12. März 2024

Abrahamitische Religionen

Abrahams Grabmal. Ibrahimi-Moschee in Hebron. Bild: Jäger Juni 2020

Inhalt

  • Religiöser Friede?
  • Die Krise christlicher Kirchen
  • Sehnsucht nach Sinn
  • Jesus oder ʿĪsā ibn Maryam?
  • Afrikanische Impressionen: Tansania im Januar 2022
  • Christliche Glaubenskriege?

Frieden durch Religion?

Die Krise christlicher Kirchen

Screenshot: Tagesschau 27.06.2022 (tagesschau.de/inland/kirchenaustritte-rekord-101.html)

2019 erklärten jeweils mehr als eine viertel Million Christen ihren Austritt aus der katholischen oder der evangelischen Kirche. 2020 traten 359.338 Mitglieder aus der katholischen Kirche aus. (ZDF, 27.06.2022) 2022 sind nur noch weniger als die Hälfte der in Deutschland lebenden Menschen Mitglied einer der beiden großen christlichen Konfessionen.

Historisch war die Erfolgsstory des Aufstiegs christlichen Kirchen verbunden mit der Stabilisierung politischer Herrschaftssysteme:

  • Römisches Reich (in Form von Byzanz bis ins 15. Jh.)
  • Europäischer Feudalismus, insbesondere in Abgrenzung zum Islam ab dem 8. Jh..
  • Kolonialismus, beginnend mit Spanien und Portugal ab dem 15. Jh..
  • Kapitalismus ab dem 17. Jh., beginnend in Holland, England und den USA

Weltliche Herrscher:innen bedienten sich der Ethik des Christentums. Ihre Macht beruhte auf dem Vertrauen ihrer Untertanen, dass sie einer höheren (unanzweifelbar-göttlichen) Weisheit untergeordnet seien. Diesem Schein diente ihr demonstrativer, sonntäglicher Kirchgang, und die Begleitung durch einen Priester, der Glaubensritualen zelebrierte und die Kriege segnete.

Die aktuelle Krise der Kirchen rührt daher, dass

  • ein übergeordnetes, ethisch-gegründetes Wertesystem weltweit immer weniger erkennbar ist: Die Ausübung der gesellschaftlichen Macht beruht spätestens im 21. Jh.. ausschließlich auf wirtschaftlicher, finanz-kapitalistischer Dynamik.
  • es den Kirchen zunehmend nicht mehr gelingt, die Menschen durch ihren Glauben im Sinne der Interessen der politisch-wirtschaftlich Mächtigen zusammenzuhalten. Und folglich die Bedeutung von „Ersatz-Religionen“ im 21. Jh.. erheblich an Bedeutung zunimmt. Also von politisch-kommerziell gesteuerten Medien-Kampagnen, die ablenken, abhängig machen und (u.a. durch Angstauslösung) für linear-zielgerichtetes Bevölkerungshandeln sorgen.
  • die Kirchen bezüglich der großen ethischen Fragen (Krieg und Frieden, Gesundheit als höchstes Ziel, Zerstörung der Lebensgrundlagen der Biosphäre) nicht mehr als eigenständige moralische Instanz wahr- oder ernst-genommen werden.

Der christliche Theologe Hans Küng (1928-2021) versuchte diesem Trend etwas Neues entgegenzusetzen: Er forderte eine übergeordnete friedliche, nachhaltige, zukunftsgewandte Ethik aller Weltreligionen.

„Das Prinzip Menschlichkeit, die »Goldene Regel« der Gegenseitigkeit, die Verpflichtung auf Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, ökologische Verantwortung und die Gleichberechtigung und Partnerschaft. („Weltethos“)

Küngs Vorschläge ähneln denen des Dalai Lama, der Ethik für wichtiger hält als Religion, oder des Neo-Konfuzianers Zhao Tingyang, der glaubt, die Geschichte der Menschheit beginne erst, wenn sich eine Weltinnenpolitik entwickle. Im Grunde besinnt er sich zurück auf die Werte der ersten monotheistischen Religion: „Gutes Denken. Gutes Reden. Gutes Handeln.“ (Gatha, die Lehre des Zarathustra) Natürlich ergänzt durch modernes Wissen. Z.B. dass menschliches Handeln notwendig allen Lebensformen der Biosphäre nutzen muss, da sich sonst das übergeordnete Welt-Ökosystem (früher oder später) ohne die Gattung Mensch erneuern wird.

Hans Küng eröffnete mit seinem Vorschlag eine Möglichkeit, wie das Christentum eine Renaissance erleben könnte: Durch Entwicklung einer universellen Moral, die politischem und wirtschaftlichen Handeln übergeordnet sei.

Das stünde aber zwangsläufig im Gegensatz zu den Krebs-artig wachsenden (Un)-Ordnungssysteme, die nach außen die selektiven Moralvorstellungen mächtiger Industrie-Interessen vertreten. Die Politisierung der Moral in den führenden Wirtschaftsnationen bedeutet, dass Mord, Ausbeutung, Vertreibung, Lüge, Vernichtung, Diktatur, Umweltzerstörung relativiert werden: je nachdem, ob sie „uns“ schaden oder nutzen.

