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1. November 2022

Bewegungs-Struktur

Die für alle Lebewesen typische, integriert-elastische Grundstruktur. Bild: Jäger 2018

Inhalt

  • Faszienorgan
  • Beckenbeweglichkeit
  • Becken entdecken
  • Ganzkörperbewegung

Das Faszien-Organ

Zellen verformen sich unter Druck und Zug.

Sie verändern ihre Gestalt unter Einwirkungen von Scher- oder Zentrifugalkräften. Durch die Bewegung benachbarter Zellen oder umgebender Flüssigkeiten. Durch die Schwerkraft.

Die Vorstellung, der Zell-Stoffwechsel hänge nur von den Funktionen von Genen und Eiweißen ab, ist unvollständig. (Mechano-Biologie)

Lebewesen verwenden wenig Energie für den Erhalt ihrer Struktur

Zellen neigen deshalb zur Bildung elastischer Formen, die sich leicht und ohne Aufwand an Umweltveränderungen anschmiegen. Selbst „leiter-ähnliche“ DNS-Moleküle, Chromosomen und Eiweißstrukturen verformen und biegen sich. In den Zellen sorgen elastisch-zähflüssige, bindegewebige Mini-Fasern über Kontaktstellen dafür, dass alle Elemente mit allen verbunden bleiben. Und dass sie auf äußere Einwirkungen immer gemeinsam reagieren. Diese flexiblen, intra- und extrazelluläre Strukturen wechselwirken. Und richten sich nach der Schwerkraft aus. Die Bewegungsstrukturen ebenso wie die Zellen des Immunsystems. (Ulrich 2007).

Modell der Grundstruktur aller Lebensformen: Feste Elemente, Zuggurtungen und aufgespannte Membranen. Bild: ronin@posteo.de, 2019

Zytoskelett und Micro-Fibrillen

Um sich sinnvoll an Wechselwirkungen anpassen zu können, besitzen Zellen ein inneres Gerüst. Dieses Zytoskelett besteht aus einem Gewebe feiner Fäden und winziger Strukturelemente. Die zäh-flüssigen Mini-Fasern bestehen aus spezialisierten Eiweißstoffen, die wie Seilstreben oder Verankerungselemente funktionieren.

Das Zytoskelett gibt dem Zellkern, den Zell-Organen, den Mitochondrien und der Zellmembran ihre Form. Klebe-Proteine auf der äußeren Membranoberfläche verbinden die Zellen mit der Außenwelt. Im Gewebeverband verankern sie die Zellen in einem Geflecht äußerer Filament-Proteine der extrazellulären Matrix, die wiederum mit anderen Zellen in Kontakt steht. Das Skelett und die extrazellulären Matrix zerren aneinander.

Zellen bewahren ihre Gestalt durch ständigen Umbau und Umgestaltung ihres Zytoskelletts. Dieser dynamische Prozess erlaubt es den Zellen sich an wechselnde mechanische Einflüsse anzupassen und gegebenenfalls auch ihre Form zu verändern. (Piccolo 2015).

Je nach Art der Verbindung mit ihren Nachbarn verhalten sich Zellen anders

Bestimmte Stammzellen differenzieren zu Nervenzellen, wenn sie sich in einer Umgebung befinden, deren Konsistenz jener des Hirngewebes entspricht. Oder zu Muskelzellen, wenn sie an die Zugstrukturen von Muskelgewebe erinnert. Ähnliche mechanische Einflüsse steuern die Selbstorganisation von Stammzellen zu komplexen Geweben, wie etwa zu Augen, Knochen oder Hirnstrukturen. An den Oberflächen von Zellen befinden sich molekulare Schalter, die Krafteinwirkungen an die Zelloberflächen registrieren und die mechanischen Signale übersetzen und an die Gene im Zellkern übermitteln. Erfährt eine Zelle beispielsweise eine Dehnung, verändern bestimmte Proteine ihre Aktivität und schalten Erbanlagen ein, die das weitere Verhalten der Zellen bestimmen. Diese Erkenntnisse ermöglichen es u.a. zu verstehen, wie Wundheilung funktioniert.

Zellen, die im Gewebeverband genügend Platz finden, teilen sich häufiger als solche, die eng aneinander liegen. Dieser Mechanismus sorgt unter anderem für die Regeneration von Körpergewebe. Zelluläre Schalter aus Proteinen bilden ein Bindeglied zwischen mechanischen und biologischen Prozessen. Ihre Funktion beeinflussen, ob sich eine Zelle normal verhält, oder bösartig entwickelt.

Zug-Gurtung. Bilder: Helmut Jäger, Lärz 2019

Alles Lebende besteht aus „Ten-segrity“-Strukturen.

Über strukturgebenden Zellbestandteilen und über Organverbänden spannen sich zeltähnliche Membranen auf. Einzelne, in sich biegsame Formen sind dabei miteinander verbunden oder „integriert“. Sie berühren sich nicht direkt, sondern werden von Membranen und Faserzügen unter Spannung zusammengehalten (englischer Begriff: tension).

Jedes Elemente ist also indirekt mit allen anderen Elementen zu einem Ganzen verbunden. Zur Beschreibung dieses Phänomens wurde der Begriff „Tens-e-grity“ erfunden, der sich zusammensetzt aus tension (Spannung) und integrity (zu einem Ganzen verbunden sein).

Elastische Spannung (Bild: ronin@posteo.de)

Typisch für eine Tensegrity-Struktur ist, dass

  • Druck  oder Zug an einer Stelle sich zugleich auf alle beteiligten Anteile auswirken.
  • Bewegungsenergie (u.a. durch Schwer- oder Fliehkräfte) in Faserdehungen gespeichert und sich anschließend hochwirksam entladen werden können.

Tensegrity-Figuren wurden zuerst in der Architektur beschrieben. Erst später fiel auf, dass die Tensegrity-Modelle den Innen-Skeletten von Zellen gleichen. Und dass schließlich, bei genauer Betrachtung, alle lebenden Strukturen nach Tensegrity-Prinzipien aufgebaut sind:

Denn alle Zellen und Organe verformen und verdrehen sich spiralig, und können sich gerade so flexibel an Herausforderungen anpassen.

Tensegrity-Prinzip (Bild: ronin@posteo.de)

Zuglinien im Zytoskelett sind wie Spiralfedern organisiert.

Organe und Organverbindungen können als mehrdimensionale Spiralstrukturen beschrieben werden, die sich im Rahmen von Einwirkungen mit der Zeit verändern. Das gilt für Blutgefäße, Nervengeflechte, Luft- und Harnwege, Darm und natürlich für das gesamte Bewegungssystem.

Betrachtet man sehr einfache, wie die hier abgebildeten Tensegrity-Strukturen von Zelten, wird klar, dass aus ihnen nur wenig Energie erzeugt werden könnte, wenn man an ihren inneren elastischen Elementen zerren würde. Tensegrity-Strukturen zu schubsen, bringt wenig Energie.

Stattdessen müssen die inneren Fasern durch Verformung des Ganzen aufgedehnt, angepasst, justiert, ausgezogen und angepasst werden. Fasern „tun“ dabei nichts: sie werden nur in Dehnung passiv aufgeladen, um die Dehn-Energie anschließend durch Loslassen elastisch wieder abzugeben können. Das kann dadurch erzeugt werden, wenn sich Muskeln zusammenziehen („Kontraktion“). Muskelkontraktion dient in solchen Strukturen dazu, das Gebilde durch die Erzeugung von zu Vorspannung zu verformen, anzupassen oder für eine Handlung vorzubereiten.

Tensegrity-Verbindungen ermöglichen so eine „exzentrische“, „negativ-dynamische“ oder nachgebende Faser-Muskel-Arbeit. Diese ist um ein vielfaches höher als „konzentrische“ (sich zusammenziehende) Muskelarbeit. Bei intelligentem Sporttraining wird daher „Konzentrik“ überwiegend genutzt, um den Körper durch dynamische Dehnungen mit Energie aufzuladen: Etwa wie ein Motor, der einen Wagen auf den höchsten Punkt einer Achterbahn zieht. Die eigentliche hocheffizienten Energieübertragungen erfolgen dann durch Entdehnung („Lösen der Bremsen“).

Vorspannung und Aufnahme äußerer Belastung speichern in Tensegrity-Stukturen Energie, die anschließend wirksam übertragen wird. Im Prinzip wie bei einer Bogensehne, die nach Auf-Dehnung (in der dem Ziel entgegengesetzten Richtung) und anschließendem Entspannen der Fingerkuppe, den Pfeil vorschießen lassen. Arm-Kontraktionen „um den Pfeil gegen das Ziel zu schieben“, wäre viel weniger wirksam.

Tensegrity-Struktur. Bild-Quelle und weitere Bilder: Tensegriteit.nl

Struktur und Entspannung!

Bei Sport und Fitness wird meist die kontrahierende Funktion äußerer Muskeln betont(„Krafttraining“). Exzentrisch-spiraliges Training wäre aber wesentlich effektiver. Weil es die Verbindungen aller Elemente in ihren Gesamt-Funktionen stärkt.

Dann gelingt es besser Belastungen (mit allen Zellen) elastisch aufzunehmen. Und Energie in Faszien-Dehnungen zu speichern und elastisch wieder abzugeben werden.

Das ist hochwirksam, faszinierend-elegant und körper-schonend zugleich.

Literatur

Beckenbeweglichkeit

Jäger H.: Bewegtes Becken, TQJ 2015, 1:16-22

Im Abstellraum meines Klassenzimmers verstaubte ein klappriges Skelett. In seiner Mitte hing etwas, das aussah wie eine am Boden durchgerostete Suppenkelle. Es konnte nur bewegt werden durch seinen nach oben reichenden Stil und die beiden Kugeln, die außerhalb des Bodenrandes mit Draht befestigt waren. In sich war es starr.

Dieses einfache Modell eines Beckens reicht völlig aus für die meisten Alltagsbewegungen.

In der Geburtshilfe dämmerte mir dann, dass das Becken eigentlich in sich beweglich sein müsste. Sonst wäre die Menschheit – vor Einführung des Kaiserschnitts – ausgestorben. Ich erlernte, wie ein kindlicher Körper durch ein Becken hindurch passt, und konnte ihn schließlich auch gut mit Händen greifen. Aber „in mir“ fühlte ich damals keine Beckenbeweglichkeit und empfand das auch nicht als Mangel.

Als ich dann irgendwann versuchte, mich von meiner Mitte aus zu bewegen, um mein Becken „wie auf Wasser“ schwimmen zu lassen, scheiterte ich kläglich. Und fragte mich warum. Möglicherweise krabbelte ich nicht lange genug als Vierfüßler. Stattdessen hing ich als Baby in einem (damals modernen) Fahrgestell, in dem ich mit den Beinchen strampeln und mich viel zu schnell fortbewegen konnte. Die Händchen griffen fröhlich in die Bücher- und Küchenregale, während die Hinterbeinchen schwächeln durften.

Das rächte sich: Ich musste später viel üben, um die Innenbeweglichkeit meines gealterten Beckens wiederzuentdecken.

Der Zusammenhang

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Bewegtes Gelenk: Knochenstangen, Muskeln, Schwerkraft, gedämpft durch Flüssigkeit und Scheiben, und gebremst durch Bänder, deren Entdehnung Schub entwickelt. (Zeichnung: Jäger)

In lebenden Wesen existieren keine voneinander trennbaren Knochen, Muskeln, Nerven, Blutgefäße, Bindegewebsfasern, sondern nur trampolinähnliche Netzwerke, die sich aus sehr unterschiedlichen Strippen und eingewebten Biegeelementen zusammensetzen. Die beteiligten Struktur- und Bewegungselemente des Ganzen stehen unter Zug und sind in ihrer Funktion integriert (sogenannte Tensegrity). Isoliert betrachtet ergeben sie keinen Sinn der Funktion und der Wirkung. (Myers)

In Tensegrity-Gebilden werden Druck und Belastung gleichmäßig über alle beteiligten Elemente verteilt. Es sei denn, irgendwo gäbe es eine Blockade: Die würde dann zwangsläufig bei Überlastung Schäden nach sich ziehen.

Um diesen ganzen Bewegungsapparat zu verstehen, muss man oder frau ihn fühlend bewerten können. Und damit das gelingt, muss gespürt werden, was Sinneszellen, leise und leicht überhörbar, melden: vom Spannungszustand innerer Muskulatur, von den Körperrhythmen, von Wärme oder Schmerz und von Strukturen, die sich wechselseitig oder zeitgleich anspannen und entspannen.

Menschen sind aufrecht stehende Vierbeiner. Sie können mit Abstand besser laufen und werfen als andere große Affen. Beim Gehen wackeln sie nicht wie Schimpansen weit vorgebeugt mit dem Oberkörper. Und sie müssen sich auch nicht mühselig mit Hilfe langer Arme nach vorne schieben. Vielmehr konnten unsere Urahnen flott und ausdauernd durch die Savanne laufen und mit Steinen in der Hand Kleingetier erjagen.

