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17. August 2024

Bao und Schach

Inhalt

  • Was ist Go, Bao und Schach gemeinsam?
  • Was ist so einzigartig an Schach?
  • Was fasziniert mich an Bao?

Was ist Schach und Bao gemeinsam?

„Ich denke, also bin ich“, sagte Renaissance-Philosoph Descartes.
„Ich bin nicht. Na und?“ antwortete der Zen-Meister Suzuki.
Der südafrikanische Bischof Tutu nannte eine dritte Möglichkeit:
„Ich bin nicht. Wir sind!“

Im Leben setzt sich der Fitteste durch.

Das denkt man zumindest in Europa.

In Asien glaubt man eher an die Macht der Beziehungen und der dynamischen Verbindungen. Und in afrikanisch-bäuerlichen Gesellschaften stehen der Zusammenhalt der Gemeinschaft und die Fruchtbarkeit im Zentrum des Interesses.

Indisch-persisches Schach. Geschnitzt von einem Makonde-Künstler in Südtansania. Dekoriert auf Bast-Teppich. Bild: Jäger 1982.

Seit mindestens fünf bis zehntausend Jahren wird mit diesen Aspekten der Realität gespielt. Im Tanz, in den Anfängen von Musik und Rhythmus, in der darstellenden Kunst.

Aber auch an Spielbrettern, vor denen ein Körper scheinbar ruht und „etwas“ im Inneren denkt.

Dabei entfaltet ein „selber-denkendes Ich“ in innerer Ruhe ein Bild, wie sich etwas entwickeln soll. Und tut der Körper etwas: Er setzt ein Steinchen auf ein bestimmtes Feld.

Bei den ältesten Brettspielen-Formen spielte man mit dem unerklärbaren Zufall.

Hinter scheinbar Zufälligem verbarg sich aber in der Wahrsage Kunst das Schicksal, ein göttlicher Wille oder eine Vorsehung.

Spiele wie das ägyptische Senet (um 3.500 v.u.Z.), das königliche Spiel von Ur (um 2.600 v.u.Z.) und als alt-indische Spiel Chopat benutzten daher Würfel. Sie erinnern an die heutigen Spiele Backgammon oder „Mensch ärgere dich nicht“.

„Mühle“ (Nine Men’s Morris, Sri Lanka um 1.500 v.u.Z.) und Mancala eliminierten den Zufall. Erstmals waren scheinbar nur die „geistigen“ Fähigkeiten des Spielers ausschlaggebend für Gewinn und Verlust. Beide Spiele benötigten zu Beginn noch keine Bretter, weil die Spielsteine in aus-gescharte Erdmulden gelegt oder auf geritzte Linien gesetzt wurden.

Aus einem ursprünglichen Würfelspiel entwickelte sich vielleicht um 600 v.u.Z. in Indien Chaturanga. Es bestand aus einem Brett von 64 Feldern. Benutzt wurden Figuren, die dem heutigen Schach ähneln. Bei diesem Spiel standen sich zwei feindliche Armeen gegenüber. Neben dem König wachten die Lanzenträger, flankiert von der Kavallerie, die eingerahmt wurde von den antiken Panzern: den Kriegselefanten mit ihren Gefechtstürmen. Davor standen zwangsrekrutierte „Bauern“, die leicht geopfert werden konnten. Im Unterschied zu Schach stand, wie u. a. im indischen Königreich Nanda neben dem König ein Visir (ein Berater, Minister oder General).

Wo kam (in der Weiterentwicklung von Charanga) plötzlich die „Dame“ her, neben der der Schach-König so schwächlich ausschaut? Symbolisierte sie eine der vielen Sexsklavinnen der damaligen Herrscher? Wohl kaum, denn die hatten im Krieg nichts zu sagen.

Die ersten Versionen des Schachspieles stammen aus den Regionen, in denen sich Persien und Indien berührten. Dort, an der Kreuzungsstelle der Seidenstraße, befand sich zwischen 300 und 100 v.u.Z. das Kernland der griechisch-mazedonisch-baktrischen Königreiche. Die Stellung und Funktion der Dame im Schach erinnert an die Staatsreligion der Herrscher in den Regionen um das heutige Afghanistan, bevor sich der letzte bedeutende von ihnen (Menander) zum Buddhismus bekehrte.

In der Nachfolge von Alexander sahen sich die mazedonisch-griechischen Könige Seleukos I (im heutigen Persien) und spätere u. a. Demetrios (im heutigen Afghanistan und Pakistan) jeweils als jugendlich-sonnengleiche Söhne einer großen Muttergottes an. Sie wurden beschützt von der phrygischen Kybele, der kleinasiatischen Urgöttin, die um 200 n.u.Z. als Mater deum magna ideae zur römischen Staatsreligion aufstieg, und schließlich im Christentum aufging.