Dieser werte-losen Beliebigkeit könnten die christlichen Religionen, eine neue Moral entgegensetzen, die absolut (ausnahmslos) für alle gelten sollte: Gleiche Menschenrechte (ohne Ausnahmen), weltweit-geltendes Völkerrecht, Verfolgung aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Beachtung des Wohls von Gesamtzusammenhängen, Ächtung aller Formen von Gewaltanwendung (insb. Krieg und Vertreibung), Vorrang für das Gedeihen der Biosphären-Vielfalt, …

Stattdessen piepst das Stimmchen der christlichen Kirchen in den großen Krisen des 21. Jahrhunderts immer leiser.

Die Kirchen haben ihre Rolle des „guten Hirten“ verloren.

Ihrer Oberen laufen in der Herde der Schafe mit, die von der Dynamik des „Neuen Normals“ getrieben werden. Sie vertrauen und hoffen (brav und ängstlich), dass sie Weideland erwarte. Und beten, dass ihnen die Wüste erspart bleibe.

Und so versiegt ihr Lebenssaft: Die widerstreitende Ethik, die Mächtige zur Ordnung rufen könnte.

Die Kirchen vertrocknen.

Sehnsucht nach Sinn

Im Feudalismus ließen sich die Könige von katholischen Priestern begleiten, so wie zuvor die keltischen Fürsten von Druiden. Diese Spezialisten für das Überirdische segneten die heiligen Kriege, in der Gewissheit, dass Gott auf ihrer Seite stand. Das aufstrebende Bürgertum war weniger an gottgefälligen Werken interessiert, sondern vor allem an einem Volk, das an die Alternativlosigkeit von entfremdeter Arbeit und Ausbeutung glaubte. Dafür standen den frühen Kapitalisten dann protestantische oder jüdische Geistliche zur Seite. Sie predigten die Pflicht zur Knechtschaft im irdischen Jammertal, und beteten für die Gewinne der „Pfeffersäcke“. Andere staatstragende Religionen, wie der chinesische Konfuzianismus, der indische Buddhismus oder der persisch-geprägte Islam, hatten angesichts des Aufgehens der kapitalistischen Hefe immer weniger zu bieten. Sie gerieten ins Hintertreffen.

Rien Poortvliet: Das Erbe. Paul Parey Verlag, ISBN 3-490-44111-7

Ihre Gesellschaften wurden von seelenlos-wertefreie-unmoralischem Profitstreben überrollt. Es schien nur eine Frage kurzer Zeit zu sein, bis auch in rückständigen Regionen, das Erstrahlen des kapitalistischen Konsumfeuerwerks mit seinen bunten Facetten die mittelalterlich-merkantil-geprägten Religionen wegspülen würde. Selbst in den Ölscheich-Republiken, weil dort kapitalistische Wachstumsgier und mittelalterlicher Fundamentalismus theoretisch zu Konflikten führen müssten. Aber diese Hoffnungen des kapitalistisch geprägten Nord-Westens erwiesen sich als Trugschluss.

Während in den industrialisierten Ländern nach dem Niedergang klassischer Religionen nach Ersatz gesucht wird, erlebte der totgesagte Konfuzianismus eine Auferstehung. (Gesundheitskult und Tianxia).

„Die Weltgeschichte hat noch nicht begonnen“ (Zhao Tingyang). Phil. Mag. Nr. 04. Mai 2022

In China versucht man (gemäß des asiatisch-antiken Bildes eines fröhlichen Jungen auf einem braven Ochsen) dem Kapitalismus ein moralisches Kontrollsystem überzustülpen. Im Westen dagegen ließ man den sich immer größer aufblähenden Stier frei herumlaufen, ohne dass es jemand wagte, ihm einen Nasenring anzulegen. Der häufig totgesagte und als Terror-Brutstätte bekämpfte Islam scheint sich erstaunlicherweise weiter zu verbreiten, obwohl er doch eigentlich für die Moderne wenig zu bieten hat. Jedenfalls zerbrach die Ayatollah-Herrschaft im Iran weder durch Krieg noch durch Sanktionen. Und keines der Ziele der Interventionskriege des Westens im Irak, Libyen, Syrien, Jemen wurde erreicht. In Afghanistan erlebte die amerikanisch-europäische Allianz 2021 ihre größte Niederlage seit Vietnam. Und 2022 muss sich der Westen auch aus Mali zurückziehen. Der „Krieg gegen den Terror“, den die USA nach den Ereignissen des 09.11.2001 anzettelten, verlief zwar äußerst blutig, teuer, verlustreich und zerstörerisch (IPPNW 2020, Guillard 2021). Aber er blieb erfolglos.

Der Kapitalismus westlicher Prägung steckt in der Klemme.

Erfunden wurde der Kapitalismus vor über vierhundert Jahren in Amsterdam von gottesfürchtigen Kaufleuten. Bis heute herrscht er weltweit als dominierende Gesellschaftsform. Aber spätestens seit Anfang des zweiten Jahrtausends ist er mit einem Gleichgewicht der Biosphäre nicht mehr vereinbar. (Kraus 2020). Der Versuch das Wesen des Kapitalismus („grenzenloses Wachstum“) durch einen „Großen Umbruch (Great Re-Set)“ zu retten, wirkt deshalb hilflos.