Dazu befähigte sie und uns unter anderem die perfekte Konstruktion des Beckens und des Schultergürtels. Laufen ist leichtfüßiges, der Schwerkraft entgegenwirkendes, parallel zur Erde ausgerichtetes Springen und Hüpfen, bei dem idealerweise, ähnlich wie bei Kängurus, Bewegungsenergie dazu benutzt wird, elastische Strukturen aufzuladen und wieder zu entspannen. Beim Werfen dagegen werden die Bewegungsenergie und die Schwerkraft in vertikal wirkende Kraft verwandelt, wobei sich die Faszienzüge vom Boden bis zu den Händen aufdehnen. Genial am Werfen ist, dass die Muskelkraft im Prinzip nur dazu benötigt wird, Gelenke und Fasern maximal in die dem Wurf entgegengesetzte Richtung aufzuziehen. Dazu muss beim Gehen oder Laufen der Bewegungsrhythmus der Diagonaldynamik genau im richtigen Moment in die Passmotorik des Werfens übergehen (Kirschmann, Liberman, Roach, Weywar).

Die Koordination von Laufen und Werfen beruht nicht nur auf den Fähigkeiten des Beckens, Lasten aufzunehmen und mit dem Boden zu verbinden, und der Schulter, sich weit nach hinten räkeln zu können. Sie ist zudem eine Hochintelligenzleistung, zu der Affen nicht fähig sind. Befehle des Gehirns an den Bewegungsapparat wären aufgrund der trügerischen Meldungen der Sinnesorgane viel zu langsam. Stattdessen muss das Gehirn Meldungen der inneren und äußeren Sinne, Vergangenheitserfahrungen und Zukunftsvisionen zeitgleich parallel miteinander abgleichen. Damit entsteht eine „Fühl-Körper-Bewusstheit“, die nicht nur Nervenimpulse, sondern auch die viel schneller geleiteten Spannungszustände der Sehnenfasern einbezieht.

In diesen Gesamtschwingungsmodus rutschen dann die automatisch ablaufenden antrainierten Bewegungsmuster wie von selbst und genau passend hinein. Wer auf Bewegung reagiert und schnell wirft, kommt immer zu spät. Werfen muss im Bewegungsfluss des Ziels und des Werfenden geschehen: nicht schnell, sondern sofort. Und das geschieht nur, wenn das Gehirn zulässt, dass das Becken und die Schulter das tun, was sie gut können.

Becken und Geschlecht

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Männlicher und weiblicher Schambogen (Zeichnung: Jäger)

Das männliche Becken mit einem spitzeren Schambogenwinkel befähigte unsere Steinzeiturgroßväter dazu, tagelang Antilopenherden zu verfolgen, um schließlich ermüdet-kranke Tiere mit einem Wurf zu erledigen. Das weibliche, breiter ausladende Becken eignet sich dagegen besonders für differenzierte Innenbewegungen, die Lasten aufnehmen und sie wieder abgeben.

Bei Frauen liegen die Sexualorgane geschützt und verborgen im Becken, beim Mann imponieren sie nach außen. Schamanen aller menschlichen Kulturen maßen diesem scheinbar zufälligen anatomischen Unterschied große Bedeutung bei.

Das Ziel ihrer urzeitlichen Rituale war Machtausübung in sozialen und in Umwelt-Beziehungen: Die Beeinflussung und Beherrschung des Verborgenen. Die mächtigste Energie der damaligen Menschen, die sie von Neandertalern unterschied, war Eros, die starke Aufteilung männlicher und weiblicher Rollen. Sie vermittelten, was getan werden musste, um „als Held“ oder „Schönheit“ begehrt zu werden. Sex (Bedürfnisbefriedung) war nur erreichbar, wenn zuvor viel geleistet und das Leben riskiert worden war. Daher bringt Eros viel Sehnsucht und Verlangen mit sich und eher wenig Sex. Die Macht von Eros wurzelt aber in der Sexualfunktion, und die liegt im Becken. In allen frühen menschlichen Kulturen ging es deshalb darum, die mächtige Urkraft der Sexualität zu beeinflussen und für Machtausübung nützlich zu kanalisieren.

Schamanen orteten weltweit die dafür entscheidenden Energiezentren etwa da, wo die weiblichen Sexualorgane im Becken ruhen, und nicht etwa im Darm oder in den männlichen Sexualorganen. Schamanen in Mexiko vermuteten zum Beispiel, dass Frauen direkter mit der „Matrix“, dem Energienetz, das alles mit allem verknüpfe, verbunden seien. Männer müssten daher wesentlich härter trainieren, um sich eine Beziehung zum „Deep Mind“ zu erarbeiten: zur reinen, klaren, punktgenauen, unmittelbar und widerstandslos wirkenden Intension. Frauen „hätten die Verbindung zwar, aber wüssten es oft nicht“. (Castaneda)

Ähnliche Auffassungen finden sich weltweit in den Ritualen heute noch steinzeitlich lebender Stämme und in den Religionen, die schamanistische Praktiken integrierten, wie Voodoo, Sufi, Tantra, tibetanischer Buddhismus, Daoismus (Ishinpō u. a.). Das Becken war und ist für erlebnisorientierte steinzeitliche Heiler und Zauberer und auch für heutige philosophische Mystiker ein Ort der Lebenskraft, die pulsiert und alles andere durchströmt.

Bei Untersuchungen, ob sich männliche und weibliche Top-Level-Kämpfer und Kämpferinnen im Karate unterschiedlich verhalten, fand man unter anderem heraus, dass Frauen eher treten und Männer eher schlagen. (Tsolakis, Tabben). Das hat etwas damit zu tun, dass Männer und Frauen unterschiedlich gebaut sind. Das knöcherne weibliche Becken mit breiterem Schambogenwinkel eignet sich besser zum Aufnehmen von Last und zum Tragen. Frauen sind von ihrem Bewegungsapparat stabiler vertikal ausgerichtet und in der Bewegungsfähigkeit weniger eingeschränkt als Männer. Die sind dagegen eher ausdauernde (horizontal bewegte) Läufer und vor allem Werfer, das heißt sie können die Dynamik des Schultergelenkes besonders gut nutzen. Vielleicht spielen aber auch psychologische Gründe eine Rolle: Bei Tritten bleiben Gegner eher auf Distanz und die Brust ist geschützter.

Becken und Gehirn

Zum archaisch-schamanistischen Erfühlen des Beckens passen auch moderne wissenschaftliche Beobachtungen. Denn das Becken ist in einer ganz besonderen Weise durch Nerven versorgt, die es – anders als den weitgehend selbstständigen Darm – direkt mit dem Gehirn verbinden. Der Prozess der störungsfreien Verbindung dieser beiden Organe erfordert eine enge Mutter-Kind-Bindung in den ersten Lebensmonaten und Jahren. (Jäger) In diesem Zeitraum wachsen Nervenbahnen vom Stammhirn in die Beckenregion und werden durch eine Schutzschicht ummantelt. Erst wenn das geschehen ist, werden Kinder trocken. Bis sie dann so komplexe Funktionen wie einen Orgasmus beherrschen, vergehen noch viele Jahre.

Die bis ins Becken reichenden Fasern, die über den Vagus-Nerv verlaufen, haben im Wesentlichen eine beruhigende Funktion. Sie vermitteln, dass sowohl „sich nicht bewegen“ als auch „aktiv sein“ lustvoll sein können. Beides ist Grundlage für befriedigende, spielerisch-leichte Sexualität. Und ohne diese beruhigende Funktion entstünde Stress: Stillhalten als Krampf und Aktivität als Blockade. (Porges)

Kinder lernen in den ersten Lebensjahren, Beckenmuskeln rhythmisch zeitgleich oder sich abwechselnd anzuspannen und loszulassen. Die Veränderung von Spannung und Entspannung der Beckeninnenorgane verläuft weitgehend unbemerkt. Zum Beispiel wird die Harnblase bei entspannter Muskulatur stetig aufgefüllt, während ihr Verschluss dafür sorgt, dass kein Urin unbemerkt entweichen kann. Beim Wasserlassen lässt die Muskulatur des Blasenbodens los und die Blasenmuskulatur zieht sich zusammen. Dieses Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung gilt in ganz ähnlicher Weise für die Funktion der Gebärmutter während des Menstruationszyklus, der Schwangerschaft (Verschluss des Muttermundes und Entspannung der Haltemuskeln) und der Geburt (Loslassen des Muttermundes und zugleich Anspannung durch Wehen). Beim Mann sind es die Füllungszustände in den Samenblasen und in der Prostata, bei denen Spannung und Entspannung durch Entleerung sich abwechseln. Die dafür nötigen Steuervorgänge sind sehr komplex, beziehen zahlreiche Hirnfunktionen und Hormone mit ein und sind deshalb sehr störanfällig.

Konflikte im Becken

Sinnliche Wahrnehmung, das Empfinden von Energiefluss und die physischen Funktionalität des Beckens sind sehr eng miteinander verwoben und daher für auch Störungen leicht anfällig. Wenn Menschen lieben entstehen Gefühle und Empfinden in einer Verkörperung, bei der insbesondere das Becken und seien Innenorgane von entscheidender Bedeutung sind. Das Erleben beglückender Sexualität kann dann auch im Bewegungsalltag entspannte Beckenbewegungen begünstigen. Umgekehrt können Andererseits können Missbrauch, Traumatisierung, Zwangsvorstellungen, Versagens-Ängste und Stress zu Blockaden im Beckenbereich führen und die Beckenbeweglichkeit behindern oder erstarren lassen.

Die Vorstellungen, die im Gehirn aus zuvor abgespeicherten Körpererfahrungen und Gefühlen entstehen, gehen den Beckenbewegungen voraus. Sie sorgen für passende (oder unpassende) Muskel-Sehnen-Knochen-Blutgefäß-Einstellungen, die wiederum die Bereitstellungsenergie bestimmen, die der eigentlichen Bewegung vorausgeht.

Das „Bewusstsein“ braucht viel zu lange, um ein Ich zu erzeugen und das, was da geschieht, zu bewerten. Wenn es in komplexen Bewegungszusammenhängen denkend und scheinbar steuernd herumfummelt, blockiert das Becken, wie so oft bei modern-sitzend-gestressten Menschen. Was der Beckenfunktion vorausläuft, ist Intension, eine Vorstellung, die einen sehr konkreten Raum der Möglichkeiten eröffnet (zum Beispiel „Sex!“). Das Becken stimmt dem freudig zu und bereitet sich voller Energie darauf vor und dann geschieht es auch.

Psychosozialer Stress und sexuelle Störungen können leicht zu „Konflikten im kleinen Becken“ führen: zu vielgestaltigen Krankheitsbildern wie häufiger Harndrang, chronische Reizungen (Prostatitis, Urethritis), Schmerzen, Rhythmus- und Hormonstörungen, Endometriose und vielen andern psychosomatisch beeinflussten Leiden.

Das Gehirn erzeugt also besser keine Befehle, was das Becken tun soll. Therapeutische Anweisungen, wie „entspann dich, lass die Hüfte los, sink in die Mitte, …“ sind zwar gut gemeint, aber eher verspannungsförderlich. Denn die Fähigkeit, die Hüftregion (das Kua) zu öffnen, hat etwas mit Gelassenheit, Selbstvertrauen und der Erfahrung befriedigender Sexualität zu tun. Wenn die Psyche entspannt, kann es das Becken vielleicht auch. Und geht es dem Becken gut, strahlt das zurück auf die Stimmung, die im Gehirn erzeugt wird.

Beckenmechanik

Die Elemente, aus denen das Becken aufgebaut ist, sind nicht voneinander isoliert: Muskeln-Sehnen-Knochen bilden im Becken kontinuierliche Übergänge, bei denen alle Zellen durch innere Kollagenfasern (Zytoskelette) miteinander verwebt sind. Knöchern-biegsame Elemente dienen Halt und Beschleunigung. Fasern nehmen Druck, Zug und Fliehkräfte auf, speichern durch Streckung Bewegungsenergie und bremsen Bewegung ab. Die Innenbänder des Beckens gehören zu den stärksten des Körpers. Die Kontraktion von Muskeln dient der Faszienaufdehnung und dem Erzeugen von gerichtetem Schub, während andere Muskelfasern gerade entspannen.

Die Außenbewegungen des Beckens sind willkürlich relativ gut beeinflussbar. Das Becken ist aufgehängt in den großen Muskel- und Bindegewebssträngen, die von den Füßen über Rücken und Brust bis zum Kopf ziehen. Je besser diese Verbindungen in Ganzkörperbewegungen (bei Yoga, Qigong, Taijiquan, Feldenkrais, Alexander, Pilates …) trainiert werden, desto lockerer kann das Becken durch Außenbewegungen in die für seine Funktion optimalen Positionen rutschen. Es kann zum Beispiel seitlich oder nach vorne oder hinten gekippt, gebeugt oder gestreckt werden.