Nachdem Seleukos von seinem Nachbarn Maurya 500 Kriegselefanten eingetauscht hatte, ähnelte seine Armee dem indischen Typ.

Mit Ausnahme der Dame, die vielleicht bei ihm oder einem seiner Nachfolger, eine Standarte oder einen Altar der Mutter-Göttin symbolisierte.

Ob die Brettspiele Indiens über die Seidenstraße nach China wanderten, ist nicht bekannt. Dort entwickelte sich vielleicht um 600 v.u.Z. ein anderes zufall-freies Strategiespiel, bei dem nicht die Besetzung von Feldern von Bedeutung war, sondern die Kreuzungspunkte und -linien zwischen ihnen. Es betont die Beziehungen und Verbindungen, den Raum und die Möglichkeiten, die sich aus einer geschickten Gestaltung des Raumes ergeben. Dieses Wéiqi wanderte nach Japan („Go“) und Korea („Baduc“). Möglicherweise ist Wéiqi sogar noch älter als das Orakelsystem des I Ging, mit dem es keinen direkten Bezug zu haben scheint.

Das afrikanische Bao entwickelte sich aus Mancala-ähnlichen Spielen. Auch hier spielt der Zufall keine Rolle, Bewegungen der Hand allerdings schon, da die Art, wie die Spielsteine verteilt werden, Kompetenz und Spielerfahrung ausstrahlt. Gespielt wird ruhig, wach, nicht-konfrontativ und gelassen. Die Zuschauenden schwatzen oft lauthals über alles Mögliche, reißen Witze oder fachsimplen. Die angenehme Stimmung vermischt sich beim Betrachten der Szene mit dem Flirren des Lichtes unter einem Vordach, dem im trägen Wind bewegten Schatten eines Baumes, den Geräuschen des Dorfes, dem Zirpen und Geflatter der Tiere und dem typischen Duft der Kochstellen in der tropischen Schwüle. Es ist dies sinnlich erlebbare Atmosphäre, in der sich Bao entfaltet, die einen wesentlichen Teil der Faszination ausmacht, die von dem Spiel ausgeht.

Gegenüber Wéiqi/Go und Schach besteht bei Bao ein weiterer wesentlicher Unterschied: Es ist bis kurz vor dem Verlust des letzten Spielsteines möglich, das Blatt noch zu wenden und sogar zu gewinnen. Auch das ist psychologisch interessant, da sich vermeintliche Sieger oft sicher glauben und dann entscheidende Fehler begehen. Mathematisch interessant wäre die Frage sein, ob Bao auch in in endlose Spielschleifen übergehen könnte.

Die Regeln von Schach, Wéiqi-Go-Baduc und Bao sind so einfach, dass sie ohne Schwierigkeiten an einem Tag erlernt werden können. Aber bereits mit den ersten Spielzügen eröffnet sich ein Universum an Komplexität, das mit einfachen Strategien nicht überblickt werden kann. Mechanisches Denken von Ursache und Wirkung oder das Widerkäuen und Abspulen von Lehrsätzen führen schnell in die Enge.

In allen drei Spielen lassen die Chancen berechnen. Daher ist es möglich, dass stumpfsinnige „PC-Rechner“ gegen Großmeister gewinnen. Den Reiz der Spiele macht aber nicht die Fähigkeit aus, zwei Züge im Voraus kalkuliert zu haben. Wichtiger ist es, Situationen kreativ, schöpferisch neu zu denken. Dann ist bei allen drei Spielen möglich, nach anfänglichen Verlusten einen scheinbar überlegenen Gegner durch einen unerwarteten intelligenten Zug zu besiegen oder in eine Falle tappen zu lassen.

Meisterschaft erfordert mehr als das Auswendiglernen tausender von Partien. Es kommt vielmehr auf spielerisches Denken in Zusammenhängen an. Das erfordert solides und geduldiges Training. Im Idealfall werden dabei die Fähigkeiten der linken Großhirnhälfte (Analytisch Trennen und einzelnes Abwägen) verbunden mit denen der rechten Hemisphäre (Alles sehen und spontan sofort das tun, was zur Situation oder dem Muster passt). Das ist nur möglich in einem meditativen Zustand der Ruhe, in dem die Gefühle und Emotionen des Säugetier-Mittelhirns und die Stressmuster des Reptilien-Stammhirns gedämpft werden.