Denn auch ein „digital-grün-ökologisch-nachhaltiges Wachstum“ wird (solange es wächst) die Lebensgrundlagen der Biosphäre in erdgeschichtlich relativ kurzer Zeit zerstören. Der amerikanisch-geführte Re-Set könnte die Fahrt in Richtung Kollaps sogar noch beschleunigen. Weil das Wachstum nicht abgebremst, sondern nur in andere profitable Bahnen gelenkt wird. Angesichts absehbarer Katastrophen fehlt dem christlich-westlichen Kapitalismus ein ethisch moralischer Überbau. Kultische Handlungen, die auf der „nackten Angst vor dem Tod“ beruhen und den Wert von „Gesundheit“ überhöhen, können den Mangel an friedlichen Visionen (für alle Lebensformen auf diesem Planeten) nicht ersetzen.

Gibt es Möglichkeiten religiöser Renaissance?

Eigentlich müssten sich in dieser instabilen Phase der Menschheitsentwicklung den Religionen Chancen bieten: Denn die Sehnsucht nach Spiritualität wächst umso stärker, je mehr das, was geschieht, nicht mehr verstanden wird. Menschen brauchen gerade dann Visionen, wenn der Sinn verloren geht.

Papst Franziskus hat das erkannt, und benennt die existentiellen Krisen des westlichen Erfolgsmodells in seinen Enzykliken Fratelli tutti (3. Oktober 2020) und Laudato si‘ (24. Mai 2015). Aber den gutgemeinten Appellen folgen keine konsequenten Lösungsvorschläge, die die Wurzel des Übels (den Wachstumswahn des herrschenden Wirtschaftsmodells) betreffen würden. Von einer Neuauflage einer katholischen Befreiungstheologie, die auf der Seite der Armen den Kampf gegen Ausbeutung, Naturvernichtung und Profitgier aufnehmen würde, bleibt er weit entfernt.

Und das herrschende Finanz- und Industrie-Kapital interessiert sich ohnehin nicht mehr für die katholische Moral.

Mutter-Gottes-Religion (Magna Mater), die Konstantin I (306-337) mit dem Ur-Christentum verschmolz. Foto: Griechisch-Orthodoxe Kirche in Dar es Salaam, Jäger 2020

Besitzt vielleicht der Islam ein Potential für eine grundlegende Erneuerung, die ihn befähigen würde, den Kapitalismus sinnvoll zu kontrollieren?

Könnte er (ähnlich wie der Konfuzianismus) einen über dem Kapitalismus stehenden politisch-psychologischer Überbau bilden? So wie sein Gott im Mittelalter über der feudalen Wirtschaftsordnung stand? Oder wie es Michael Houellebecq in seinem Roman „Die Unterwerfung“ als reale Schreckensvision inszeniert?

Die gewalttätigen, Frauen-feindlichen, reaktionären Dunkelmänner, die sich islamisch nennen, und die in vielen Ländern die Herrschaft an sich gerissen haben, lassen viele (auch mich) angesichts dieser Entwicklungs-Möglichkeit der Geschichte erschauern.

Es ist aber unverkennbar, dass der Islam sich auszubreiten scheint. Das kann nicht am Terror liegen, denn rohe Gewalt ist eher ein Krankheitszeichen, dass Hilflosigkeit und Schwäche signalisiert: Das Um-sich-schlagen einer sterbenden Ideologie.

Wenn der Islam „die Herzen“ vieler „normaler“ Menschen erreicht, muss es auch andere psychologische Gründe für seinen Erfolg geben. Und die würden nicht nur Männer, sondern möglicherweise auch Frauen betreffen.

Jesus oderʿĪsā ibn Maryam?

So viel scheint sicher: Jesus hat gelebt.

Hieronymus (Jesu Geburtskirche in Bethlehem, Bild: Jäger, Juni 2022)

Dafür spricht eine Notiz des jüdischen Historikers Flavius Josephus (37-100 n.u.Z.) Jesu’s Lebensgeschichte, seine Lehren und sein Wirken können aber nur erahnt werden. Sie sind (wie später auch der Koran) Teil poetisch-religiöser Weltliteratur. Die Verfasser der frommen Bibel-Texte waren tiefgläubige Asketen, die ihnen göttlich-offenbarte Wahrheitslehren verkündeten. An geschichtlich belegten Fakten, oder philosophischen Einordnungen des von ihnen Gehörten, waren sie nicht sonderlich interessiert.

Ein Beispiel für einen Überbringer heiliger Botschaften ist Hieronymus (347-442 n.u.Z). Er verfasste in Bethlehem eine lateinische Bibelübersetzung (Vulgata), und legte damit die Grundlage des katholischen, orthodoxen und armenischen Christentums. Ältere Texte, die die Bibel-Geschichten beinflussten, kannte er nicht, oder er ignorierte sie (Gilgamesch Epos (~ 2300 vuZ.), Enūma eliš (~ 1700 v.u.Z). Sonnenhymnus des Echnaton (~1345 v.u.Z) , Reklam 2007) Seine Erzählung beginnt mit Überlieferungen: von einem umherziehenden Halbnomaden, den Visionen beherrschten, mit einer Flucht von Sklaven-Stämmen (~ 900 v.u.Z ?), deren gemeinsames Merkmal die Beschneidung war, von einem ägyptischen Prinzen, Offizier oder Wundertäter, von sagenumwobenen Königreichen usw. Diese mündlich weitererzählten Geschichten des „Alten Testamentes (Tora, Tanach) waren um 250-100 v.u.Z in der griechischen Septuaginta zusammengestellt worden, und z.T. im (etwas älteren) Samaritischen Pentateuch. Sie mögen, wie viele andere Mythen, auf einem historischen Kern beruhen. Allerdings fanden sich in der Archäologie bisher dafür keine Belege (1, 2). Die gesicherte Geschichtsschreibung biblisch erwähnter Ereignisse in Palästina beginnt im 7. Jahrhundert v.u.Z., und wird erst genauer nach dem heiligen Krieg der Maccabäer ab 160 v.u.Z.