Die Innenbewegungen des Beckens sind dagegen der Willkür nur schwer zugänglich und deshalb auch weitgehend unbekannt. Um sie wahrzunehmen, muss die große äußere Muskulatur, die das Hüftgelenk fixiert, entspannt werden. Die Aufmerksamkeit muss in den Beckeninnenraum fließen, am besten bei bleibender Wahrnehmung des ganzen Körpers und des Atemflusses.

An den Innenbewegungen des Becken sind Knochen beteiligt: Steißbein (Os sacrum), die schwanzähnlichen Knöchelchen (Os coccygyum) und die beiden schaufelartigen Darmbeine (Os Ileum). Sie sind mit starken Bändern zu den Gelenken der Lendenwirbelsäule und zum Oberschenkelknochen verbunden. Weitere Bänder vertäuen die Knochen untereinander (Ligamentum sacrospinale und Ligamentum sacrotuberale).

Die Auslenkung der Fasern der Beckeninnengelenke macht zwar in der Regel nur wenige Millimeter aus. Ihre Dehnung kann aber eine erhebliche Schubwirkung entfalten. Dabei sind folgende, hier zunächst isoliert betrachtete Bewegungen möglich (Calais-Germain):

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Darmbein und Kreuzbeindrehungen (Jäger)

Mehr Platz im Beckeneingang schaffen:

  • Der untere Teil des Kreuzbeins nähert sich dem vorderen Beckengelenk („Symphyse“): sogenannte „Gegen-Nutation“ des Kreuzbeins.
  • Drehung des Darmbeinschaufeln nach hinten bei fixiertem Steißbein: sogenannte „Nutation“ der Darmbeine.
  • Der obere Anteil der Darmbeine kippt nach außen, der unterer nach innen: sogenannte Darmbeinabduktion.

Formveränderung des Beckens

  • Innendrehung (Rotation) der Darmbeine: Stauchung des vorderen Beckengelenkes („Symphyse“)
  • Außendrehung (Rotation) der Darmbeine: öffnende Dehnung des vorderen Beckengelenkes („Symphyse“)

Mehr Platz im Beckenausgang schaffen:

  • Der untere Teil des Kreuzbeins entfernt sich von der Symphyse: „Nutation des Kreuzbeins“
  • Drehung der Darmbeine bei fixiertem Steißbein: „Gegennutation“ der Darmbeine nach vorn. (hier müsste noch ein Hinweis auf die Richtung dazu)
  • Der obere Anteil der Darmbeine kippt nach innen, der untere nach außen: sogenannte Darmbeinadduktion.
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Öffnung des Beckeneingangs („Supination“), Grün: Öffnung des Beckenasusgangs („Pronation“) (Jäger)

Solche inneren Bewegungen erfolgen immer kombiniert und abhängig von der Position und Außenbewegung des Beckens. Die Verbindung der Möglichkeiten der Beckeninnenbewegungen führt im Prinzip zu einer Öffnung des Eingangsbereichs (sogenannte „Darmbein-Supination“).

Die Verlagerung des Gewichtes auf einen Fuß, Innen- und Außenrotation, Wegstrecken (Abduktion) und Heranführen (Adduktion) des Beines, Beugung in der Kniekehle und Hüftdrehung spiegeln sich in Auslenkungen der Innenbewegungen, die für einen elastischen Druckausgleich sorgen. Bei Verspannungen der Innengelenke ist es möglich, ihre Beweglichkeit durch Massagen, Wärme und sanften Schub auf den oberen Rand der Darmbeine und auf das Steißbein zu lösen.

Das, was bei einem Skelettmodell als Loch erscheint, wird bei einem lebenden Becken von einer trampolinartigen Faszien- und Muskelschicht erfüllt. Sie sieht von oben betrachtet becherförmig aus und besteht vereinfacht aus drei Komponenten. Im seitlichen Bereich ziehen starke und tief unter der Gesäßmuskulatur liegende Muskeln vom Rand des Kreuzbeines und von der vorderen Öffnung des Darmbeines zum oberen Höcker des Oberschenkels. Im Wesentlichen öffnen sie die Hüfte und sorgen für Drehung (Rotation) nach außen.

Die untere Öffnung wird verschlossen von einer Muskelmembran, die vom Steißbein zum Unterrand der vorderen Darmbeinöffnung zieht. Sie lässt eine Lücke für den Durchtritt der Harnröhre, bei Frauen der Vagina und für den Darm. Sie enthält einen starken Muskelstrang, der den Darm nach hinten ziehen kann (Levator ani Muskel).

Eine dritte Muskelschicht bedeckt den Bereich der Faszienlücke im Schambogenwinkel dreiecksförmig und hilft beim Verschluss der durchtretenden Körperöffnungen. Die Funktionalität der Beckeninnenmuskulatur ist bei Männern deutlich stabiler, weil bei ihnen nur die Harnröhre und der Darm durchtreten müssen. Senkungsprobleme sind daher bei Männern Raritäten, während sie im Alter bei Frauen relativ häufig vorkommen.

Beckenbeweglichkeit und Geburtsvorgang

Die menschentypische Fähigkeit zu intensiver sozialer Kommunikation erfordert ein sehr großes Gehirn. Babys werden deshalb, im Vergleich zu anderen Säugetieren, sehr früh geboren, weil sonst ihr relativ großer Kopf das Becken nicht mehr passieren könnte. Das ist (auf natürlichem Weg) nur möglich bei Nutzung der Beckeninnengelenke. Die Dynamik der inneren Bewegung entsteht nicht nur durch Anspannung und Schwerkraft, sondern ebenso durch Loslassen. Die Entspannung („die Türöffnung“) muss immer einem Druckaufbau („durch die Tür treten“) vorausgehen.

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Darmbeine, Lendenwirbelsäule und Ileo-lumbale Haltebänder. Sie sind nicht zum Halten geeignet und schmerzen leicht bei fehlerhaftem Anheben aus der Lendenwirbelsäule. Bei schwangeren Frauen bereiten sie Beschwerden, sobald durch Auflockerung die Innenbeweglichkeit des Beckens zunimmt (Jäger)

Gegen Ende der Schwangerschaft senkt sich der kindliche Kopf ins Becken, während sich die Beckeninnengelenke lockern. Beides ist beschwerlich und oft auch mit Rückenschmerzen verbunden. Kippbewegungen des Beckens nach vorn-hinten, nach rechts und links und kreisende Bewegungen (liegende Acht) können diesen langsamen Prozess des „Einfädelns“ des kindlichen Kopfes erleichtern.

Während der Geburt verändert das Becken seine Gestalt. Die Verformung durch den Zug der Rückenmuskeln auf das Kreuzbein („Nutation“, „Gegennutation“) und die Stellung des Oberschenkels (Abduktion, Adduktion, Innen- und Außenrotation) kann von der Frau bewusst gesteuert werden. In der Eröffnungsperiode der Geburt, wenn der Muttermund noch weitgehend geschlossen ist, können Frauen sehr aktiv durch Positionswechsel und Beckenbewegungen das Tiefertreten des Kopfes in den Beckeneingang unterstützen. Sie können spazieren gehen, sich während der Wehe vom Partner gehalten „fallenlassen“, die Beine in unterschiedliche Richtungen horizontal und vertikal verdrehen oder Treppen steigen, ausruhen und sich zwischendurch durch Gespräche ablenken.

Rutscht der Kopf dann in die mittlere Beckenebene, wird die äußere Beweglichkeit eingeschränkt. Die Konzentration auf die innere Entwicklung nimmt zu. Der mentale Zustand kann sich dabei deutlich verändern: Eine „Bewusstheit“, die bisher glaubte, alles unter Kontrolle zu haben, weicht einer klaren, zielgerichteten Intension, die nichts mehr steuert, sondern stattdessen den automatisch laufenden physiologischen Vorgang möglichst günstig beeinflusst. Dieser scheinbare Kontrollverlust kann Angst und Widerstand auslösen, insbesondere bei Frauen, die sonst alles gern „im Griff“ haben, oder die der Automatik nicht trauen können, weil sie früher verletzt oder missbraucht wurden.

In der letzten Phase der Geburt (Austreibungsperiode) muss der kindliche Kopf im Becken der Frau eine Drehung vollziehen. Das Kind tritt mit dem Längsdurchmesser des Kopfes in das Becken ein und kommt mit dem Hinterkopf über den Damm hervor. Damit das möglich ist, muss sich der knöcherne Beckenausgang erweitern, und das ist nur möglich, wenn sich zugleich der Beckeneingang, der jetzt über dem Kopf liegt, schließt. Idealerweise hat das Beckeninnere dabei Bewegungsfreiheit und ist so ausgerichtet, dass die Schwerkraft gleichgerichtet (synergistisch) wirken kann. Ein Tiefertreten des Kindes durch den Zug der Schwerkraft und den Schub der sich zusammenziehenden Gebärmutter dehnt die Haltebänder des Beckens auf, deren anschließende Ent-Dehnung das Kind weitervorwärtstreiben.

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Hüftgelenk: Kapsel und starke Bänder (Jäger)

Schließlich wird die Innenmuskulatur des Beckens so weit wie möglich nach hinten und außen weggezogen, um den Durchtritt durch die muskuläre vordere Lücke zu erleichtern. Dieser Prozess der Aufdehnung der Gewebeplatte des Beckenbodens dauert einige Zeit, und überstürztes Antreiben der Gebärenden („Pressen!“) kann leicht zu Verletzungen führen.

Beckenbewegung in der Übungspraxis

Viele Zusammenhänge, die bei der Geburt beobachtet werden können, haben auch für Qigong und Taijiquan Bedeutung: Die Abfolge von Intension – Bereitstellungsenergie (Atem) – Bewegung. Und natürlich auch das Loslassen, um Beckeninnenbewegungen zu ermöglichen. Oder die Wirkung der Schwerkraft, die Bänder aufdehnt, in denen Bewegungsenergie gespeichert werden kann. Und auch das Zurückziehen der Beckenmuskulatur nach hinten und außen („Anus einziehen“). Und schließlich das Öffnen der Hüftgelenksregion in Synchronisierung mit der Schulter.

Bevor mit dem Becken etwas „gemacht“ wird, und sei es „zu entspannen“, wäre es gut, etwas zu erleben. Ganz ohne Zutun. Zu lauschen, ob es sich gut oder unangenehm anfühlt. Spüren, was die Sinneszellen melden, und es vielleicht aus einem Stand langsam schaukelnd in Bewegung gleiten zu lassen.

Anstrengungen, Beckenbewegungen richtig-korrekt und zielorientiert-geschickt auszuführen, können leicht zu Verspannungen führen. Deshalb ist mentales Loslassen so wichtig: weniger wollen und mehr bei dem sein, was ist. Wenn es gelingt, den ganzen Körper zu fühlen, kann sich das Becken leichter entspannt in einen Zusammenhang einfügen. Damit ordnet sich Bewegung in einen Gesamtkontext und das Risiko für überspannte Fokussierungen sinkt.

Sensibilitätstraining des Beckens ist wichtiger als Kontraktionsübungen, die Muskulatur stärken sollen. Zum Beispiel ist es möglich, wahrzunehmen, welche Auswirkungen die Veränderungen der Druckverhältnisse im Bauchraum während der Atmung haben. Bauchatmung (oder oft etwas ungewohnte) umgekehrte Bauchatmung sollten fließen. Werden sie bewusst gesteuert, verkrampfen sie.

Im Stehen kann sich Beckenbeweglichkeit entfalten, wenn bei spannungsarmer Aufrichtung Hüft- und Schultergelenke sich gleichermaßen lösen. Es ist dann angenehm mit dem Becken zu spielen: liegende Acht, Diagonalbewegungen, Rechts-Links-Bezugswechsel, Kippen, Kreisen, Innen- und Außenverdrehung eines Beines, Einbeinstand, Hocken, Entengang oder bewegtes Sitzen auf einem Gymnastikball.

Bei Partnerübungen oder mit dem Taiji-Stab (Bang) kann geübt werden, unter Belastung im Becken loszulassen, während die Hände tasten und fühlen. Und dann kann trainiert werden, wozu das Becken gebaut ist: Last aufnehmen und abgeben, Bewegungsenergie speichern und wieder hervorschnellen lassen.

Beim Üben lohnt es, genderspezifische Unterschiede wahrzunehmen. Frauen und Männer sind unterschiedlich gebaut. Sie fühlen und spüren anders in ihren Becken. Statt diese Gegebenheiten geschlechtsneutral zu ignorieren, können sie als Qualitäten wahrgenommen und genutzt werden.