Bei allen drei Spielen geht es im Wesentlichen darum, die Möglichkeiten des eigenen Handelns zu erweitern und die Handlungsmöglichkeiten des Gegenübers zu begrenzen. Dazu ist es nötig, den Raum wahrzunehmen, in dem die Handlung erfolgt, inklusive der vierten Dimension: der Zeit. Neben Tempo und Raum spielt natürlich auch das Material eine Rolle: die Zahl der eroberten Figuren oder Spielsteine. Aber deren Bedeutung kann geringer sein, wenn die Beziehung der verbleibenden Figuren stark entwickelt ist. Um die Schönheiten der Spiele fühlen zu können, braucht es Übung. Der Einstieg ist zwar einfach, und jedes Kind kann schnell hineinfinden. Dann aber muss man ausdauernd und beharrlich „Dran-bleiben“, um unerwartete Situationen innovativ neu gestalten zu können.

Die Spieler unterscheiden sich (wie alle Menschen im realen Leben) u.a. hinsichtlich ihrer Fertigkeiten. Man könnte sie grob einteilen in

  • Anfänger, die mit den Regeln hantieren, den Spielsinn erahnen und sich damit die Zeit vertreiben, Figuren oder Spielsteine herumzuschieben.
  • Dann gibt es die trainierten Anfänger mit gehobenem Standard, die verstanden haben, um was es geht, und die Spaß daran haben, mit anderen Anfängern weiterzukommen, und die neugierig üben und lernen.
  • Und dann natürlich die Experten, die Tausende Bücher, mit Lehrsätzen und Meinungen, verinnerlicht haben, und diese nun – selbstgefällig – abspulen lassen können. Sie sind die Lehrer und wissen genau, was in einer bestimmten Situation richtig und was falsch ist, weil es in der Vergangenheit genau so war. Nur wenigen davon gelingt es, sich von dem bequemen Expertentum, das durch so viele Mühen erobert wurde, wieder zu lösen.
  • Dann entwickeln sie sich zu Großmeistern, kennen ihre Fähigkeiten und wissen um ihr Nichtwissen. Sie erfassen Situationen spontan und handeln sofort, ohne vergangene Lehrsätze und Regeln durchrechnen zu müssen.

Expertenwissen und -übungen sind tröge, aber nötig, um Anfänger in den Regeln zu trainieren. Großmeistern, welcher Disziplin auch immer, zuzuschauen ist zwar ein Genuss, der aber eher Sehnsüchte wachruft, als die eigenen Kompetenzen zu stärken, die dafür nicht reif sind.

Trotz aller Mühen des Lernens, um später mühelos und elegant spielen zu können, gibt etwas, worin jedes Kleinkind auch ohne Übung Computern oder Robotern überlegen ist: das Setzen der Spielsteine.

Der Grund für die Existenz unseres wunderbaren Gehirns, das wir u. a. mit Schach oder Bao oder Go trainieren können, ist Bewegung (Wolpert 2011). Die Meisterleistung besteht also nicht nur darin, sich einen Zug auszudenken, der zum Sieg führt, sondern auch den Spielstein zu ergreifen und präzise dorthin zusetzen, wo er hingehört.

Was ist so einzigartig an Schach?

Schachschule in Sumqayit, Aserbaidschan. Bild: Jäger Juli 2019

Shah mat: Wenn der König stirbt, ist es aus

Zufälle sind bei Schach ausgeschlossen.

Nicht allein die Anzahl und Stärke der Figuren entscheidet über den Sieg, sondern auch die Zahl der Möglichkeiten in Raum und Zeit. Dagegen wirken sich Emotionen nachteilig auf den Spielverlauf aus.

Wer hat sich Schach ausgedacht?

H. Jäger, Kuba 1985
Schach in Kuba (Jäger, 1985)

Die Mehrheit der Geschichtsforscher vermutet, dass sich Schach aus dem vielleicht 2.600 Jahre alten, indischen Spiel Chaturanga (tschátur-ánga, s. u.) entwickelt hat.

Chaturanga wurde ebenfalls auf 64-Feldern gespielt. Allerdings noch ohne das typisch schwarz-weißen Schach-Brettmuster. In zwei sich gegenüberliegenden Reihen wurden Armeen in der Schlachtordnung antiker indischer Königreiche aufgestellt (Kulke 1982).

Der König (Ràja) übersah das Kampfgeschehen von einem Elefanten aus. Er wurde beraten von seinem Minister (Mantri). Beide wurden geschützt von der Leibgarde, die ebenfalls auf Elefanten saß (Gaja, die Läufer des modernen Schachs). Weiter außen stand die Reiterei (Ashva) und neben ihr die Streitwagen (Ratha), die Symbole antiker Kampfmaschinen auf den Elefanten.