Über die Zeit in Palästina vor 2.000 Jahren ist vieles bekannt. Z.B. zur Macht der Hohepriester (Sadduzäer), zu den einflussreichen Familien (Hasmonäer, Idumäer), zu den frommen Pharisäern und zu ihrer radikalen Untergruppe, den Zeloten. (1-3) Aber über den Wanderprediger Jesu wissen wir nur wenig. Möglicherweise, weil er, und die ihm Nachfolgenden, den Herrschenden weder bedeutend oder gefährlich genug erschienen.

Der (angebliche) Geburtsort von Jesu in Bethlehem (Bild: Jäger, Juni 2022)

Die Schreiber der Evangelien wollten Offenbartes verkünden

Die Evangelisten (wie Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Thomas u.a.) wollten keine sachgetreue Geschichte eines Menschen rekonstruieren.

Stattdessen nutzten sie gehörte, ihnen nützlich erscheinende, Anekdoten aus dem Leben Jesu, um sie in eine größere, umfassendere, göttlich inspirierte Botschaft einzupassen.

Weder ein Prophet noch ein Messias war ungewöhnlich

Jesu wird im Christentum in doppelter Gestalt symbolisiert: als Neugeborenes und als Lehrer. Links: Die Muttergottes mit dem Heiland (entsprechend der vorchristlichen Religion Roms: Mater deum magna Idaea). Rechts: Jesus, der auferstandene Erretter (entsprechend der paulinischen Version der Jesuserzählung). Bilder: Bethlehem, Jäger 2022

Vor zweitausend Jahren glaubten viele an die Ankunft eines gottgesandten Erlösers und Heerführers. Er sollte das Königreich Davids wieder errichten, und die Frommen von der Herrschaft der Römer befreien. So arrangierten Zeloten („Eiferer“) Hochzeiten (aus der Linie des Priesters Aron und des Königs David), so wie es möglicherweise bei Maria und Josef geschah. Anschließend bildeten sie ihre künftigen Führer aus (u.a. in Ägypten), und trainierten sie für den Endkampf.

Jesus hätte einer von ihnen sein können. (4) Nur, dass er nicht kämpfen wollte. Er war am Krieg nicht interessiert, liebte seine Nächsten und zeigte Mitleid. Viele Zeloten oder Pharisäer könnten ihn deshalb für einen unbedeutenden Versager gehalten haben. Er war eben anders als die kämpferischen Terroristen, die wenige Jahrzehnte später ihr Volk ins Kriegs-Verderben führten (Massada-Katastrophe, 74 n.u.Z). Oder als der bisher einzige von der jüdischen Priesterschaft (Sadduzäern) anerkannte Messias, der Zelot Bar-Kochba. Auch der konnte nachträglich kein „göttlicher“ Messias gewesen sein, weil er 135 n.u.Z. den „Heiligen Krieg“ verlor. Deshalb bemühte man sich, ihn rasch zu vergessen.

Jesus könnte versucht haben, das Judentums zu reformieren. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er mit dem Gedankengut indischer Religionen in Kontakt kam (Buddhismus, Jain). Denn seit etwa 250 v.u.Z. entsandten indisch-griechische Großkönige regelmäßig buddhistische Missionierungsreisen nach Griechenland, Syrien und Ägypten. (Ashoka, Menander) Möglicherweise war Johannes der Täufer einer der vielen Missionsreisenden.

Zephania KI: Ushaidi: „Yesu alikuwa Muislamu“ („Der Beweis: Jesus war ein Muslim“), Mwanza 2013

Islamische Schriftgelehrte halten Jesus (ʿĪsā ibn Maryam) für einen wichtigen Propheten. Für einen gottgesandten Menschen. Für einen Vorgänger des großen Propheten Mohammed.

Er sei weder am Kreuz gestorben, noch auferstanden. Er habe die Folter überlebt und danach weiter gelehrt. Im Gegensatz zum römisch-geprägten Trinitatis-Christentum habe er einen Lupen-reinen Monotheismus verkündet.

Jesus habe die jüdische Religion in der Tradition Abrahams reinigen und reformieren wollen, aber nie die Absicht gehabt, eine alternative Religion zu gründen. (5)

Diesen Ansichten stimmen einige Historiker heute im Wesentlichen zu. Im Gegensatz zu Paulus sei Jesu nicht der Begründer des Christentums, sondern eher ein Wegbereiter des Islam (3, 6-8)

Vielen Christen klingt rationale, von frommen Offenbarungen losgelöste Geschichtswissenschaft nach Häresie. Deshalb wird sie von den Kirchen ignoriert.

In islamische Schriften dagegen, die mir 2022 in Tansania und in Palästina begegneten, schien man Erkenntnisse wissenschaftlicher Untersuchungen ernst zu nehmen. Allerdings nur, um sie dann im Sinn des Islam zu interpretieren.

Warum wühle ich neugierig in alten Geschichten?

