkt. Wenn das nicht der Fall ist, werden (meist völlig unbewusst) Kampf- oder Flucht-Reaktionen ausgelöst und die Betroffenen drängen mit dem verengten Problemlöse-Tunnelblick nach vorn – wie eine Fliege. die gegen eine Scheibe fliegt. Oder sie weichen. Oder, wenn gar nichts mehr hilft, bricht ihre Abwehr ohnmächtig in sich zusammen. Sowohl Überlastung im Kampf als auch »Entspannung« im energie-leeren Kollaps stören die normalen Körperfunktionen – insbesondere das Immunsystem – und können Erkrankungen sehr unterschiedlicher Organsysteme auslösen. (Porges 2011).

Die basalen Notfall-Reaktionen des Stamm- oder Reptilienhirns sind im Vergleich zu einer ruhigen Anpassung an Belastungen nicht sehr effektiv, und sie führen nicht dazu, dass die Bewältigung von Herausforderungen Iernend verarbeitet wird. Wesentlich wirksamer ist es, wenn in einer kontrollierbaren Belastungsreaktion zeitgleich zur Aktivierung ein stark beruhigender Impuls über den Vagus-Nerv geleitet wird, im Sinne von: »Was ich tue, ist sinnvoll, und ich schaffe das!» In diesem Fall verbessern sich etwa intensive Bewegungen. Ebenso verbessern sich die Herzleistung und die Atmungsfunktion in der Auseinandersetzung mit einer Infektion. Alle Körperorgane wirken dann ruhig. besonnen und sehr effektiv an der Bewältigung der Aufgabe zusammen. Werden so Belastungen angenommen und wirksam in eine positive Richtung geleitet, lernen die Nerven- und lmmunfunktionen und passen sich flexibel an neue Herausforderungen an. (Hüther 2001)

Gerade bei großen Herausforderungen für das Überleben wäre es viel günstiger. psychisch und körperlich zu entspannen und gleichzeitig bereit zu sein für eine sofortige Handlung. ln größtmöglicher Wachheit um Ruhe ausstrahlend könnte sich der Mensch dann elegant und kraftvoll bewegen. Diese Möglichkeiten des Handelns, dosiert Schritt für Schritt und mit langsam gesteigerten Anforderungen an komplexere Veränderungen, werden im Taiji in den Partnerübungen wie in einem Verhaltenstraining eingeübt. Gegenstand des gemeinsamen Trainings in Wechsel zwischen Übung und Reaktions mustern ist es, ineffektive Verhaltens- um Bewegungsmuster immer mehr zu verlernen und langsam durch entspannte, wirksame natürliche und angemessene Handlungen zu ersetzen.

Von einem Taiji-Training können so starke Systemeffekte ausgehen, die Prozesse der körperlichen und psychischen Weiterentwicklung gleichermaßen günstig beeinflussen. Hier ist, vor allem in der lnteraktion mit anderen Menschen, eine Verhaltensmodifikation möglich, der das Taiji von anderen Verfahren der Körper-Bewusstseins-Schulung abhebt. Das Umlernen ungünstiger Reaktionsmuster und Haltungen kann sich direkt und indirekt günstig auf gesunde Entwicklungen, sowohl im sozialen Feld als auch in der und körperlichen Gesundheit auswirken.

In der Zeitschrift BMJ wurde eine Untersuchung zur Wirkung von Taiji publiziert. (Wang 2018) Die untersuchten Personen litten an einer komplexen Erkrankung. der eine Störung des Immunsystems zugrunde liegt: „Fibromyalgie“. Neuronale Störungen der Immunfunktion (besonders ein Übermaß an Stress), ein ungünstiges Zusammenspiel mit dem Mikrobiom des Darmes, Fehlfunktionen nach Infektionen oder Schadstoffeinwirkungen und Störungen des Bewegungsapparates und der Schmerz-Verarbeitung gelten als Auslöser. Spezifische medikamentöse Behandlungen sind dabei in der Regel wenig wirksam. Fibromyalgie gilt als eine Vorstufe rheumatischer Erkrankungen und könnte als Übererregbarkeit des Immunsystems aufgefasst werden.

Das Ergebnis der Studie zeigt, Taiji Geist-Körper-Tralning führt bei Patienten mit Fibromyalgie zu einer ähnlichen oder größeren Verbesserung der Symptome als aerobisches Training. Längere Dauer des Taiji zeigte größere Verbesserungen und kann als therapeutische Option in der multi-disziplinären Behandlung angesehen werden. (frei übersetztes Zitat aus Wang 2018)

Zu ganz ählichen Ergebnissen kam bereits eine frühere Studie bei Patient*innen, die an Parkinson litten. (Li 2012)

Konsequenz

Die Studien von Wang und Li zeigen, dass das Instrument Taiji in den Händen geeigneter Lehrer*innen Systemerkrankungen günstig beeinflussen kann und in einigen Bereichen anderen Methoden überlegen sein könnte. Möglicherweise, weil Achtsamkeit und entspannte Bewegung gleichermaßen trainiert werden. Denn das wirkt sich auch bei der Anwendung ähnlicher Ansätze als wirksam. (Bravo 2018)

Damit sich der Effekt von Taiji günstig entfalten kann. sollte ein gewisser Kenntnisstand der Unterrichtenden als Standard erreicht und ein methodischer Grundkanon nachgewiesen werden.