Zusätzlich stehen aber beim Schachspiel vor diesen mobilen Truppen noch einfache Soldaten oder Bauern (Pedàti), die in die Armeelogik der Aufstellung nicht hineinzupassen scheinen, zumal sie sich in Zickzacklinien bewegen.

Viele nehmen an, das moderne Schachspiel sei aus einer sassanidisch-persischen Version dieses Spiels hervorgegangen (Chatrang, Schatrandsch oder Schadranj), und habe sich in dieser Form ab 700 n.u.Z. in der islamischen Welt verbreitet. Seit etwa 1.000 n.u.Z. wurde es dann auch im christlich-mittelalterlichen Europa gespielt.

Möglicherweise wurden die Felder des Schachbrettes erst ab dem Mittelalter dunkel und hell eingefärbt. Ab dem 13. Jh. durften die Bauern beim ersten Schritt erstmals zwei Felder vorrücken. Im 15. Jh. wurde dann die En-passant-regel eingeführt, und schließlich die Bewegungen der „Offiziere“ so festgelegt, wie sie heute noch gelten.

Ist Schach ein Hybrid aus griechischer und indischer Kultur?

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Schachschule in Sumqayit, Aserbaidschan. Bild: Jäger Juli 2019

Die Theorie, Schach habe sich nur in Indien aus Chaturanga heraus entwickelt, kann zwei wichtige Aspekte nicht erklären: die Ausschaltung des Zufalls und die merkwürdige Bewegungsart der sogenannten Bauern.

In Chaturanga wurde vermutlich gewürfelt. Sein Vorläufer (Chaturaji) war sogar noch ein reines Würfel- oder Rennspiel (etwa wie „Mensch ärgere dich nicht“).

Petteia: schräg nach vorn ziehen

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Ludus latrunculorum, Wikipedia, Mus. Quintana Künzing

Zur Zeit Alexanders liebten die Griechen das Brettspiel Petteia (Räuber). Dabei standen sich zwei Reihen gleicher Spielsteine gegenüber. Es musste versucht werden, die Spielsteine des anderen zu umzingeln.

Zufall war bei Petteia ausgeschlossen. Allein die Qualität strategischen Denkens führte zum Sieg. Die Bewegungen der Spielsteine von Petteia glichen denen der Bauern beim Schach: nach vorn rücken und nach schräg nach vorn schlagen.

Römische Legionäre spielten eine Petteia-Variante, das „Spiel der Diebe“ (Ludus latrunculorum).

Bei diesen Spielen werden zweifarbige Steine benutzt, die versuchen gegnerische Figuren einzuschließen. Ludus latrunculorum konnte inzwischen in seinen seinen Regeln rekonstruiert werden und scheint einer einfachen Version des chinesischen Wéiqi zu gleichen (jap. Go, korean. Baduc).

Schach = Petteia + Chaturaji?

Spielten die Händler der Seidenstrasse an langen Abenden Petteia, Ludus latrunculorum oder Wéiqi? Wäre dann der Ursprung von Petteia ost-asiatisch? Oder geht umgekehrt Wéiqi auf griechische Einflüsse zurück?

Das aus Chaturaji weiterentwickelte Chaturanga könnte auch eine indische Folge eines griechischen Einflusses sein (Samsin 2002).

go
Wéiqi, Go, Baduc. (Dt. Go Bund: dgob.de)

Sicher ist, dass an den Knotenpunkten der Handelsrouten ein intensiver Kulturaustausch stattfand zwischen Europa, Asien und Indien. Insbsondere in den Regionen südlich des Kaukasus, von Aserbaidjan bis Afghanistan. Deshalb wäre naheliegend, wenn sich indische Chaturaji-ähnlicher Würfelspiele mit den in Griechenland oder China verbreiteten Denkspielen vermischt hätten. (Averbakh 2012)

Indisch wären demnach beim Schach die „Offiziere“ (außer der Dame), griechisch dagegen das 8×8-Brett, die Züge der Bauern, und vor allem: die völlige Ausschaltung des Zufalls.

Die Thesen von Samsin und Averbakh sind archäologisch nicht belegt. Zeitnah wird auch wohl niemand in Afghanistan nach alten Spielen graben. Wie es also wirklich war, ist unbekannt.

Dass Schach aber aus einer Vermischung der griechischen und indischen Kulturen in Baktrien entstanden sein könnte, ist auch deshalb plausibel, da sich in dieser Region Kunst, Religion, Staatspolitik und Philosophie in wenigen Jahrhunderten zu einer einzigartigen, neuen Kultur vermischten.