Anders als einige Wissenschaftler (9,10) halte ich Religionen nicht für Geisteskrankheiten: Die ersten Religionsstifter Amenophis der IV (Echnaton) und Zarathustra räumten vor über 3.000 Jahren mit blutigen, wahnhaften Besessenheits-Kulten auf. Sie sorgten für Klarheit. Erst ihre Nachfolger wurden gewalttätig. (11-16).

Paul Kurtz (s.u. 1986, Download: „Jesus myth“) Er beleuchtet viele historische Aspekte (Persönlichkeit, Mission, Kreuzigung, Weiterleben statt Auferstehung) die seither immer detailreicher untersucht wurden: siehe Literatur: 2-6)

Ich bin vom Christentum geprägt: getauft, konfirmiert und religiös erzogen. Daran ändert nichts, dass ich mich komplett von der Kirche lossagte, als ich von den Verbrechen im Namen des Christentums erfuhr. (17, 18) Ich begann naturwissenschaftlich zu denken, und konnte nichts mehr mit einer Esoterik und Mystik anfangen, die einfacher Logik widerspricht.

Trotzdem bleibt meine Grundeinstellung kulturell „protestantisch-christlich“, z.B. hinsichtlich des Empfindens von „Mitleid“.

Allerdings glaube ich nichts, und meine „Wahrheiten“ sind relativ. Ich muss keine Dogmen verteidigen. Auch nicht die „Wahrheiten“ atheistischer Religionen (19).

Eines der Gott-Natur-Modelle, die ich für plausibel halte, wurde von dem jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza entwickelt. Für ihn war alles, was ist, entweder in sich oder in einem anderen.

Wie in einem Vorgriff auf moderne Physik, erschien ihm alles durchwebt zu sein, von einem unendlichen Prinzip:

„In der Natur der Dinge gibt es nichts Zufälliges; sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur heraus bestimmt, auf eine gewisse Weise zu existieren und zu wirken.“

Wir erleben heute, wie das Christentum schwächelt.

Die „frohe“ Botschaft der Ethik Jesu verklingt. Die Gesellschaftssysteme, die durch die christlische Moral beflügelt wurden (Feudalismus, Kolonialismus, Imperialismus, Kapitalismus) haben keine positiven Zukunfts-Perspektiven mehr bieten.

Die Chancen, dass das Christentum sich von der Wachstums-Ideologie ab- und einer Befreiungstheologie (im Sinne von Jesu) zuwenden könnte, sind nicht groß. (20, 21) Eine sich befreiende Kirche müsste sich zunächst den Geschichts- und Naturwissenschaften stellen, damit Gläubige nicht die Kirche verlassen müssen, nur weil sie beginnen selber zu denken. Und u.v.a. müsste sie natürlich auch die Verantwortung übernehmen für die von ihnen verübten Untaten (17, 18).

Der Islam steht (eigentlich) der Grundidee der Botschaft Jesu nahe. (22) Aber wird er in der Lage sein, sich zu erneuern?

Die göttliche Kern-Vorstellung des Islam ist einfach, schlicht, leicht verständlich und in sich logisch. Im Gegensatz zum Glaubensbekenntnis der Christen steht das islamische Gottesmodell (abgesehen von esoterischen Ausgestaltungen und angedichtetem Beiwerk) nicht im Widerspruch zu moderner Naturwissenschaft. Islamischen Denker:innen könnte es leichter fallen, die Indizien und Fakten der Geschichtswissenschaft anzunehmen. Denn sie widersprechen den islamischen Gründungsgeschichten weniger, als den Erzählungen des Christentums.

Problematischer wäre es für den Islam zu akzeptieren, dass er viele seiner Vorstellungen (über die Lehren des Īsā ibn Maryam) nicht nur der Mission des griechisch-indischen Buddhismus verdankt. Sondern auch der Zarathustra-Religion, die dem absoluten und guten Gott einen teuflischen Satan zur Seite stellte. (22)

Entspannter Nachmittag in der Ibrahimi-Moschee in Hebron, in der Gläubige von drei Religionen die Gebeine von Abraham verehren. Bild: Jäger, Juni 2022

Im islamischen Kulturkreis lehrten viele kluge, frauenfreundliche und friedliebende Philosophen, an deren Tradition eine mögliche Renaissance des Islam anknüpfen könnte. Ich denke dabei nicht nur an Philosophen wie Ibn Tufail (12. Jhh n. Chr.) oder Dschalāl ad-Dīn ar-Rūmī (13. Jhh n.Chr.), die den christlichen Denkern ihrer Zeit weit überlegen waren (23, 24).

Sondern auch an den Afghanen Khan Abdul Ghafar Khan, einen Freund Gandhis. (25) Abdul Ghafar Khan wäre in Deutschland wahrscheinlich unbekannt, wenn nicht eine Organisation von Exil-Afghan:innen seine Schriften neu aufgelegt hätte. In seinen Texten erkennen diese modernen Gläubigen eine Perspektive für ein neues, demokratisches, friedvolles, naturverbundenes und frauenfreundliches Afghanistan.

Könnten sich nicht kluge Muslimas und Muslime mit Christinnen und Christen und Jüdinnen und Juden zusammenfinden, um gemeinsam an einer spirituellen Renaissance ihrer abrahamitischen Religionen zu arbeiten?