Literatur

  • Beckenanatomie: Anatomyzone
  • Calais-Germain B: Anatomie der Bewegung, Marix 2012; dies.: Das bewegte Becken, Elwin Staude 2013
  • Castaneda C: Magical Pases. Harper Collins 1998
  • Ishinpō u. a.: Übersetzung sexueller Praktiken aus der Tang- und Sui-Zeit  und Douglas Wile: Art of the Bedchamber: The Chinese Sexual Yoga Classics Including Women’s Solo Meditation Texts, 1992, Auszüge
  • Jäger H: Wie wichtig sind die ersten Lebenstage? 2013
  • Kirschmann: Das Zeitalter der Werfer, Eigenverlag 1999
  • Lieberman DE et al.: Foot strike patterns and collision forces in habitually barefoot versus shoe runners, in Nature 2009/463, Seite 531-535
  • Myers T: Anatomy Trains, Myofascial Meridians, Churchill Livingstone 2014
  • Porges St: The polyvagal perspective, in Biological Psychology 2007; 74, S. 116-143; ders.: Love: an emergent property of the mammalian autonomic system, in Psychoneuroendocrinology 1998; (23)8, S. 837-861; ders.: Social engagement and attachment: a phylogenetic perspective, in Annals of the New York Academy of Science 2003; 1008, S. 31-47; Website: http://stephenporges.com (z. T. auch auf Deutsch)
  • Roach et al.: Elastic energy storage in the shoulder and the evolution of high-speed throwing in Homo, in Nature 2013/498, Seite 483–486
  • Tsolakis C et al.: Acute effects of two different warm-up protocols on flexibility and lower limb explosive performance in male and female high level athletes, in Journal of Sports Science and Medicine, 2012 11(4), Seite 669–675
  • Tabben et al.: Time-motion, tactical and technical analysis in top level karatekas according to gender, match outcome and weight categories, in Journal of Sports Sciences 2014
  • Weywar A: Gehen-Laufen-Werfen. Die angeborene Fortbewegung des Menschen nach Dr. Max Thun Hohenstein, Institut für Sportwissenschaft Salzburg 1996

Das Becken wiederentdecken

Das Becken wiederentdecken
Spüren, fühlen und sich frei bewegen
TQJ 60, 2/2015

Wir sind Vierbeiner.

Deshalb könnten Schultern und Becken eigentlich katzenhaft-elegant zusammenspielen. Manchmal tun sie es auch, zum Beispiel wenn wir selbstvergessen tanzen. Die meisten von uns halten sich aber mit einem erstarrten Becken über den Hinterbeinen, oder auch nur über den Sitzknochen. Und sie gestikulieren, ansonsten unbewegt, mit ihren Vorderbeinen, oder auch nur mit dem rechten Mausfinger.

In unserer Kultur überschätzen wir die Bedeutung unseres Beziehungs-Organs Gehirn und weisen dem Rest unserer Zellen, insbesondere dem Unterleib, eine dienende Funktion zu. Wir trainieren den Körper, der unser „Ich“ durch die Gegend trägt, damit der Oberkörper kräftig und die Beine lauffähig bleiben. Das Becken ist uns fremd geworden und verliert im Alltag unserer Zivilisation immer mehr an Bedeutung. Es dient zum Sitzen und zur Entleerung verschiedener Ausscheidungen.

Bei Steinzeitjägern kam die Lebensenergie noch von dort, wo bei den Frauen die inneren Sexualorgane liegen. Heute dagegen glauben wir Büro-Höhlen-Bewohner, sie käme aus dem Kopf, der vom elektronischen Geflacker unserer vielen Geräte bestimmt wird. Die Genitalregion hat gegenüber dem Rest ihre frühere mythische Bedeutung und ihre Spontaneität verloren und reagiert nur noch auf Befehle. Trotzdem bleibt sie tabuisiert: untergeordnet, kulturangepasst kontrolliert und verborgen. Und oft ist sie verkrampft durch sexualrepressive Erziehung, durch Enttäuschungen, Verletzungen oder Missbrauch.

mann fett
Das ist mein Kopf. Er ist so klug. Ich bin stolz auf ihn. In ihm wohnt mein Ich, dass dem Körper sagt, was er tun soll. Und da ist mein Körper. Er trägt den Kopf und gehorcht mir nur widerwillig. Ich mag ihn nicht besonders. Am besten sieht er in einem Wintermantel aus. Ich versuche ihn zu optimieren, zu verschönern oder durch Herumscheuchen fit zu halten. Leider nur mit mäßigem Erfolg. (Zeichnung: Jäger)

In vielen schlummert die Sehnsucht, sich selbst wieder ganz zu erleben und damit auch den Unterleib wiederzuentdecken und seine Dynamik zum Leben zu erwecken. Bevor aber das Becken und seine Innenorgane tun können, wozu sie gebaut sind, muss das Gehirn entspannen und die Kontrolle aufgeben. Wenn dem Becken stattdessen befohlen wird „etwas zu tun“, zum Beispiel „los-lassen“ oder „entspannen“, wird es sich nur noch mehr verhärten und verspannen. Das Training der Beckeninnen- und Außengelenke und deren Bänderverbindungen und Muskeln sollte deshalb durch ein Versöhnungsangebot der übermächtigen Kopf-Lastigkeit, die sich meist „Ich“ nennt, an das „unterbewusste“ Becken ergänzt werden, an unser „Selbst“, das keine Worte kennt.

 Sich das Becken vertraut machen

Üblicherweise beginnt Beckenbodentraining mit angespannt-gehaltenen Übungen der Muskeln, die gekräftigt werden sollen (so genannte isometrische Kontraktionen). Zum Beispiel werden nach einer Entleerung der Harnblase die Beckenboden-Muskeln eingezogen und so gehalten („Bis zehn zählen“). Die Stellungen können dabei je nach Trainingsprogramm sehr unterschiedlich sein, gegebenenfalls wird eine tastende Hand an das Becken gehalten oder Biofeedback-Geräte oder ein Finger werden eingeführt. Oder es werden Kugeln in die Scheide gelegt, die gegen Widerstand gehalten werden müssen. Nach der Anspannung erfolgt eine Pause der Entspannung („Bis zehn zählen“). Und das Ganze wird zehnmal wiederholt, drei- bis fünfmal pro Tag.

Diese Methoden richten sich meist an Personen, die einen Leidensdruck verspüren und ein Problem beseitigen wollen, etwa eine Senkung der Becken-Innenorgane bei Frauen. Sie müssen sich deshalb anstrengen und ihren „inneren Schweinehund“ überwinden und jetzt (leider) etwas tun, obwohl sie die Übungen eigentlich „blöd“ finden. Wenn sie dabei keinen Bezug zu ihrem Becken entwickeln, werden diese Anstrengungen erfahrungsgemäß von sehr kurzer Dauer sein. Über kurz oder lang landen die Betroffenen dann doch beim Beckenchirurgen. Vielleicht geht es aber auch anders. Vielleicht, indem die ersten Schritte wesentlich langsamer erfolgen, damit sich Gehirn und Becken versöhnen können. Und erst dann hochwirksam-intensive Trainings von Muskeln, Faszien, Knochen und Gelenken beginnen.

Beckeninnen-Bewegungen zulassen

Um das Becken in sich zu bewegen, wurden über Jahrtausende zahllose Methoden entwickelt, die in den unterschiedlichen Kulturen immer effektiver ausgestaltet und verfeinert worden sind. Einige betonen eher die Eleganz des Bewegungsflusses, andere das elastische Aufnehmen und Abgeben von Last, andere die Verbesserung der Beweglichkeit durch Dehnung. BewegungslehrerInnen besitzen in der Regel eine Fülle wirksamer Übungen aus diesem Bereich, so dass hier das Rad sicher nicht neu erfunden werden muss.

Das Wesentliche all dieser Übungen ist, dass der Kopf aufhört, dem Becken Befehle zu erteilen: Denn das Becken kann bewusstes äußeres oder inneres Gebrabbel definitiv nicht verstehen. Hört das Becken beispielsweise den Befehl „Sink!“, wird es hart und sinkt natürlich nicht. Aber weil nun mal gesunken werden muss, tun es dann halt die Knie. Das Becken braucht, wie der Atem, keine bewussten Anweisungen, die ohnehin immer zu spät kommen, sondern Vertrauen, dass es loslassen kann, wenn Kräfte wie vor allem die Schwerkraft auf es einwirken.

Also könnte zum Beispiel geübt werden, wie die flinken Gelenke (Knie, Lendenwirbel und andere) bewusst in einer aufgerichteten Position belassen werden, in einer entspannt-aufmerksamen Körperhaltung, die einer guten Verbindung der Faszien entspricht. Und dann lasse man oder frau einfach die Schwerkraft zu, ohne irgendetwas zu tun, nur um zu beobachten, wie die Fasern im Becken nachgeben und sich zugleich elastisch aufladen, und wie sich dabei, ohne jedes Zutun, das Gespür für die Schultern, den Hals, die Hände und natürlich die Fußsohlen verändert.

Mein wesentlicher Fehler beim Erlernen wirksamer Methoden aus Yoga, Qigong und Taijiquan war, dass ich zu viel wollte. Ich kam unter anderem deshalb nur langsam vorwärts, weil ich es viel zu schnell, zu gut machen wollte. Und weil mich das frustrierte, trainierte ich umso verbissener, was aber keineswegs zu schnelleren Erfolgen führte.

Ich glaubte zum Beispiel verstanden zu haben, dass die Intension (Yi) der Bereitstellungsenergie (Qi) und die der Bewegung vorausgeht. Wenn aber das „Bewusstsein“ oder etwas, was sich sonst als „Mind“ oder „Ich“ bezeichnet, einer spontanen Bewegung oder dem Atemimpuls Befehle erteilt, hinken diese etwa um 0,3 Sekunden nach, und der Körper folgt nur schlecht und recht. So entsteht Krampf. Dass Intension im Gehirn entstehe, ist ein großes Missverständnis. Stattdessen sind alle Körperzellen gleichermaßen an ihrer Entstehung beteiligt in ihrer Verbindung mit dem Raum und der Situation, die sie umgibt.

Starke Intension gleicht einer optimalen Verbindung mit dem, was gerade geschieht. Die Intension eines Chirurgen bezieht die Spitze seines Skalpells mit ein, die Intension eines Jongleurs fliegt mit seinen Bällen und deren Flug, den das langsame „Bewusstsein“ besser nicht stört. Die Intension gleicht einem Sog, der im Geschehen wie ein sanft gehaltenes Ruder Akzente setzt, ohne Mast, Segeln noch Wind vorzuschreiben, wie sie zu handeln haben.

Das Becken funktioniert deshalb am besten, wenn es in seinen Fähigkeiten nicht durch das Gehirn behindert wird. Die Intension des Beckens entsteht aus den Bindegewebszügen der Innengelenke, bei deren Dehnung und Ent-dehnung je nach Gelenkstellung und Bewegung Informationen wesentlich schneller übertragen werden, als es Nerven möglich wäre. Das Gehirn kann diese wesentlich schnelleren Beckeninformationen nur bremsen, stören oder aber ihnen lauschen und sie gewähren lassen.

Das zu erfahren erfordert Training.

Übungen

Der Schlüssel zur Entdeckung der Intension des Körpers liegt darin, ihm den Raum zu geben, das zu tun, was es bereitwillig tut, wenn er gelassen wird.

Die hier beschriebenen einfachen Übungen ent-schleunigen den Einstieg zu wirksamen, aber komplexeren Trainingsmethoden. Sie helfen, den Körperzellen unabhängig vom Gehirn genügend Zeit zu lassen, dahin zu strömen, wo sie sich energiearm, plastisch und flexibel an eine Bewegung anpassen können.

Für alle Übungen gilt: Wenn der Geist nicht entspannt, beruhigt sich die Atmung nicht. Wenn die Atmung nicht sanft fließt, ist die Bewegung nicht gewandt. Wenn sich nicht alle Gelenke gleichzeitig bewegen, entsteht irgendwo ein Stopp, eine Verspannung.

Eine Kurzform der Übungen kann als Video angesehen werden (s.u.)

Alles wahrnehmen, fühlen, spüren

Ziel:
Verbindungen und Beziehungen erleben. Raum, Umfeld, Schwerkraft, den ganzen Körper, außen und innen wahrnehmen. Eigentlich gibt es kein Becken, keinen Rumpf, keinen Kopf und vielleicht sogar kein „Ich“. All das existiert nur in Verbindung und in Beziehung.

Methode:
Meditation im Liegen in einer Gruppe. Für gemütlich-kuschelige Atmosphäre sorgen. Ein oder zwei Bücher oder Holzklotz unter den Kopf legen (Hinterkopf hoch, Kinn sinkt). Hände neben dem Körper ablegen. Loslassen, äußere Geräusche und Signale wahrnehmen. Nichts bewerten. Innere Signale wahrnehmen, Atmung, Herzschlag, Ohrgeräusche. Die Schwerkraft wahrnehmen, die Kontaktpunkte zum Boden. Den Raum spüren: unten, oben, rechts, links, in Fuß- und Kopfrichtung. Alle Meldungen der äußeren und inneren Sinne zusammen und gleichzeitig spüren, wach aufmerksam liegen bleiben, einfach so, und die Ruhe genießen.