Gandhara_Buddha
Griechisch-indischer-Gandhara-Buddha. Bildquelle: Wikipedia

Diese Entwicklung begann mit den Friedensverhandlungen eines Nachfolgers Alexanders (Seleukos Nikator) mit seinem indischen Gegenspieler und späteren Schwiegersohn Chandragupta Maurya. Beide einigten sich nach einem kriegerischen Konflikt auf die Lieferung von 500 Kriegselefanten im Gegenzug für die Überlassung riesiger Landstriche.

Man verschwägerte sich und tauschte Botschafter aus. Die Kriegsführung beider Seiten ähnelte sich seither, sowohl in der Heeresaufstellung, als auch in der logisch-rational-planvollen Strategie (Grainger 2014). Beides wird durch das Schachspiel symbolisiert.

Gegenüber Alexanders Kriegstaktik vollzog Seleukos offenbar einen Paradigmenwechsel. Alexander handelte oft impulshaft, halluzinatorisch und eingebungs-gesteuert. Er spielte mit dem Glück, und konnte gegen die gegenüberstehende multinationale Supermacht am Granikos, in Issos und in Gaugamela nur siegen, weil diese in einem jeweils ungünstigen Terrain ihre Kräfte nicht entfalten konnte. Zu Alexander hätte ein schnelles Würfelspiel mit kurzen Reaktionszeiten gepasst.

Seleukos dagegen ging in seinen Kriegen strategisch, planvoll und rational vor. Wie bei Schach war für ihn die Beherrschung von Raum und Zeit von großer Bedeutung. Er wird also möglicherweise Spiele bevorzugt haben, die den Zufall und wahnhafte Eingebungen ausschlossen.

Möglicherweise kennzeichnet die Erfindung des Schachspiels den Umschwung vom rauschhaften Gott Dionysos (dem Alexander nahestand) zur rationalen Lichtgestalt des Apollon, der die nachfolgenden griechischen Könige in Persien und Indien deutlich mehr faszinierte.

Fünfhundert Jahre nach dem Eroberungsfeldzug der Mazedonier entstand das neue Perserreich der Sassaniden. Sie führten die zarathustrische Einheitsreligion wieder ein, und verbannten die von Alexanders inthronisierte kleinasiatische Gottesmutter in die Unterwelt. Hätte damals bereits eine Dame auf dem Schachbrett gestanden, wäre sie spätestens jetzt durch einen männlichen Part ersetzt worden.

Tempelritter spielen schach
Tempelritter spielen Schach um 1200 n.u.Z. Bildquelle: Wikipedia

Den Sassaniden war beim Schach das Training des Geistes (als Ergänzung zu Schwertkampf und Reiten) besonders wichtig. Ardashir der Erste soll gesagt haben: Ein Prinz, der nicht regelmäßig Schach spiele, könne kein Königreich regieren. Schach galt ihm, und den auf ihn folgenden Shahs, als ein Kriegstraining, genau wichtig war wie körperbezogene Kampfkunst.

Schach gelangte in seiner sassanidisch-kriegerischen Version dann später zu den Römern und schließlich zu den Kreuzrittern.

Wie dieser Prozess der Kulturdurchdringung genau ablief, wissen wir nicht. Wir können es nur erahnen. Oder kreativ weiterdenken, wie es gewesen sein könnte, und dabei immer neue reizvolle Facetten des Spiels entdecken. Oder wir können es auch einfach selbstversunken spielen ohne uns Gedanken zum Ursprung zu machen.

Wie kommt die „Dame“ in einem männlichen Krieg?

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Was treiben mächtige Frauen in einem männer-beherrschten Schlachtfeld? Bild: Jäger, Strassen-Schach in Sumqayit, Aserbeidschan, Juli 2019

Neben der überragenden Frau wirkt der Schach-König ziemlich schwächlich. Sie ist die deutlich mächtigere Spielfigur, aber doch nicht so wertvoll wie der König.

Chaturanga kannte keine Dame. Der dortige Minister konnte ebenso wie der König nur ein Feld weit ziehen.

Bei dem persischen Schachvorläufer Schadranj kommandierte neben dem König ein General (farzīn / vizier). Ob er über etwas größere Handlungs-Möglichkeiten als sein König verfügte, wissen wir nicht.

Erst im Mittelalter tauchte eine gewaltige Dame auf, die mit ihrer Machtfülle bis heute das gesamte Schachbrett durchstrahlt. Wenn sie geschlagen wird, verschwindet sie vom Spielfeld. Kämpft sich aber ein tapferer kleiner Held durch die feindlichen Reihen, kann er sie wieder zum Leben erwecken, und ins Geschehen zurückholen.