Mehr

Literatur

  1. Masala N: Palestine, A four thousand year hstory. Zed books, London 2018.
  2. Thompson Th et al: The ever elusive past – Diskussions of Palestine’s History and Heritage. Lectures of the Danish House in Palastine, 2018
  3. Maccoby H: Der Mythenschmied. Paulus und die Erfindung des Christentums. Ahriman Verlag 2007, Original: The Mythmaker. Paul and the Invention of Christianity.
  4. Aslan R: Zelot. Jesus von Nazaret und seine Zeit. Original: Zealot. The life and Times of Jesu of Nazareth Random House 2013.
  5. Zephania KI: Ushaidi: Yesu alikuwa Muislamu (Der Beweis: Jesus war ein Muslim), Mwanza 2013
  6. Fried J: Kein Tod auf Golgatha – Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus. Ch Beck 2019 ;
  7. Fried J: Jesus und Paulus: Der Ursprung des Christentums im Konflikt. Ch Beck 2021
  8. Baignet M: Die Gottesmacher, Lübbe 2006.
  9. Dawkins R: Der Gotteswahn. Ullstein. 2007
  10. Kurtz P: The transcendental Temptation, A critique of religion and the paranormal, 1986
  11. Schneider M et al: Echnaton und Zarathustra: Zur Genese und Dynamik des Monotheismus, 2012, DOI:10.30965/9783846753491
  12. Assmann J: Monothesismus und die Sprache der Gewalt, Picus 2004, Download
  13. Assmann J: Moses der Ägypter, Fischer 2007
  14. Assmann J: Ägypten – Eine Sinngeschichte, Fischer 1999/2018
  15. Assmann J: Totale Religion, Picus 2018
  16. Assmann J: Achsenzeit – Eine Archäologie der Moderne, CH Beck 2018
  17. Deschner K: Kriminalgeschichte des Christentums. Die Frühzeit. Rowohlt 1986
  18. Nixey C: Heiliger Zorn. Wie die frühen Christen die Antike zerstörten. DVA 2017
  19. Onfray M: Wir brauchen keinen Gott. Piper 2006. Traité d’athéologie – Physique de la métaphysique., Grasset 2005
  20. Assmann J: „Religio duplex“, Verlag der Weltreligionen 2017
  21. Boff 2020
  22. Bowersock G.W.: Die Wiege des Islam. Mohammed, der Koran und die antiken Kulturen. CH Beck 2019
  23. Ibn Tufail AB (1106-1185 n.Chr.): Der Philosoph als Autodidakt. Meiner 2019
  24. ar-Rūmī D (1207-1273 n.Chr.): Sei Sonne sonst bleibst du Fledermaus. Marix 2013
  25. Radhakrishnan N: Khan Abdul Ghafar Khan. Sahar Printing, Kabul 2017.

Afrikanische Impression: Tansania 2022

Vor über vierzig Jahren lebte ich in einer ländlichen Region im Süden Tansanias, etwa 150 km entfernt von der islamisch geprägten Küste. Dort lernte ich als unerfahrener Arzt („learning by doing“). Und versuchte dabei, möglich wenig Schaden anzurichten.

Die große Mehrheit der Bevölkerung des Ortes schien nach erfolgreicher Mission zum Christentum zu gehören. Eigenständige animistische Religionen waren (für mich) verschwunden, und der Islam fiel mir im Alltagsgeschehen nicht auf.

Unyago: Initiations-Volksfest. Süd Tansania 1982. Bild: Jäger 1982

Ich erinnere mich gut an die Initiations-Festlichkeiten (Unyago) in einem kleinen Dorf nicht weit von meinem Städtchen entfernt. Fast alle Bewohner bekannten sich (wie man mir erzählte) zur katholischen Kirche. Sie hörten auf einen polnischen Missionar, der sonntags in ihrer kleinen Dorfkirche predigte. Aber man ignorierte ihn, als er gegen die Tradition des Unyago-Brauches wetterte. Und als er diese „heidnischen Rituale“ zu verhindern suchte. Die Dörfler bereiteten ihr Traditions-Fest unbekümmert vor, und der fromme Pole machte sich fort. Ich begegnete ihm auf der Hinfahrt auf der Sandpiste. Auf seinem Moped sitzend, erzählte er von der Missionsstation, die er erreichen wolle, um sich zu erholen. Auf keinen Fall werde er Teufelswerk gutheißen oder gar segnen.

Im Dorf angekommen, wurde ich herzlich willkommen geheißen, und abends zu dem rituellen Mahl eingeladen. Männer und Frauen saßen (weit voneinander entfernt), auf ihren Bastmatten unter Baobab-Bäumen. Man schwatzte und sog den Duft von Hühnchen-Köstlichkeiten ein. Zuvor sollte aber zu Gott gebetet werden, dass die sakralen Handlungen auch gelingen mögen. Da der christliche Vermittler zu Gott gerade nicht verfügbar war, übernahm das Vorbeten der islamische Laienprediger. Ohne Probleme verneigten sich dann die Christen nach Mekka und sprachen fehlerfrei alle Namen Gottes aus, die in der ersten Sure des Korans angerufen werden. Da ich mich wunderte, erklärte man mir, es gäbe ohnehin nur einen Gott, und in welcher Sprache man mit ihm spreche, sei unerheblich.

Die Eröffnung. Die 1. Sure des Koran

Offenbar hatte der Islam keine Probleme damit, kulturelle Bräuche der afrikanischen Kultur zu integrieren. Er hielt sich aber damals noch dezent im Hintergrund. Und er war nicht hörbar, weil es keinen Muezzin gab, der zum Gebet gerufen hätte.