Sich von außen durch die Hände spüren

Ziel:
Sein gewohntes Bild vom inneren Becken überprüfen und verändernd ausgestalten. Zulassen, dass sich bewusste Kontrolle und unbewusstes Selbst begegnen.

Methode:
Die Übung erfordert Alleinsein. Aber man kann auch in einer Gruppe besprechen, was jede/jeder für sich alleine und ungestört tun könnte, um sich näher zu erkunden.

Ideal wäre ein ruhiger, gemütlicher Ort ohne Zeitdruck. Zum Beispiel an einem Sonntagmorgen im Bett, wenn nichts dazu zwingt aufzustehen. Zunächst die Hände wahrnehmen und sanft ihre Umgebung ertasten. Wie weit können sie in das, was sie umgibt, hineinspüren? Die Hände auf dem Bauch ablegen, spüren, wie die Atmung kommt und geht.

Dann das knöcherne Becken ertasten: Darmbein-Kamm bis Symphyse, von dort über den Schambogenwinkel bis zum Sitzbein, von dort durch das Muskelpolster fühlend zurück bis zum oberen Teil des Darmbeins. Sich langsam auf die Seite drehen, die Lendenwirbelsäule und das Steißbein bis zur Spitze fühlen. Die Verbindung zwischen Steißbein und Darmbein: das Ileo-Sakralgelenk.

Wenn das Tasten ein nur undeutliches Bild vermittelt: Dort verweilen, entspannen, bleiben, Wärme wahrnehmen, loslassen, intensiver hineinspüren. Die Innenseite der Leiste ertasten, Oberschenkel dabei öffnen und weit auseinanderfallen lassen. Hüftgelenke entspannen und durch die Hände spüren. Liebevoll, wohlwollend, sanft. Das Genitale berühren, die Schamhaare, die Haut, die Formen unterhalb des Schambogenwinkels, erkunden, ertasten, hineinfühlen, die Finger in sich hineingleiten lassen, die Gefühle wahrnehmen, die dabei entstehen. Die Reaktionen auf ungewohnte Berührung, die psychischen und körperlichen Widerstände.

Spüren von außen und von innen zugleich. Das Gespürte fühlend betrachten und bewerten. Die Beckenmuskulatur ertasten, die das Genitale umschließt, den Beckenbogen, die Verbindung zu Anus und Schließmuskeln. Die Möglichkeit erkunden, diese Muskelregion leicht und sanft zu bewegen, einzuziehen und wieder loszulassen. Dann die Atmung wahrnehmen, vielleicht: eine Hand auf dem Bauch, eine am Beckenboden. Spüren, was bei Ein- und Ausatmung geschieht. Spielen: wenn die Atmung kommt, Beckenboden entspannen, und wenn sie geht, leicht anziehen. Oder umgekehrt: wenn sie kommt, Beckenboden leicht anziehen und ihn entspannen, wenn sie wieder entweicht.

Das Becken lösen und lockern

Methode:
Auf einer Matte liegen wie bei der zweiten Übung, allein oder angeleitet in der Gruppe. Sich nicht anstrengen, spielerisch etwas ausprobieren wollen, ohne Ehrgeiz:

Wirbelsäule oberhalb des Beckens sanft in Richtung Matte drücken und wieder loslassen. Die Bewegung mit dem Fluss der Ein- und Ausatmung verbinden, dann Wirbelsäule einatmend zu einem Schildkröten-Rücken rollen – langsam ausatmen und dabei entspannen – wiederholen;
Wirbelsäule ein atmend sich wie zu einem Bogen nach oben bewegen lassen – langsam ausatmen und dabei entspannen- wiederholen;

Hände seitlich auslegen. Beine aufstellen. Spüren, wie die Atmung kommt und geht. Mit der Atmung bewegen: Die Atmung führt, die Bewegung folgt, der Kopf bleibt ruhig liegen:

Bogen, Schildkröte, Embryo

Einatmend die Knie zum Bauch und Hände auf den Knien ablegen. In dieser Embryohaltung verweilen. Langsam atmen und genießen. Ausatmend die Beine und Knie und Hände in die Ausgangsstellung zurückgleiten lassen.

Einatmend die Knie nach außen fallen lassen. In dieser dehnenden Haltung verweilen. Langsam atmen und genießen. Ausatmen: Beine und Knie zurück in Ausgangsstellung gleiten lassen ohne Berührung zwischen den Knien.

Einatmen: wie eben, Knie nach außen fallen lassen. Das Becken etwas an den Boden andrücken. Bei dem Druck etwas verweilen. Langsam atmen. Ausatmen: Beine und Knie in Ausgangsstellung ohne Berührung zwischen den Knien. Einatmend das Becken sehr leicht anheben. Bei der Dehnung etwas verweilen. Langsam atmen. Ausatmend das Becken wieder absenken. Wiederholen

Atmung frei fließen lassen und sie schließlich vergessen. Entspannt auf dem Rücken liegen

Füße dicht an der Hüfte aufstellen. Mit Unterstützung der Hände das Becken schütteln, vibrieren lassen, beklopfen. Oberschenkel umfassen, heranziehen, ausschütteln, vibrieren lassen, beklopfen

Füße dicht an der Hüfte aufstellen. Becken anheben, bis Oberschenkel und Oberkörper eine (von den Schultern zu den Knien ansteigende) schiefe Ebene bilden. Hände unter das Becken führen und Verspannungen suchen und dort schütteln, massieren, lockern, schaukeln. Den Körper vibrieren lassen. Dann sehr langsam (von der Halswirbelsäule kommend) Wirbel für Wirbel zurück zur Matte kommen. Entspannen und nachspüren.

Aufrecht, bewegt und elastisch

Ziel:
Prinzipien in der Bewegung nachspüren:

  • Entspannen (Atem, Geist, Struktur),
  • Den ganzen Körper spüren und Aufrichten aus den Füßen bis zum Scheitel
  • Aus dem Zentrum alle Gelenke bewegen,
  • Arme, Schultern lösen und Hände wach, tastend, fühlend,
  • Geerdet sein und Bewegung ruhig fließen lassen.

Die hier angesprochenen Prinzipien entspannter Aufrichtung (von unten nach oben hochwachsend und von oben nach unten sinkend) ähneln vielen Grundübungen von Qigong, Yoga, Pilates, Alexandertechnik und Feldenkrais. Hier liegt die Betonung auf der gleichbleibenden langsamen Beweglichkeit in allen Gelenken, damit in keinem Gelenk ein Halten entsteht. Denn wer „gerade stehen“ will oder etwas „bewusst“ richtig macht, steht dann tatsächlich: fest, kontrahiert und schief.

Methode:
Schulterbreiter paralleler Stand. Knie zu den Zehen ausgerichtet. Boden fühlen. Den Körper über den Füßen leicht bewegt kreisen lassen und diese zarte leichte Beweglichkeit bis zum Ende der Übung beibehalten.

Katamaran
Die Fußstruktur gleicht einem Katamaran. Ferse-Großzehenballe = Bootskörper, Kleinzehenballen = Ausleger. Das Schiff hat um so mehr fahrt je die Energie auf das Hauptschiff wirkt und zugleich, den Ausleger in die Wellen presst. (Zeichnung: Jäger)

Festigkeit löst sich auf. Nach und nach entstehen kleine Schwingungen, die ohne Ausnahmen alle Gelenke einbeziehen. Nichts sollte stillstehen oder festhalten.Zunächst die Außenkanten der Füße spüren, während sich das Körpergewicht über ihnen verändert: die Zehen (wie viele sind es?) und  die Innenkanten. Die Füße kleben am Boden, werden von der Schwerkraft in den Boden gesogen. Dann die sehr kleinen schwingenden Kreise in den Sprunggelenken wahrnehmen und nichts still stehen lassen. Sich etwas nach hinten setzen und die Hände auf die Knie gleiten lassen, dabei die Knie seitlich umfassen und reiben. Hände auf den Knien abstützen. Ein sanftes Kreisen mit den Knien verbindet sich mit den kleinen Kreisbewegungen der Fußgelenke. Und die Knie gleiten dorthin, wo sie am bequemsten bewegt ruhen. Dabei zeigen sie in Richtung Zehen und ruhen (leicht bewegt) über der Fußmitte.

Die Hände gleiten zu den Hüften. Große weite Kreise durch Hüftdrehungen in beide Richtungen, die sich auf die Bewegung der Knie und Fußgelenke auswirken (nichts steht fest). Oberkörper aufrichten. Das Gewölbe der Beine fühlen. Die Aufmerksamkeit läuft von den Innenseiten der Beine hoch über das runde Gewölbe zwischen den Hüften und über die Außenseiten der Beine wieder herunter. Sich leicht aufrichtend wird das Gewölbe „gotisch“, nach oben spitzer, sich absenkend „romanisch“ gerundet.

Mit den Händen über die Leisten reiben („Das Kua öffnen“). Den Rücken von den Nieren nach unten ausstreichen, während alle Gelenke in sanfter Bewegung bleiben. Mit den Händen vom Rücken kommend seitlich nach vorne über die Hüfte streifen (so als wären die Hände Baggerschaufeln, die nach vorne bogenförmig unter den Sand gleiten). Wenn der Rücken und der Steiß dann sinken, präsentiert sich der Bauch.

Hände auf den Unterbauch legen und mit der Bauchkugel sanft kreisen. Alle Gelenke des unteren Körpers bewegen sich jetzt. Die Rippen auf dieser Kugel wie eine Käseglocke absetzen, und mit den Händen rechts und links von den Achseln kommend über die Rippen streifen und sie dabei lockern. Spüren, wie die Bewegung des unteren Teils des Körpers die Beugungen des Brustkorps mit einbezieht (nichts steht fest). Die Finger oberhalb des Brustbeins auf das Schlüsselbeingelenk legen und die Schultern kreisen.

Dann mit einer Hand über den Nacken nach oben streichen und mit der anderen von der Stirn über das Gesicht nach unten streifen. (Alle Gelenke bewegen sich, vielleicht minimal und kaum von außen wahrnehmbar, aber deutlich für sich selbst spürbar)

So bewegt und aufgerichtet die Arme Richtung Boden hängend ausrichten, die Achseln sind so geöffnet, dass die Hände ihren natürlich-entspannten Abstand zu den Oberschenkeln finden. Die Hände bilden dabei eine leicht gebogene Linie mit den Unterarmen, der Daumen liegt an, die Ganzkörperbewegung ist in den Armen spürbar. Aus dieser zarten Bewegung aller Gelenke mit einem vertikalen Wippen beginnen: wie auf einem Sprungbrett. Alle Gelenke aufmerksam erspüren und dabei nach noch verbliebener Festigkeit suchen. Dort die Aufmerksamkeit verweilen lassen – weiter lösen – alles loslassen und bewegen. Und schließlich die Aufmerksamkeit, ohne die zarten Bewegungen zu unterbrechen, vom Kopf über Hals, Rumpf, Bauch, Becken in die Beine und Füße fließen lassen. Spüren, wie der Atem kommt und geht und wie der Körper dabei ohne Zutun leicht bewegt steigt und sinkt.

Leer und voll klar getrennt

Benjamin Lo’s viertes Prinzip des harmonischen Dualismus („Leer und Voll (Yin/Yang) voneinander trennen“) ist für viele als Körpergefühl besonders schwierig „be-greifbar“. Aber genau das regt die spiraligen Innenbewegungen des Beckenskeletts an und verhilft dazu, sie zu spüren.

Methode:
Aus der leicht bewegten Grund-Elastizität sich entspannt aufrichten und wieder entspannt absetzen. Das ist ist nicht einfach. Sagt man SchülerInnen: „Richte dich auf oder mach dich groß“, sind sie sofort verspannt-gehalten, und bei „Entspann dich“ kollabiert umgehend die Struktur. Daher übe ich mit der Vorstellung eines Groß-werdens:

Das Gesicht öffnet sich, die Augen weiten sich, der Körper fließt nach und wird fließend groß, weit und offen, die Brust öffnet sich, die vordere Körperhälfte ist in voller Größe präsent (die Dehnungsrezeptoren melden eine Anspannung der vorderen Faszien-Verbindungen), die Hände drehen mit den Handflächen nach vorne und sind hellwach, die Schulterblätter sinken, der Nacken strafft sich, die Füße sind intensiv mit der Erde verbunden, die Knie leicht gestreckt, die Hüften nach oben gedehnt („gotischer Bogen“). In dieser elastisch mit dem Boden verbundenen Bewegung nach oben etwas in sich bewegt verweilen: Wird der ganze Körper hoch aufgerichtet wahrgenommen? Sind alle Gelenke unbelastet, frei, locker und beweglich?

Auf dieses „Nach-Oben“, folgt ein fließendes „Nach-unten“-Spüren über den Rücken. Noch nichts bewegen. Spüren. Die Arme und Hände sind schwer und drehen mit den Handflächen etwas nach hinten, der Rücken setzt sich mit dem Po nach hinten, die Hüften bilden einen „romanischen“ Rundbogen, die Knie bleiben über den Füßen, das Gesamtgefühl entspricht dem Aufnehmen eines schweren Rucksacks, der über den Rücken elastisch das Körpergewicht in die Füße drückt.