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Unsere liebe Frau von Guadelupe (Bild: Wiki )

Die Historikerin Yalom vermutet, dass der Aufstieg der Dame, das Auftreten starker weiblicher Führungspersönlichkeiten im Mittelalter widerspiegelt. Insbesondere das der Isabella von Spanien. Deren Armee gelang es, die Araber aus Grenada zu vertreiben.

Wer ist diese Dame?

Es ist unbekannt, ob Isabella bereits Schach spielen konnte, bevor sie die maurischen Paläste stürmen ließ. Vielleicht wurden auch dort erst Spielbretter und Figuren erbeutet. Und man musste dann die Inquisition befragen, ob dieses Teufelswerk nicht verbrannt werden müsse.

Isabelas Soldaten (und sie selbst) fühlten sich geschützt durch die Muttergöttin von Guadeloupe. Es liegt deshalb nahe zu vermuten, dass die Dame aus Gründen politisch-religiöser Korrektheit in ein suspektes, arabisch-jüdisches Brettspiel eingeführt wurde.

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Muttergottheit mit wilden Tieren. Çatalhöyük, www.catalhoyuk.com

Woher kam diese Gottesmutter Maria

Die „Mutter mit den wilden Tieren“ herrschte bereits vor 9.000 Jahren in Çatalhöyük.

Der kleinasiatische Muttergotteskult geht zurück auf die Göttin Kybele, ihren Sohnes Attys, den Helden Mithras und auf die verwandte ägyptischen Religion der „Isis mit dem Horuskind“. Vielleicht ist es die weltweit älteste Religion:

Sie wurde später von Kleinasien bis nach China verbreitet, und galt dort als „König-Mutter des Westens“. Vorübergehend wurde sie dann ab 600 v.u.Z. im persischen Großreich durch die Ein-Gott-Religion des Zarathustra verdrängt. Nach dem Sieg der Invasion Alexanders konnten Kybele und ihre Begleiter aber wieder zu neuer Blüte aufsteigen.

Unter der Herrschaft der griechisch- mazedonisch-persisch-baktrisch-indischen Könige (in der Nachfolge Alexanders) stieg ihr Kult, und der ihres sonnen-gleichen Sohnes, in immer geringfügig neuen Varianten, zur Staatsreligion auf.

Die Reise der Muttergöttin (Kybele) nach Rom (um 200 v.u.Z.): https://www.bbc.com/reel/video/p0bsfp1y/the-goddess-who-changed-the-course-of-roman-history

Jedenfalls so lange bis die östlich-griechischen Großreiche zum Buddhismus konvertierten (Menander).

205 n.u.Z wurden in Rom die Kulte der Muttergottheit (Mater deum magna idaea) und des Helden (Mithras), zur Staatsreligion verschmolzen.

Die höchste Instanz dieser Muttergottesreligion war der Kaiser in Rom, die irdische Fleischwerdung der unbezwingbaren Sonne (Sol invictus), der Sohn der Gottesmutter.

Der letzte „Sol invictus“ (Konstantin), verfügte jede Woche an seinem Sonn(en)-Tag die Arbeit ruhen zu lassen. Und daran halten wir uns bis heute.

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Mithras, Sol invictus, Mondgöttin. Museum Vatikan. Wiki Commons

Die Kirche nennt Konstantin deshalb „groß“, weil er als der höchster römischer „Bischof“ der Muttergottesreligion, das christliche Konzil von Nikäa finanzierte, organisierte und „als Heide“ auch leitete. Er verhalf der (polytheistischen) Dreieinigkeits-Partei zu ihrem Sieg über die Minderheitsfraktion der Anhänger des reinen Monotheismus. Diese kluge Entscheidung erlaubte es ihm, die bisherigen religiösen Traditionen des römischen Reiches mit den neuen mystischen Geistesströmungen zu vereinen, und so gläubige Bürger:innen und Sklav:innen für sein Machtgefüge zusammenzuhalten.

Möglicherweise durchstrahlt Konstantins Dame oder Isabels „Liebe Frau von Guadeloupe“ bis heute jeden Winkel des Schachbrettes und schützen so ihren kleinen Königssohn.

Warum fasziniert das Schachspiel bis heute?

Cybele Baktrien
Kybele mit Löwen und Sonnengott, Ai-Khanoum (Afghanistan), ~ 200 v.u.Z. (Quelle: Wiki-Commons)

Moderne, nicht denkende Rechner können inzwischen gegen Großmeister gewinnen. Allerdings ist jedes Kleinkind diesen Robotern weit überlegen, wenn es die Figuren auf das Schachbrett setzt.