Vierzig Jahre später

Ich war positiv überrascht, wie wenig sich der angenehme, beziehungsreiche Charakter der tansanischen Kultur verändert hatte.

Die Mehrheit der Bevölkerung lebte (nach meinem Eindruck) weiterhin sehr einfach. In den Städten und in den Medien sah ich wenige Reiche mit Konsumgütern protzen. Aber auch viele derjenigen, die offenbar hart arbeiteten und wenig verdienten, tippten im Bus in ihre Handys und ließen sich zu Hause ununterbrochen von Soap-Werbung-Fußball-Fernsehprogrammen berieseln.

Mir fiel positiv auf, dass heute nahezu überall korrektes Hoch-Swahili gesprochen wurde. Es gab jetzt Bücher in der Landessprache, Tageszeitungen, elektronische Medien und vielleicht auch eine bessere Grundbildung. Viele Menschen, mit denen ich sprach, schienen über das, was in der Welt geschieht, gut informiert zu sein.

Umso mehr erstaunte mich:

Der wachsende Einfluss des Islam.

Der Alltag in Tansania wird heute vom Islam mitgestaltet. In vielen Dörfern schien der Islam, der Kleidung nach zu urteilen, dominierend zu sein. Im Landesinneren fern der traditionell islamisch geprägten Küstenregion trugen viele Mädchen zu ihrer Grundschuluniform ein weißes Kopftuch, das von der Stirn über den Hals bis zu den Oberarmen reicht. Frauen haben sich farbige Tücher umgewickelt, die Schulter und Hals bedecken. Selbst im christlichen Landesinneren tauchten komplett schwarz-eingesackte Frauen im Straßenbild auf. Manchmal waren sie sogar bis auf die Augenschlitze schwarz oder braun verhüllt. Und auch die dazugehörigen Männer demonstrieren durch Kopfbedeckung, Umhang und Sandalen traditionelle Frömmigkeit. Che-Guevara-T-Shirts, die früher mal modern waren, sah ich nicht mehr, den Kopf von Muammar al-Ghaddafi dagegen schon öfter.

Der Flecken, den ich 2022 besuchte, bestand eigentlich nur aus einem katholischen Hospital, und aus einer mächtigen (für den Ort überdimensionierten) Kirche. Darum herum und entlang der unbefestigten Straße reihten sich mehr oder weniger provisorische errichtete Häuser, Hütten und Buden. In der Umgebung waren zwischen den Feldern viele kleine Dörfer verstreut, mit strohgedeckten Lehmhäusern, gefegten Vorplätzen und manchmal einer Schwengelpumpe für Trinkwasser.

Seit ich vor vier Jahrzehnten das letzte Mal dort war, wurde der Ort umzingelt von kleinen bescheidenen Dorfmoscheen mit Lehmwänden und Wellblechdächern. Darauf montiert, quäkten kräftige Lautsprecheranlagen aus allen Himmelsrichtungen zu den Gebetszeiten in Richtung der großen Kirche, die nach wie vor im Zentrum thronte. Nur an Sonntagen, oder bei Begräbnissen, Taufen oder Hochzeiten, tönen deren mächtige Glocken nach wie vor noch lauter.

Hass-Ideologie: Plakat-Titel „Giants of the World – Die Giganten dieser Welt“. Links: Fidel Castro, rechts Adolf Hitler. In der Mitte: Osama Bin Laden, neben Muammar al-Gaddafi und Saddam Hussein. Wenn sie überhaupt etwas gemeinsam hatten, dann: über Leichen gehen, um ihre Macht zu erhalten. Bild: Jäger, Januar 2020, aufgenommen in einem Laden in Dar es Salaam, der Holz-Skulpturen der Makonde aus Süd-Tansania verkaufte.

Der gesellige, einem guten Leben nicht abgeneigte, Pater fühlte sich in dieser Umzingelung zwar bisher nicht bedroht, aber doch „schon etwas beengt“. Er räumte ein, manchmal „ein wenig unruhig“ zu werden. Es habe in einem weit abgelegenen Dorf eine Gefahr durch gewaltbereite Islamisten gegeben, die dort mit ausländischer Hilfe und fremdländischen Kämpfern eine radikale Gemeinde aufbauen wollten. Doch das Militär habe rechtzeitig interveniert und aufgeräumt.

Er glaubte, die wesentlichen Gründe der bürgerkriegsähnlichen Zustände im unmittelbar benachbarten Norden Mosambiks seien erhebliche Öl- und Gasvorkommen, die ganz Ost-Afrika vorgelagert sein sollen. Man versuche, staatliche Strukturen zu destabilisieren.

Die Mittel dazu flössen aus dem arabischen Raum. Es sickerten terroristische Kämpfer ein aus Nord-Kenia oder Somalia, die im Auftrag eines fundamentalistischen Islam missionierten. Meine tansanischen Freunde, die ich wenig später besuchte, beurteilten die Situation ganz ähnlich.