Sobald ein Gefühl für entspanntes, aber energievolles Aufrichten und Setzen entstanden ist, erfolgt auf der Aufrichtung zunächst eine Wahrnehmung der rechten Körperhälfte ohne das Gewicht zu verlagern. Auch hier ist leicht schwingende Bewegung erwünscht: Leichte Kreise in der Hüfte in voller Aufrichtung und rechte Körperhälfte wahrnehmen. Die Atmung hoch aufgerichtet wahrnehmen und der Aus- und Einatmung mit der rechten Körperhälfte nachspüren. Unmerklich entsteht ein Bezug zum rechten Bein, aber immer noch bleibt das Gewicht mittig. Schließlich lässt sich ein fließendes Setzen nicht mehr verhindern, alle Körperzellen orientieren sich über das rechte Bein in den rechte Fuß. So als ob Sandkörner langsam in den rechten Fuß rieselten.

Dann erschließt sich auch durch das Gefühl ein Unterschied zwischen Gewicht (und seiner Verlagerung) und dem Bezug und seiner Richtung: Bei der Gewichtsverlagerung wird aus einer 50 : 50 Belastung beider Beine 100 Prozent des Gewichtes horizontal über ein Bein geschoben. Das führt meist zu einer Verlagerung um wenige Zentimeter zu weit nach außen. Die anschließende Suche nach dem darunterliegenden Fuß („Du musst sinken!“) muss durch Verspannungen unterstützt werden. Das strengt an, verkrampft die Muskulatur, die Hüfte blockiert und das Knie erledigt den Sink-Job, was ihm nicht gut tut.

Bei einem eindeutigen Bezug in ein Bein kann das Gewicht sogar in der Mitte über dem Bogen verweilen, obwohl die Zug- und Druckkräfte des inneren Gestänges sich in ein Bein ausrichten, und der andere Brückenpfeiler immer leerer wird. Gewichtswechsel sind von außen leicht zu erkennen, eher statisch und energiearm. Bezugswechsel sind dagegen von außen oft nicht erkennbar und können Bewegungen von großer Energie und Dynamik einleiten.

Verliefe eine Gewichtsverlagerung erst horizontal, dann durch vertikales Sinken, wäre das Ergebnis instabil „gehalten“ und Knie belastend.

Bei einem Bezugswechsel (ohne Gewichtsverlagerung) bleibt der Zug der Schwerkraft (fast) mittig, aber die Verbindung der Körperstrukturen füllt ein Bein und lässt das andere leer erscheinen. So als stünde jemand hoch in der Luft auf zwei Brettern und vermutete, das eine sei stabiler. Als Ergebnis blieb der Körper elastisch und tragfähig und könnte sich aber leicht in Richtung des stabileren Brettes orientieren. Die Arme sind mit dem Rumpf verbunden und entweder in einen gleichseitigen (Pass) oder ein gegenläufiger Bezug (diagonal) einbezogen.

Daher erneut beginnen. Wenn es dann gelingt und ein Gefühl von Druck im rechten Hüftgelenk zunimmt und der Zug der hinteren Faszien-Verbindungen am Nacken wahrgenommen wird, lösen sich alle Muskelanspannungen in der linken Hüfte. Wenn nicht: leicht bewegen, lösen, lockern, bis die linke Hüfte völlig unbelastet und frei beweglich ist. Die Beine bilden dann ein Gewölbe, das über dem rechten Fuß ruht, während man unter dem linken Fuß ein Blatt Papier herausziehen könnte. Wilhelm Mertens würde präzisieren: „Die Hüfte sinkt und das Knie steigt!“. Es entsteht Elastik in einem Bein, während das andere „leer“ wird.

Erstaunlicherweise kann das Hüftgelenk als einziges des ganzen Körpers unter großer Belastung drehen. Damit kann man spielen: Man kann im voll belasteten Bein etwas nach rechts und links drehen. Wer schon etwas geübt hat, mag auch etwas spiralig nach unten eindrehen und nach oben wieder spiralig zurückkommen. Elastik spüren, im Bein ein wenig wippen. Wird der Oberschenkel dabei hart, ist die Position falsch. Dann langsam noch einmal von vorne beginnen.

Bleibt der Fuß des „leeren“ Beines völlig unbelastet am Boden, lassen sich die Verdrillungen der Gefäß-Nerven-Bündel und Meridiane bis zur Fußsohle hin spüren. Anschließend in die Mitte zurückkommen und mit dem anderen Bein spielen. Leicht in Bewegung und ohne Stress und Ehrgeiz. Das Gleiche kann in einer Partnerübung wesentlich intensiver gestaltet werden: Durch leichten Druck auf eine Schulter und Sinken in das gegenüberliegende Bein.

Schreiten

Wenn es gelungen ist, entspannt aufrecht zu stehen und auch leer und voll zu trennen, kann man schreiten: Stehend über dem rechten Fuß kann die linke Hacke ganz leicht angehoben werden. Hüfte dabei lockern. Weiter mit der Beweglichkeit aller Gelenke spielen. Keine Starrheit aufkommen lassen. Die Zehenspitze leicht vorschwingen lassen, dann die Zehen anziehen und den Fuß mit der Ferse aufsetzen und den Fuß abrollend aufsetzen. Aus dieser Schrittposition eröffnet sich eine Vielzahl von Bewegungen wie beispielsweise:

Über Eis laufen

Über vorn aufrichten, dann eine Beziehung ins hintere Bein aufnehmen und dabei die Aufrichtung bewahren. Sobald ein Bezug zum hinteren Bein gefunden ist und sich die Hüfte des vorderen Beines unbelastet entspannen kann, ist es möglich, mit dem vorderen Fuß „auf dem Eis“ zu tasten. Wenn das Eis zu tragen scheint, kann man das Körpergewicht vorsichtig in die Mitte sinken lassen (so als erfolgte die Gewichtsverlagerung „unter dem Eis“). Dazu muss die hintere Hüfte elastisch Gewicht aufnehmen und die vordere Hüfte völlig unbelastet frei sein.

Die entstehende Elastik, die unter anderem aus der Dehnung der Becken-Innenbänder entsteht, wieder über vorn aufsteigen lassen. In das gleiche Bein (vorn) sinken, das hintere unbelastete Bein vorschwingen und „auf dem Eis“ tasten. Dann wieder Gewichtsverlagerung von hinten über einen unteren Kreis nach vorn. Dies ist intensiver im Qigong als „Nierenstärkendes Gehen“ bekannt oder im Taijiquan als fünfte Lockerungsübung nach Huang Xiangxian.

Teppensteigen

Aus der entspannten Grundhaltung geradeaus nach vorne schauen: entspannt, gelassen, aufgerichtet. Das Körpergewicht ist über dem Fuß des ausgewählten Standbeins. Das Becken ein klein wenig nach hinten bewegen. Der Schwerpunkt des Körpers ruht in oder etwas hinter der Ferse des Standbeins. Wie bei einer Waage zieht die Schwerkraft nach hinten und unten, und das Spielbein scheint leichter zu werden. Die Belastung im hinteren Fuß nimmt zu: Im Schnee würde man einsinken und einen intensiveren Abdruck hinterlassen.

Mit einem kleinen Schwung nach hinten und unten kann der vordere Fuß leicht auf die erste Stufe gesetzt werden. Das Körpergewicht bewegt sich u-förmig so, als würden Sie mit einem Schlitten einen Hang hinabgleiten und mit dem Schwung einen kleinen gegenüber gelegenen Hügel hinauffahren. Die Schwerkraft zieht natürlich nach unten, aber man kann diese Energie nach vorne lenken. Im vorderen Bein auf der Stufe fühlt es sich dann so an, als würde Gewicht von unten aufsteigen.

Ist die erste Stufe geschafft, wird das eben noch vordere Bein, aus dem gerade die Aufrichtung erfolgte, zum hinteren und man sinkt dorthin wieder zurück. Der gleiche Prozess beginnt von vorn: nach hinten sinken und über vorn wie in einem U aufsteigen lassen, sich aufrichten und wieder zurücksinken, um im anderen Bein aufzusteigen.

Schlittschuh fahren

Aus der Schrittstellung den vorderen Fuß weiter nach vorne gleiten lassen. Während des Sinkprozesses gleitet der freie Fuß hinter das Standbein und bewegt sich von dort elegant schwebend über das Eis.

Staubsaugen

In der Schrittstellung ins hintere Bein sinken und den Körper in der Hüfte nach innen drehen. Es entsteht ein saugendes Gefühl im vorderen Bein. Aus der weiteren Hüftdrehung das vordere Bein nach hinten gleiten lassen.

Mit Beckenbewegungen spielen

Die Grundstellung ist aufgerichtet entspannt. Die Füße stehen schulterbreit und parallel nach vorne ausgerichtet. Das Körpergewicht ist in beide Beine ausgerichtet, die Hüften sind offen und bilden einen runden Bogen, die Knie stehen über den Füßen. Bei den folgenden Übungen liegt der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf der Eindeutigkeit von Yin (leer) und Yang (voll) in den Beinen, je nach Bewegungsphase.

Liegende Acht im Becken

Yin/Yang-Wechsel in den Beinen: Hüfte im Standbein vorlaufen lassen, diagonal den Bezug wechseln (in die hintere Hüfte), Gewicht ins hintere Bein nachfluten lassen, die hintere Hüfte bogenförmig nach vorne laufen lassen (die andere Hüfte dreht zurück). Die Füße bleiben wo sie sind.

Liegende Acht im Knie

Knie leicht anheben im freien, leeren Bein, Fuß hängen lassen, mit dem Knie eine Acht zeichnen, ohne Hüfte oder Sprunggelenk anzuspannen.

Liegende Acht mit dem Fuß zeichnen

Möglichst große Bewegung, im Standbein ist die Hüfte sehr beweglich bei gleichzeitiger Lastaufnahme, im leeren Bein ist die Hüfte völlig gelöst, das Bein so ausgerichtet, als wolle es auf etwas zeigen. Die Arme hängen lose am Körper, entspannt und wach.

Der alte Mann schnuppert an der Gartenblume

Alter Mann
Der alte Mann im Garten (Zeichnung Jäger)

Leeres Bein wie beim Schreiten beschrieben herausführen und auf der Hacke absetzen, leeres Bein „versteifen“ (durchstrecken, Zehen in Richtung Nase ziehen). Sich mit dem Po sinkend zurücksetzen und dann in der Hüfte (nicht in der Lendenwirbelsäule) nach vorn beugen. Kniescheibe fühlen: Sie ist beim „versteiften“ Bein völlig lose. Weiter mit den Händen zum vorderen Fuß greifen und vielleicht auch hinter den vorderen Fuß. Der Schlüssel: in der Hüfte entspannen, alles loslassen und nach hinten setzen, um nach vorne zu greifen. Duft des Blümchens aufnehmen.

Langsam aufrichten, erst die Hüfte, dann ein Wirbel nach dem anderen – Lenden – Brust – Hals – Kopf. Hände an die Nase führen und riechen, dann Arme weit öffnen (Brust dehnen) und das vordere Bein zurückführen. Yin und Yang in den Beinen wechseln. Das andere Bein herausführen, das andere Bein wird steif.

Sich verbeugen und strecken

vorbeugen
Diagonalmotorik (Zeichnung Jäger)

Aus der Schrittstellung nach links den rechten Ellenbogen mit Gewicht im hinteren rechten Bein an das linke Knie führen, die linken Zehen bewegen sich Richtung Nase, die rechte wach ausgestreckte Hand steht vor dem Gesicht (diagonal Motorik). Linker Arm streckt sich dabei nach hinten.

zurückbeugen
Parallelmotorik (Zeichnung Jäger)

Aus dem vorderen linken Bein aufrichten (Bezug, Gewicht) und den linken Arm weit nach oben strecken (parallel Motorik), rechter Arm sinkt nach hinten. Wieder nach vorn beugen in die Diagonalposition und mehrfach wiederholen und schließlich auf die andere Seite wechseln. Wichtig: Zurücksinken und Drehen im Becken (nicht in den Knien oder der Lendenwirbelsäule). Bei scheinbar maximaler Dehnung der hinteren (diagonal) und vorderen (parallel) Faszienverbindungen, eine kurz verweilen Atmung wahrnehmen und während des Ausatmens in der Dehnung alle unnötig Anspannung loslassen.

Mit Gegenständen spielen

Die Intension, die die Bewegung anführt, entsteht aus der Situation: aus Beziehungen, aus allen Körperzellen, allen Funktionen und Beziehungen und damit ebenso aus den Gegenständen, die mit dem Körper verbunden sind. Solche Gegenstände entwickeln aufgrund ihrer Schwerkraft und ihrer Drehimpulse eine Eigendynamik, die um ein vielfaches schneller ist als jeder bewusste Steuerimpuls. Deshalb ist es für Lernprozesse ausgesprochen nützlich mit Gegenständen zu üben, sie sicher mit den Händen zu verbinden und aus dem Becken zu bewegen.