Deshalb sollte (unserer Ansicht nach)

  • sich die Ausbildung von KursleiterInnen und Lehrerinnen an klaren Vorgaben orientieren und durch Gütesiegel anerkannter Verbände zertifiziert werden (in Deutschland zum Beispiel bei Taijiquan: Deutscher Dachverband für Qigong und Taijiquan).
  • die Zielsetzung der Kurse für unterschiedliche Zielgruppen differenziert werden: Gesunde Kampfsportler*innen benötigen andere Zugangsformen als Personen, die von einer Krankheit genesen wollen.
  • eine Lehrkraft, die mit Personen arbeitet, die gesundheitlich beeinträchtigt sind, besonders kompetent und einfühlsam kommunizieren können.
  • eine Lehrkraft in der Lage sein, Taiji-Prinzipien auch in Einzelsitzungen unmittelbar bedarfsbezogen einzusetzen, etwa im Rahmen von vereinfachten Zugängen wie der Basic Body Awareness Therapie.

Taiji: große Wirkung mit geringem Aufwand

Die Taiji-Prinzipien entwickelten sich aus einer Philosophie des Kämpfens, aber die dabei entdeckten Gesetzmäßigkeiten können auch besonders in helfenden Berufen hilfreich und heilsam angewendet werden.

Körperliche Belastungen (zum Beispiel das Heben von Patientinnen oder langes Stehen im OP) können wesentlich flexibler angenommcn werden, wenn Körperstruktur. Schwerkraft und Balance optimal eingesetzt werden. Wurden die grundlegenden Prinzipien der Bewegungsoptimierung verstanden. ist es auch leichter. Gegenstände wie chirurgische Instrumente als eine Erweiterung des körperlichen Fühlens und Spürens miteinzubeziehen. Die psychische und körperliche Kontaktaufnahme gestaltet sich wesentlich offener, selbstsicherer und störungsfreier, wenn sie aus einer ruhigen Gelassenheit heraus erfolgt.

Entspannen unter Belastung verhilft Klientinnen zu einem stress-beruhigten Handeln. Innere Wirkkräfte werden optimal genutzt, wenn äußere Einwirkungen angenommen, aufgenommen und optimal begleitet werden können. Konflikte entschärfen sich. wenn dem Geschehen eine neue Richtung gegeben und mühelos Kraft entwickelt werden kann. Die Schulung von Aufmerksamkeitsführung Absicht und klarer Wahrnehmung trainiert die Fähigkeit des wachen Abwartens („watchful waiting“). Das Eingehen heilsamer Verbindungen, Beziehungen und tragfähiger Kontakte hilft zu verstehen. wie gewaltfreie Kommunikation und empathisches, vertrauensvolles Lenken und Leiten möglich wird. Und bei Schonung des eigenen Kräftehaushaltes die Arbeit mit Mitarbeiterinnen. Kolleginnen und Klient:innenen ruhiger gestaltet und so wesentlich verbessert werden kann.

Taiji-Üben fördert eine gute Erdung aus der sich Selbstvertrauen und kraftvolle Bewegungen gestalten. Aus einer kräftigen Mitte können sich stabile Entwicklungen ergeben: Im Vertrauen auf die Möglichkeit sich flexibel anpassen zu können, ohne den eigenen Standpunkt zu verlieren. Wer so elastisch in sich ruht, kann auch mit anderen in eine akzeptierende Kommunikation eintreten.

Durch das Erleben entspannter Bewegung lässt (auch bei Belastung unnötige Spannung) nach. Und es fällt leichter, das zu akzeptieren, was ist. So entsteht Neugier.

Literatur

  • Bravo C.: Basic Body Awareness Therapy in patients suffering from fibromyalgia. in Physiotherapy Theory aud Practice 2018, 3 1-11
  • Hüther G: Biologie der Angst – Wie aus Streß Gefühle werden: Vandenhoeck 8: Ruprecht 2001
  • Li F. et al.: Tai Chi and Postural Stability in Patients with Parkinson‘s Disease. The New England Journal of Med. 2012
  • Miller LE : Sensing with tools extends somatosensory processing beyond the body. in Nature 2018. 561 (7722):239-242
  • Porges St: The polyvagal theory: Neuro-physiologlal foundations oi emotions. attachment. communication and self-regulatlon, W. W. Norton 8c Company 2011. S. 69: Tracey. K; Reflex control ol lmmunity. in Nature reviews. Immunology 2009 Jun:9(6):4l8-28
  • Wang C. Effect of tai chi versus aerobic exercise for fibromyalgia: comparative effectiveness randomized controlled trial. BMJ 2018, 360:k85

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Letzte Aktualisierung: 16.08.2024