Die westliche Ideologie schwächelt in Tansania

Funk und Fernsehen Tansanias erschienen mir fest im Griff der westlichen Konsum-Ideologie. Die Bevölkerung wurde elektronisch überflutet mit Marketing, unterschiedlichsten Formen der Beeinflussung und mit seichtem Ablenkungs-Müll, wie überall auf der Welt. Der in den Medien präsentierte Glaube an käufliche „Entwicklung“ war vielleicht attraktiv für Wohlhabende, die an den Fortschritt glauben, weil sie reicher werden wollen. Und für die Eliten, die zur Macht streben, und die, die darauf vertrauen, dass sich ihnen Chancen bieten, um aufzusteigen. Aber, außer dem Medien-Brei hatte der westliche Glaube auch in Tansania (für mich) nicht viel Zukunftsorientiertes oder gar Visionäres zu bieten. Denn auch in Tansania beruhte die christliche Ideologie auf „Entwicklung & Wachstum“. Das aber brachte der Masse der Bevölkerung über Jahrzehnte keine dramatische Veränderung, aber möglicherweise viele Nachteile (wie u.a. Umweltzerstörung).

Die westliche Lehre der „Entwicklung“ und der „Entwicklungshilfe“, die sich die US-Präsidenten Truman und Kennedy ausgedacht hatten, erschien mir in vielen Bereichen ihres Sinns entleert zu sein (Reise in ein Hochrisikogebiet).

„Wachstum der Produktion ist der Schlüssel für Wohlstand und Frieden!“ Harry S. Truman, 1949
„… Wenn eine freie Gesellschaft der Masse der Armen nicht helfen kann,
kann sie die kleine Zahl der Reichen nicht retten.“ John F. Kennedy, 1959

Noch ist das Christentum in Tansania reich und mächtig

Im Süden Tansanias betreibt die Kirche weiterhin hochklassige Krankenhäuser, in denen europäische Schwestern und Ärzt:innen eine große Rolle spielen, und die zum Teil mit sehr moderner Technik ausgestattet sind (Ultraschall, MRT, CT).

Sonntags waren die Kirchen, die ich besuchte, noch proppenvoll. Die Gemeinden zelebrierten ihren Zusammenhalt durch Rituale, Zeremonien und Gesänge. Es wurde inbrünstig Gottes Lob gepriesen (und manchmal bis zum einem „Flow“ jubiliert): In melodischen Sequenzen, durch Rhythmus-Instrumente und Elektro-Orgel begleitet, an- oder abschwellend, sich steigernd, verebbend und wieder leidenschaftlich aufblühend. Bis die Gemeinde mitschwebte. Eine vergleichbare Emotionalität habe ich bei dem streng (und auf mich humorlos wirkenden) Islam in Tansania nicht gesehen.

Kolonialoffiziere mit Bernhard Nocht zur Jahrhundertwende. Und zwei ihrer Opfer: Links Songea Mbao und rechts Selemani Mbamba, Führer des Maji-Maji-Befreiungs-Krieges 1898, der mit einem Massenmord endete. Bilder: Jäger, BNI und Nationalmuseum in Dar es Salaam

Ein anderes Pfund mit dem die christliche Kirche Tansanias noch wuchern kann, sind Ihre Netzwerke und internationalen Beziehungen in die reichen Länder: Wer eine gute Ausbildung für seine Kinder möchte, schickt sie auf die Missionsschule. Und wer dann später eine internationale Karriere anstrebt, hat Chancen, dieses Ziel über die ausgezeichneten Ausbildungen im Kirchenzusammenhang zu erreichen. Viele Personen der Elite wurden so in kirchlichen Einrichtungen ausbildet (wie u.a. der Staatsgründer Julius Nyerere).

Deutliche Schwächen der Kirchen bestehen dagegen in ihrer Verbindung mit der Kolonialzeit, und in ihrer Abhängigkeit von der europäisch-amerikanischen Leitkultur. Die christliche Kirche erwuchs nicht aus Afrika: Sie wurde den Kulturen, die man vorfand und geringschätzte, aufgezwungen:

  • dem traditionellen Islam der Küstenregion,
  • den animistischen Glaubenssysteme der Sesshaften (wie den Makonde im Süden), und
  • den nomadischen Völkern (wie den Massai im Norden).
Altar-Gemälde der Kolonialzeit in Mnero. Missionskirche in Lukuledi. Dazwischen die dörfliche Umgebung, in der diese Kirchen stehen. Bild: Jäger Januar 2022

Das Christentum schien mir heute noch weniger dicht am Leben der armen Bevölkerung zu sein als früher: Die afrikanischen Kirchenangestellten (Priester, Nonnen, Brüder) lebten gemäß dem Standard ausländischer Experten. Aus diesem bequemen Leben mussten sie sich immer wieder aufmachen, um zu den Armen herabzusteigen. Sie gehörten aber nicht dazu.

Kann der Islam von der Schwäche des Christentums profitieren?

Islamische Schriftgelehrte, denen ich begegnete, schienen mir arme Dörfler oder Vorstädter zu sein, wie andere einfache Leute. Sie lebten auf dem gleichen ärmlichen Niveau, wie die, die sie von ihrem Glauben überzeugen wollten.

Sie erzählten mir, dass Fortschritt, Wachstum und Konsum nur Lug und Trug seien, und nur den Reichen und den Korrupten diene. Sie seien friedliebend, und Terroristen gehörten nicht zum Islam.

Könnte es sein, dass diese Variante des Islam der „sozial benachteiligten“ Mehrheit der Bevölkerung nähersteht als der kapitalistische Fortschrittsglaube?

Letzte Aktualisierung: 12.03.2024