Stabi oder Flexi-Bar

Den Glasfiberstab vor das Becken halten, Arme entspannen, mit dem Körper verbinden, leichte Schwingung in den Hüften beginnen, die sich über das Gerät verstärkt. 100 Prozent in einem Bein: Stab seitlich halten und in der Hüfte mit der Schwingung beginnen, die das Gerät um ein Vielfaches vergrößert.

Jonglieren

Ein Ball ist völlig ausreichend. Locker und gelöst aufgerichtet den Ball von einer Hand in die andere werfen. Und dann gelöst in die „asiatische Hocke“ gehen, das heißt beide Fußsohlen bleiben fest auf dem Boden und der Oberkörper ist klar aufgerichtet. Oder in den „chinesischen Ruhesitz“ gleiten: ein Bein hinter das andere schräg nach außen setzen und sich aufrecht absetzen.

Pois

Am Strand oder auf der Wiese: Spaß haben an den kreisenden Bewegungen in all ihren Varianten, aber nicht aus den Schultern, sondern aus der Beckenbewegung fliegen lassen.

Stangen (spazierstock-lange Stöcke, ~3 cm dick) 

In den Händen hängen lassen und Schwerkraft spüren. Daumen drückt auf Stange wie Bremsbacke, dadurch entsteht eine sichere Verbindung, die die Handgelenke schont. Sie bleiben in der ganzen Bewegung möglichst lang und möglichst nicht verdreht. Die Bewegung entsteht aus dem Becken und aus der elastischen Verbindung zur Erde. Die rechte Stange führt vor dem rechten Fuß einen kleinen Kreis aus, die rechte Hand steigt spiralig und bewegt die hängende Stange über den Kopf hinten den Rücken, dann wird der hängende Stab langsam abgesenkt. Der Daumen bleibt anliegend, die Schulter dreht, das Handgelenk möglichst wenig.

Das ist etwas herausfordernd, daher langsam üben. Unten angekommen wieder ein kleiner Kreis vor den Füßen. Dann das Gleiche mit dem linken Arm. Dann (nach etwas Übung) beide Arme zeitversetzt. Die Faszien der Arme werden hierbei gedehnt und verdrillt, die Bewegung selbst entsteht aber aus dem Becken. Alles bewegt sich, kein Gelenk steht fest.

Trampolin (oder etwas herausfordernder auch Poweriser)

Wippen, Beine und den übrigen Körper lockern und das Becken in alle Richtungen dehnen. Hüpfend Yin und Yang trennen, das heißt mal im Bezug das rechte oder das linke Bein betonen. Springen und alle Gelenke dabei lösen und wieder in die Elastik eintauchen, schwer werden, herausfedern. Spüren und fühlen und Spaß haben. Man kann auf dem Trampolin elastisch stehen, federn, vibrieren oder mit den Armen schwingen (Tellerwäscher-Übung) oder die 18-Bewegungen des Taiji- Qigong oder die Acht Brokate oder irgend eine andere Bewegungsfolge üben.

Besonders faszinierend ist es, während einer regelmäßigen Trampolin-Schwingung etwas anderes zu tun, jonglieren zum Beispiel (ein Ball reicht): Dann kann das Bewusstsein nur noch in die Ferne schauen und wahrnehmen, was der Körper da so fantastisches allein bewerkstelligt. Jeder Steuerimpuls des Bewusstseins wäre zu langsam: Jetzt muss das Becken aus der Dynamik seiner Faszienverbindungen heraus führen. Anders geht es nicht auf dem Trampolin.

Jedes beliebige Gerät

Die Erfahrung des Trampolins kann auf jeden anderen Gegenstand übertragen werden, mit dem eine Verbindung hergestellt wird, ob Schaufel, Kinderwagen oder Kugelschreiber: Es ist möglich, sich aus den Faszienverbindungen der Hüfte zu bewegen. Es ist möglich zuzulassen, dass die Intension aus dem Becken entsteht.

The breathing of the true man is from his heels.
The breathing of the common man is from his throat.
… Merely situate yourself in non action
and things will evolve by themselves.

Release your mind and free your spirit.
Be impassively soulless.
Zhuangzi (300 v.u.Z., nach V.C. Mayr 1994)

Alt-Meister mit bewegtem Becken

Die Schultern der Werfer- und Köch*innnen

Menschen unterscheiden sich von anderen Tieren u.a. durch die einzigartigen Qualitäten ihrer Hüft- und Schultergelenke. War die Selektion des menschentypischen Körperbaus, und der damit verbunden Fähigkeiten, auch die wesentliche Triebkraft der sozialen Evolution? (Roach 2013)

… bipedale Fortbewegung, die Funktion der Hand, die körperliche Robustheit, werfende und schlagende Bewegungen beschleunigten die Hirnentwicklung und die Ausbildung kultureller Leistungen … Richard W. Young, Los Angeles 2013

Wunderwerkzeug Hand

Vertikale Übertragung der Gravitationskraft durch elastisch-trampolinartige Aufdehnung der Becken-Faszien, bei aufrechter Haltung mit freien Schultern und Händen, die den Stock fühlend umschließen ohne Druck aufzuwenden. Vermutlich war der Künstler ein Mann, sonst hätte er das Kind, der Realität entsprechend, auf der Hüfte ruhend dargestellt (und nicht an der Schulter hängend) Bild: Jäger, Thà-kek, Laos 2018

Der große Gestaltungsraum der menschlichen Hände beruht auf einer stabilen Hüftkonstruktion, die die Schultern von tragenden Aufgaben befreit.

Hände formen, gestalten und kommunizieren. Sie verbinden sich gewandt mit dem Gegenstand, den sie berühren. Dabei werden Kräfte, die sich aus fliessenden Bewegungen des ganzen Körpers ergeben, über Hüfte, Rumpf, Schultern und die Hände weit über die Körpergrenzen hinaus wirksam.

Die Selektion der Hand-Fähigkeiten kann nicht aus der Werkzeugherstellung allein erklärt werden

Bis die ältesten menschlichen Vorfahren (Australopithecus anamensis) vor etwa 2,4 Millionen Jahren mit einfachen Steinwerkzeugen hantieren konnten, waren 440.000 Generationen vergangen (~ 7 Mill. Jahre). Für dieses erste Steineklopfen wäre ein Affengriff völlig ausreichend gewesen. Der menschliche Daumen ist aber kräftiger und kann den anderen vier Fingern gegenüber gestellt werden.

Offenbar ergab sich die freie Entfaltung der Hand erst durch den aufrechten Gang der Savannen-Menschen (Home erectus, ~ 2 Mill Jahre). Diese Menschen besaßen längere und kräftigere Beine, setzten ihr Gebiss kaum noch als Waffe ein, kochten am Feuer und kauten (vermutlich auch schwatzend) in sozialen Gemeinschaften. Anders als andere Affen, die nur ungeschickt und ungenau warfen, konnten Home-erectus-Menschen Gegenstände locker in der Hand halten, und sie ggf. auch unter Auf-Dehnung der Faszien-verbindungen der Schulter entgegengesetzt zur angestrebten Flugrichtung vom Körper wegbewegen. Als einziger gelenkiger Ansatzpunkt der Schulter zum knöchernen Gerüst verblieb bei ihnen der Kopf des Schlüsselbeines auf dem dem Brustbeinansatz. Muskelarbeit der Schulter wurde nur noch für die Aufspannung der Faszien benötigt, während plötzliche Ent-Dehnungen Distanzwaffen, wie Speer, in die gewünschte Richtung katapulierten. Die langen Beine des Homo-erectus waren gut geeignet zum Langstreckenlauf, bei dem die Arme ohne Muskelaktivität locker mitschwangen. (Diagonal-Motorik)

Beim Wurf aus einem Lauf heraus, wurde und wird schlagartig auf eine Pass- oder Parallel-Motorik umgeschaltet. Der menschen-typische zylindrische Brustkorb erlaubt über breit-ausladende Schultern eine Seitwärts-Orientierung des Armes. Der nach rechts oder links ausgestreckte Arm kann dann kombiniert mit einer Rumpfdrehung nach hinten oder vorne gedehnt werden. Die (beim Werfen tastend-fühlende) Hand ist in der maximalen Ausdehnung über die frei ausgezogene Schulter mit dem Rumpf, und von dort über Brust- und Rücken-, Becken- und Hüftfaszien mit dem in den Boden pressenden Fuß verbunden. Das Hüftgelenk dreht dabei auch unter maximaler Belastung. Diese Hüftfunktion ist für die Wurfkompetenz ebenso wichtig wie das Loslassen der Schulter. Beide Kompetenzen sind nicht angeboren, sondern müssen in ihrem Zusammenspiel tausendfach trainiert werden.

Idealerweise eröffnen sich damit weite Rotation-Ebenen mit hoch-elastischen bogensehnenartigen Faszienverbindungen, und bilden so die die Voraussetzungen bilden für die Anwendung von Präzisionswürfen.

Steinzeitliche Distanzwaffen wurden also nicht durch Muskelkontraktion bewegt, sondern durch die intelligente Nutzung von Gravitations- und Fliehkräften und die Freisetzung von Energie, die in auf-gedehnten Bindegewebsfasern aufgespeichert war.

Laufen, Werfen, Kochen und soziale Kompetenz entwickelten sich gleichzeitig

Die Schub-Umkehr beim Werfen, widerspricht Affenlogik: Denn das Wurfgeschoss wird nach hinten bewegt, obwohl der Feind gerade von vorne angreift. Menschen können daher durch klugen und geübten Einsatz von Bändern und Sehnen-Verbindungen anderen Raubtieren mit deutlich höherem Kraft-Potential überlegen sein.

Der „Werfer und Läufer“ in der Mitte entschuldigt sich mit einer Geste. Die Frauen seien ihm mit ihren vertikal-ausgerichteten motorischen Kompetenzen deutlich überlegen. Er könne Körbe oder Taschen nur mühsam in der Hand oder auf dem Rücken tragen. Bild: Jäger, Gombe, Tansania, 1983

Die Entscheidung über den idealen Punkt, an dem die Schubumkehr erfolgen muss, wird nicht willkürlich vom Gehirn getroffen. Das wäre viel zu langsam. Stattdessen bahnen vorher tausendfach ein-trainierte, unbewusste Programme der Bewegungskoordination, u.a. im Kleinhirn, die Gestaltung der notwendigen Vorbedingungen. (Schahmann 2019) Das Triggern des Wurfes entspricht dann idealerweise der maximalen Spannung der Faszienstruktur. So als ob die Bogensehne entscheidet, wann der genau Zeitpunkt des Schusses gekommen sei, oder „als ob im Frühjahr Schnee von einem Blatt rutschen würde“ (Zen-Bild)

Im Verlauf der Evolution scheint sich diese fantastische Fähigkeit (die so genannte Gewandtheit) gleichzeitig mit der Funktionalität der Hand, der Fähigkeit zu kochen und der intensiveren sozialen Kooperation entwickelt zu haben. (Young 2013)

Dafür spricht, dass sich nach der Geburt motorische und neurologische Fähigkeiten in einem gegenseitigen Wechselspiel ausbilden. (de Klerk 2018)

Sind Menschen Werfer?

Bereits 1871 erklärte Darwin den Übergang der Waffencharakteristik von den Zähnen auf die Hände mit der Herausbildung der Fähigkeit des Werfens.

Besonders Männer mit ihren relativ schmalem Becken und ihrem kräftigem Brustkorb können (besser: konnten) über lange Distanzen laufen, kurze Strecken sprinten und punktgenau werfen und treffen. Diese gewandte Anwendung von Handwaffen scheint der Menschheit dauerhafte Fortpflanzungsvorteile eingebracht zu haben. (Kirchmann 1999) . Zumindest bis zur Stufe der Homo erectus, Denisova– oder Neandertal-Menschen.

Die Hüften tragen. Schultern und tastend-fühlende Hände sind völlig frei. Bilder: Jäger, Khammuan, Laos 2018

Moderne Menschen sind aber mehr als kriegerische Affen, die werfen können.

Im Gegensatz zu anderen Tieren sind Menschen „zu Liebe fähig“ (Maturana): Sie sorgen sich um andere und kümmern, versorgen und pflegen sich und gegen starke Paarbindungen ein.

Als sich vor 40-60.000 Jahren die moderne Menschen ausbreiteten, waren sie ihren Vettern weder durch stärkere Kraft, höhere Intelligenz noch durch besser Umweltanpassung überlegen. Aber sie konnten größere Sozialverbände bilden. Bei ihnen mussten Belohnungen nicht mehr direkt-dominierend-konfrontativ erkämpft werden. Ihr hochentwickeltes Rollenverhalten sorgte für die Bewältigung großartiger Leistungen, deren Belohnung erst einer fernen Zukunft erfolgen würde. Arbeitsteilige und gut koordinierte Männergruppen konnten sich so lange vom weiblich bestimmten Stamm entfernen, und so erfolgreicher jagen und Kriege führten, als die Neandertaler, die nur in kleinen Familiengruppen umher zogen.