Schach ist, wie alles Menschliche, verkörpert. (Haugeland, Tschacher, Storch)

Schach ist also kein rein geistiges Spiel, da motorische Bewegungs-Programme aktiviert werden. Es kann deshalb tatsächlich als eine Art Sport gelten. Denn die menschliche Leistung besteht nicht nur darin, sich einen Zug auszudenken, der zum Sieg führt, sondern auch den Spielstein zu ergreifen und elegant-präzise dorthin zusetzen, wo er hingehört (Wolpert 2011).

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Schachsport. Bild: Jäger, Sumqayit, Aserbaidschan 2019

Bei Meistern führt eine präzise Raum-Zeit-Einzelfaktoren-Wahrnehmung zu einer schlagartigen Mustererkennung einer Situation, zu der eine bestimmte Reaktion passt, die dann in eine extrem genaue Muskelbewegung umgesetzt wird. Das wiederum verändert dann augenblicklich die Wahrnehmung von Raum-Zeit-Einzelfaktoren. (Merö 2002)

Meisterschaft erfordert deshalb mehr als das Auswendiglernen tausender von Partien (was stumpfsinnige Rechner viel besser können). Stattdessen werden im Idealfall die Fähigkeiten der linken Großhirnhälfte (Analytisches Trennen und einzelnes Abwägen) verbunden mit denen der rechten Hemisphäre (Alles sehen und spontan sofort das tun, was zur Situation oder dem Muster passt).

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Geister-Schach. Schachfiguren der Makonde, die Bessenheits-Trance-Ritualen nachempfunden wurden. (Bild: Jäger, Tansania 1983)

Literatur

Bao: Afrikanisches Spiel ohne Zufall

Bao ist ein Spiel mit Kugeln.

Es wird besonders an der Küste des tansanischen Festlandes und in Sansibar gespielt. Vielleicht entwickelte es sich (als eine komplexere Variante) aus einfacheren Mancala-ähnlichen Spielen, wie sie in vielen anderen Regionen Afrikas verbreitet sind.

Man benötigt für Bao nur Spielfreude, Intelligenz, 32 Mulden (in einem geschnitzten Brett oder in der Erde) und 64 Spielkugeln. Am besten geeignet sind Kete (harte, ungenießbare Nüsse eines Baumes der Küstenregion). In Europa könnte man auch kleine Haselnüsse verwenden. Glasmurmeln passen von der Größe her auch, aber sie hüpfen leicht weg, wenn sie unbedacht in die Mulden geworfen werden.  

Bao
Bao (Eigenbau, kanadisches Kirschholz, Glasmurmeln). Bild: Jäger 2006

Bao-Spielen erfordert Gelassenheit, räumliches Sehen, Kalkulationsfähigkeit und – besonders bei schnellen Spielen – Gewandtheit. Nur bei Anfängern oder etwas (vom Palmwein) benebelten Spielern, kann der Zufall ins Spiel kommen, wenn unkonzentriert oder überhastet gehandelt wird.

Ein Spiel so einfach wie die Evolution.

Der Fruchtbarste, der die meisten der 64 im Spiel eingesetzten Samen erobert, gewinnt.

Ich verwende hier bewusst die männliche Wortform („der Fruchtbarste“), weil Frauen in der islamisch geprägten Küstenregion Tansanias Bao nicht in der Öffentlichkeit spielen. Dort trifft man am Rand von Marktplätzen, oder in Dörfern unter einem schattigen Baum typische Männerrunden, die sich um ein oder zwei Spieler-Paare herumgruppieren und deren Züge kommentieren. Die Spieler selbst sind meist gelassen, wach, nicht-konfrontativ, aufmerksam. Die Zuschauenden schwatzen gerne und lauthals über alles Mögliche, reißen Witze oder fachsimplen. Die angenehme Stimmung der Männergruppe vermischt sich beim Betrachten der Szene mit dem Flirren des Lichtes unter einem Vordach, dem im trägen Wind bewegten Schatten eines Baumes, den Geräuschen des Dorfes, dem Zirpen und Geflatter der Tiere und dem typischen Duft der Kochstellen in der tropischen Schwüle. Es ist diese sinnlich-erlebbare Atmosphäre, in der sich Bao entfaltet, die einen wesentlichen Teil der Faszination ausmacht, die von dem Spiel ausgeht.

Natürlich habe ich auch afrikanische Frauen erlebt, die Bao spielen: allerdings zu Hause oder im Kreis von Freund:innen. Die Atmosphäre ist dann anders: Geselliger, weil es mehr um das Beisammen geht, und weniger darum, wer gewinnt und warum.