Frauen gingen im Stammeslager (in der Regel) friedlicheren Tätigkeiten nach, die die Versorgung der Gruppe sicherten. Dabei führten auch sie Ganzkörperbewegungen aus, die durch die besondere Qualität der Becken und ohne freie Schultern nicht zu bewerkstelligen gewesen wären.

Die breitere Beckenform bei Mädchen und Frauen erleichtert vertikale Kraftübertragungen: Sowohl beim Tragen oder beim Getreide-stampfen, als auch bei einem gelösten Sitzen in der Hocke:

Getreide stampfen

MaliWest-Afrika

Läufer-, Werfer- und Köch*innen“ 

Mensche nutzen ihre Schultern und Hände nicht nur, um zu jagen und um Kriege zu führen. Vielmehr stehen bei ihnen die friedlichen Nutzungsmöglichkeiten im Vordergrund: Menschen pflücken, kochen, stampfen, rühren, nähen, flicken, binden, klopfen, formen, streicheln, glätten, … Und all diese Tätigkeiten bewältigen sie nur deshalb so souverän, weil die Schulter sich uneingeschränkt und frei bewegen kann. Und natürlich auch, weil ihre Hüften große Lasten aufnehmen kann, und sich dennoch dabei dreht.



Skulptur der Edo (Bini) zur Darstellung der zivilisatorischen Macht, die Naturgewalten besiegt: Der König thront mit Sklavinnen über der Armee. In der Mitte die große Mutter, die als Zeichen ihrer Macht und Würde den Getreidestampfer präsentiert. Bild: Burland C., Naturvölker, S. 217, Otto Meier 1965

Links

Literatur

Die Sprache der Hände

Die Sprache begann mit Zeigen und Berühren

Im Gehirn nehmen Wahrnehmung und Steuerung der Hand so viel Platz ein, wie das Gesicht.

Viele Wissenschafler:innen glauben, dass die Gesten der Hand die Grundlage der Sprachentwicklung bilden, lange bevor die motorischen Programme der Kehlkopf-Steuerung, die ersten gesprochenen  Worte und Sätze bildeten. (Wilson 2001)

Die Kommunikation mit Dingen: Geschickt oder Gewandt?

Tiere können sich mit ihrem ganzen Körper elegant und effizient bewegen. Einige von ihnen können sogar zielorientiert und geschickt mit Dingen zu hantieren. Rabenvögel z.B. können mit Werkzeugen nach Gegenständen angeln.

Vor wenigen Millionen Jahren gelang es erstmals menschenähnlichen Affen die Aufmerksamkeit über die Hand hinaus in einen Gegenstand fließen zulassen, so als sei dieser ein Teil ihres Körpers. Diese Erfahrung der Körpererweiterung und des Gestaltens muss beglückend gewirkt haben. Moderne Menschen können darüber gewandt, zeit- und raumentrückt, im „Flow“ des Gestaltens mit einem Gegenstand verschmelzen und, Emotionen und Hunger vergessend, durch ihn hindurch fühlen.

Hände
Cueva de las Manos, Perito Moreno, Argentina. Alter: 10-15.000 Jahre

Die bewusste Wahrnehmung der Hand erweitert sich über das Ding, den Stock, den Stein, mit dessen Spitze jetzt gefühlt wird: die Bewusstheit fließt dabei weit über die Körpergrenze hinaus.

Diese Art der Kommunikation mit der Umwelt ist so wichtig, dass sie am Kern des evolutionsgeschichtlich älteren Mittelhirns in einer Datenautobahn vorbeirauschen muss, damit Bewusstheit und Emotion nicht mit störenden Gefühls-Impulsen dazwischen funken. Uns wird also erst im Nachhinein „bewusst“, was unsere klavierspielende Hand da so alles tat. Mit etwas Übung können wir mit der Hand ebenso gut reden wie mit der Stimme, besonders intensiv, wenn wir im Kontakt direkt in den anderen hineinfühlen können. Handarbeit und Kunsthandwerk wird trotzdem nur selten als Hochintelligenzleistung wahrgenommen. Entfällt sie aber, verkümmern die „grauen Zellen“.

Aus der Abfolge komplexen Hand-Fertigkeiten kann ein Bewegungsfluss entstehen, gleichsam ein Tanz:

„Die Dinge singen hör ich so gern“. Rilke

Pincetten-, Wurf- und Stockgriff

Im Gegensatz zu Schimpansen können Menschen ihren Daumen den übrigen vier Finger der Hand gegenüberzustellen. Dazu befähigt sie die Struktur der Handwurzelknochen (insbesondere die Gestaltung des Haken- und Vieleckbeins), die es ermöglichen Daumen- und Fingerspitzen  oder die jeweiligen Muskelballen am Ursprung der Glieder in Opposition zu bringen.

Aufgrund dieser anatomischen Besonderheit können u.a. Werkzeuge wesentlich fester mit dem Körper verbunden werden:

  • Stockgriff durch Druck des Daumenballens Richtung Kleinfingerballen für die Verbindung mit groben Geräte oder Waffen, oder
  • Pinzetten-Griff mit Daumen und Zeigefinger (oder mit allen Fingern) für fein-motorische Aufgaben (Nadel und Faden) oder sicher entspannte Verbindung mit einem Pinsel oder einem Jonglierball.
Handarbeit
Gewandtheit: Handarbeit im Flow
(Bild: Konrad s.u.)

Wenn sich die Hände mit einer Nadel oder mit einem Blindenstock verbinden „fühlt“ nicht etwa die Kontaktstelle der Haut-Nadel-oder-Stock-Verbindung, sondern der ganze Körper: Alle Signale und Schwingungen, die in das in das Kleinhirn eingehen, und deren inneren Auswirkungen werden dann zu einem sinnvollen Bild „hochgerechnet“. (Schahmann 2019) Die Hand wirkt deshalb erst dann einzigartig gelassen, wenn sie über die hoch-bewegliche und elastische Schulter mit dem ganzen Körper verbunden wird (Young 2013, 2009, 2003).

Energieübertragung bei Druck (Faustschlag) oder Zug (Seil ziehen) erfolgt dann nicht aus einer Kontraktion der Armmuskulatur, sondern aus einer Bewegung des ganzen Körpers, deren Energie sich in tastend-fühlend verbundene Hände überträgt. Die Hand wirkt daher ideal in der Wechselwirkung mit  innerer und äußerer Bewegungs-Dynamiken. Hände können so:

  • Etwas ergreifen und zerdrücken (Hand- und Unterarmmuskeln)
  • Ein Werkzeug wie ein Körperteil mit dem Rest des Körpers verbinden (Daumenballen in Opposition und in Verbindung mit Oberarm-Schulter-Rücken-Brust: Muskulatur und Faszien, die zur Kraftentwicklung weiter in Becken und die Füße verbinden)
  • In etwas hinein tasten, spüren, fühlen (Bewegung der Hände und Arme wie bei Marionetten, über Faszienverbindungen in den Rücken, Hände völlig frei und gelöst beweglich)
  • Sich lenkend und leitend mit etwas verbinden (Kombination aus „Tasten und Fühlen“ und „mit einem Werkzeug eins-werden“, wie im Paar-Tanz oder beim Töpfern)
  • Zielgerichtet gestikulieren, zeigen oder sich durch Gebärden sprachlich ausdrücken
  • Sich mit dem Atemfluss verbinden (Ein: Hände sich öffnen lassen, Aus: Loslassen), und ggf. so den eigenen Rhythmus vermitteln, oder den des anderen verstehen.

Im Kontakt mit anderen kann bei einer Berührung, die zu einer stabilen Verbindung führt, über die Hand die Basis „des andern“ erreicht werden, so als würde er oder sie „durch den Körper des anderen an dessen Füße fassen“, oder so als wäre der oder die ander eine Blindenstock. „Der oder die andere“ würde dann das Gleiche umgekehrt erleben. In therapeutischen Begegnungen kann so über die Hände gleichermaßen Information aufgenommen und vermittelt werden.

Bevor es aber zu einer idealen Verbindung mit andernen Personen oder mit Gegenständen kommen kann, muss man sich lassen und entspannen. Ungeübte Anfänger, denen das (noch) nicht gelingt, hantieren hektisch und ineffizient und versuchen gestresst Resultate zu erzwingen. Oder sie geben auf.

Erst nach langem Training wirken Großhirn (Hand), Mittelhirn (Emotion und Bewusstheit), Basalganglien und Kleinhirn (Koordination) und Stammhirn (entspannte Aktivierung) und die Faszien, Muskeln und Knochen des Bewegungsapparate harmonisch miteinander zusammen.

Basil Pao. 365 Berührungen in aller Welt. www.frederking-thaler.de

Die Hand-Kommunikation erzeugt Bedürfnisse

Manchmal erleben Menschen einen Glückszustand der Verbundenheit mit einem Gegenstand: mit einem Bumerang, einem Schwert, einem Musikinstrument, einem Tonklumpen oder einem Kochlöffel. Für die Gemeinschaft mit solchen Gegenstände, und für die Macht, die aus der Verschmelzung mit ihnen entwickelte, lohnte es, Emotionen und Gefühle zu verdrängen.

Stress, Ärger, Liebe, Hass oder albernes Lustig-Sein, vertragen sich nicht mit guter Handarbeit, z.B. wenn sich ein Schnitzmesser, Holz und Hand in einer Trance vereinen. Kommunikation mit der Hand und Sprache mit Worten erfordern jeweils die Aktivierung motorischer Programme, möglicherweise sind sie daher parallel in wechselseitiger Resonanz entstanden. Und beide Formen der Sprache (Klang des Kehlkopfs, Bewegung der Hand) lassen sich im Inneren, quasi im Leerlauf ohne äußere Bewegung ausführen.

„… Wenn der Wagenradmacher ein Rad aus-stemmt und geht zu langsam vor, ist die Arbeit zwar einfach, aber nicht solide. Wenn er zu schnell vorgeht, ist die Arbeit bitter und nicht passend. Weder zu langsam vorzugehen noch zu schnell: so geht es von der Hand und entspricht Gegebenheiten …“

Zhunagzi ~350 vuZ (Wohlfart)

Literatur

  • Flusser V: Gesten.Versuch einer Phänomenologie. Fischer 1994
  • Konrad G: Asmat: Leben mit den Ahnen, Brückner 1981
  • Roach NT et al: Elastic energy storage in the shoulder and the evolution of high-speed throwing in Homo. Nature 2013 498:483-487
  • Wilson F: Die Hand Geniestreich der Evolution. Ihr Enfluss auf Gehirn, Sprache und Kzltur des Menschen. Klett-Cotta 2001
  • Schmahmann JD: The cerebellum and cognition. Neuroscience Letters 688 (2019) 62–75
  • Young R.W.:Human origin and evolution. CreateSpace Independent Publishing Platform, 2013. The ontogeny of throwing and striking, Hum Ontogenet 3(1), 2009, 19–31 ; Evolution of the human hand: the role of throwing and clubbing,  J. Anat. 2003, 202:165–17

Ganzkörperbewegung

Menschen können gehen, laufen, rennen, hüpfen und hopsen. Und beim Skifahren Können sie sich sogar noch an den Rechts- oder Links-Galopp. erinnern. Am wirksamsten ist es, wenn die ganze Körperstruktur einbezogen ist:

Schritt im Diagonal-Viertakt

  • Erst bewegt sich ein Arm, dann das gegenüberliegende Bein,
  • dann der andere Arm, und dann das ihm gegenüberliegende Bein  …
  • So gehen oder laufen wir normalerweise
  • Das ist sehr effektiv für Geschwindigkeit und Ausdauer

Schritt im Diagonal-Zweitakt

  • Ein Arm und das gegenüberliegende Bein bewegen sich gleichzeitig
  • Etwas Marionettenhaft. Oder?

Schritt im Pass-Zweitakt:

  • Ein Arm und das gleichseitige Bein bewegen sich gleichzeitig.
  • Militärs nennen so etwas Stechschritt.
  • Hervorragend geeignet, um Energie zu übertragen.

Schritt im Pass-Viertakt:

  • Erst bewegt sich ein Arm, dann das gleichseitige Bein, dann der andere Arm …

Versuchen Sie einmal vom Diagonal-Viertakt-Laufen in den Pass-Zweitakt zu kommen. Das ist im Prinzip ganz einfach: Sie fassen einen kleinen Ball oder einen Stein mit der Hand, nehmen Anlauf, rennen los (Diagonal-Vier-Takt) und holen hüpfend Schwung und werfen ihn dann weit weg (Pass-Zweitakt).

Kinder machen gern vor zu hüpfen oder zu hopsen, oder vielleicht sogar einen Galopp (Dreitakt).

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Letzte Aktualisierung: 07.11.2022