Typisches Baospiel mit Kete-Nüssen. Bild: Jäger, Kilwa (Tansania), Januar 2022

Bei Bao werden die Spielsteine nach klaren, eindeutigen Regeln verteilt. Der optimale Spielzug könnte aus den Möglichkeiten berechnet werden, die sich aus der Kombination von 64 Kugel ergeben. In der Realität des schnellen Spielens ist die Zahl der Möglichkeiten aber so hoch, dass auch die erfahrenen Experten, nicht nur rechnen und grübeln, sondern mit Wahrscheinlichkeiten spielen: Die Einschätzung der räumlichen Verteilung der Samen ist oft wichtiger, als das manuelle Durchzählen von Kugeln-Häufchen, die in einer Hand geborgen werden, um sie die andere Hand herüber-rinnen zu lassen.

Die Art, wie die Hände der Spieler die Nüsse halten, ergreifen und wieder verteilen, ist bedeutsam. Denn die Spielkugel können (wie beim Jonglieren) hochgeworfen werden. Sie fallen dann genau in die richtigen Mulden. Oder sie werden (für Anfänger verwirrend) scheinbar so regelwidrig verteilt, dass genau das Gleiche herauskommt, als wenn man sie regelkonform verteilt hätte. Solche Handfertigkeiten strahlen nicht nur Geschick, sondern auch Kompetenz und Spielerfahrung aus. Damit lassen sich unerfahrene Gegner gerne einschüchtern.

Auch gute Bao-Spieler würden gegen Maschinen verlieren, wenn sie die Züge nur auf Flachbildschirmen ausführen dürften. Denn jeder Algorithmus könnte die elektronischen Bildpunkte so setzen, dass er gewinnt, oder endlose Spielschleifen entstünden.

Praktisch ist das aber ohne Bedeutung, denn die Art der räumlich-gefühlten Wahrnehmung und der Kunstfertigkeit, mit der die Steine gesetzt oder geworfen werden, ist ungleich komplexer als bei Schach. Mit dieser Handarbeit wären auch modernste Computer komplett überfordert. Bao ist also ein typisch menschliches Spiel, gegenüber anderen Spielen, bei denen auch zwei Rechner gegeneinander antreten könnten.

Bao Game
Kind mit einfachem Bao Spiel. Bild: Jäger, Tansania 1983

Bao ist „verkörpert“

Die Gestik spielt eine große Rolle. Und auch die Beziehung zwischen den Spielenden ist wichtig. Deshalb macht es Spaß, immer wieder von neuem zu beginnen, auch wenn andere über die besseren Kompetenzen verfügen. Es wird nicht um Positionen, Macht oder Geld gerangelt. Es ist auch nicht von Bedeutung, wenn jemand verliert, weil der andere (scheinbar) mehr Glück hatte, oder eben doch besser spielte. Bao ist kein Kriegsspiel.

Zu dem chinesisch-japanischen Wéiqi/Go und dem griechisch-indischen Schach besteht noch ein weiterer, wesentlicher Unterschied: Bis kurz vor dem Verlust der letzten Spielkugel ist es möglich, das Blatt noch zu einmal wenden, und dann sogar zu gewinnen. Denn kurz vor Ende des Spieles muss der vermeintliche Gewinner viele Spielsteine verteidigen, die der andere ggf. noch erobern könnte. Und so frohlockt manchmal schon jemand angesichts seines nahen Sieges, fühlt sich deshalb zu sicher und begeht einen unnötigen Fehler.

Bao hat noch eine weitere, eine kulturelle Komponente.

Augustino, nachdem er nerwartet verlor, obwohl er schon glaubte gewonnen zu haben. Kete waren gerade nicht verfügbar. Mit kleinen Steinen ginge es auch. Bild: Masasi Tansania, Januar 2022

In Afrika zählen Beziehungen und Zusammenhänge oft mehr als Einzelfaktoren, die aus etwas anderem herausgelöst wurden.

Die ostafrikanischen Verkehrssprache Swahili z.B. kennt kein Wort für „haben“. Also einen Begriff, der ein Subjekt (das etwas besitzt) eindeutig trennen würde von einem Objekt (das benutzt wird).

Auch die Bao-Spielkugeln hat, besitzt oder beherrscht man nicht, denn sie wechseln in der Spieldynamik ständig die Seiten. Statt „ich habe“ wird in Swahili das Wort für „sein“ verbunden mit der beschreibenden Silbe „mit“.

So entsteht: „Ich bin – mit Spielkugeln.“ (Ni-na kete)

Bao Regeln

Video: „The game of Bao“ (2009): https://www.youtube.com/watch?v=06cxjWn3P9o – Weiteres Video aus Sansibar (2012): https://www.youtube.com/watch?v=r-DikyWhk_Y

Alte Spiele

Verkörperung

Letzte Aktualisierung: 18.08.2024