1. Home
  2. /
  3. Blog
  4. /
  5. Der Triumph der Medizin

Der Triumph der Medizin

Gastbeitrag: Dr. Stephan Nolte

Krankheit für alle!

« Les gens bien portants sont des malades qui s’ignorent »
Wer sich für gesund hält, weiß es bislang nicht besser. Dr. Knock

Vor 100 Jahren, am 15.12.1923, wurde das Theaterstück „Knock oder der Triumph der Medizin“ im Théâtre des Champs-Élysées erstmalig aufgeführt, eine beißende Satire auf die allumfassende Deutungsmacht der Medizin, der offensichtlich auch zu der Zeit schon spürbar war.

Jules Romains: „Knock oder der Triumph der Medizin“ im Théâtre des Champs-Élysées, 1923

Das Stück ist in Frankreich Schullektüre in der fünften Klasse und jedermann bekannt, in Deutschland jedoch nicht verbreitet und wurde im 100. Jahr seines Bestehens gar nicht aufgeführt (1). Es gibt mehrere, zum Teil auch abstrus verfremdete Verfilmungen, die bekannteste ist die nie deutsch synchronisierte Fassung Gui Lefrancs von 1951 mit dem legendären Louis Jouvet, der die Rolle des Dr. Knock mehr als 1.500-mal spielte.

Die Geschichte ist schnell erzählt

Dr. Knock übernimmt in einem kleinen Ort die verschlafene Praxis seines zurückhaltenden Vorgängers, Dr. Parpalaid. Es gelingt ihm, in kurzer Zeit durch kostenlose Sprechstunden und gesundheitliche „Aufklärung“, eher Bangemacherei, mit dem Lehrer und in Zusammenarbeit mit dem Apotheker, die ganze Bevölkerung zuerst zu potenziellen, dann zu reellen Kranken und Kunden zu machen, getreu dem Motto, dass ein Gesunder nur (noch) nicht lange genug untersucht ist. Am Ende ist die Bevölkerung dankbar, ernst genommen und endlich richtig behandelt zu werden. Der ganze Bezirk unterliegt diesem neuen Paradigma, das Hotel am Ort wird zum Krankenhaus, und die medizinische Durchdringung ist gelungen. Ohne Rücksicht auf die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen ordnet sich die Gesellschaft unter und die Gesundheitswirtschaft prosperiert.

Jules Romains über ‚Knock‘

Jules Romains: „Knock oder der Triumph der Medizin“, 1933

Anlässlich der Uraufführung schrieb Jules Romains über sein Stück:

„Knock“, der die, oder bescheidener, eine Komödie der modernen Medizin sein will, ist kein harmloser Witz und keine leichte Satire. Es sind nicht die kleinen Fehler oder eine Karikatur heutiger Ärzte, die hier angeprangert werden. Nein, es ist ernster als das. Ich glaube nicht, dass sich ein Arzt „Knock“ anschauen kann, ohne beim Hinausgehen ein wenig nachdenklich zu sein oder sich besorgte Fragen zu stellen. Und ich glaube auch nicht, dass ein Patient, selbst der zufriedenste und ergebenste, sich „Knock“ anschauen wird, ohne ein gewisses Vergnügen der Erleichterung und einer geheimen Rache zu empfinden.“ (3)

In der Schlussszene fragt Parpalaid, der alte Arzt, Knock:
„Werden bei ihrem Vorgehen nicht etwa die Interessen des Patienten denen des Arztes untergeordnet?“

Knock antwortet:

„Sie vergessen eines, es gibt noch ein übergeordnetes Interesse, das der Medizin. Und das ist das Einzige, mit dem ich mich beschäftige. […] Sie überließen mir einen Bezirk von einigen tausend gesichtslosen, unbestimmten Individuen. Meine Aufgabe besteht darin, Ihnen eine Bestimmung zu geben, sie zu einer medizinischen Existenz zu führen. Ich schaffe sie ins Bett und beobachte, was dann dabei herauskommt, …, was immer man will, aber irgendwas muss es doch dabei herauskommen, irgendwas, mein Gott, nichts ist mir unerträglicher als diese Wesen, nicht Fisch nicht Fleisch, die Sie als ‚gesunden Menschen‘ bezeichnen.“ […] „Sie können doch nicht den ganzen Bezirk ins Bett legen“, entgegnet Parpalaid, worauf Knock antwortet: „Auch darüber könnte man mal reden. […] In Wirklichkeit ist es doch so, dass wir alle den Mut nicht haben, dass niemand, auch ich nicht, es wagt, bis zum Äußersten zu gehen und tatsächlich die ganze Bevölkerung ins Bett zu schicken, nur um zu sehen, was passiert, nur um es zu sehen! Aber lassen wir das. Ich gestehe ihnen zu, dass es Gesunde geben muss, und sei es nur, um die anderen versorgen zu können oder um eine Art Reserve hinter den aktiven Patienten zu bilden. Was ich nicht dulden kann, ist, dass Gesundheit das Ausmaß einer Provokation annimmt; das werden Sie ja wohl zugeben, da ist das Maß voll. Wir verschließen die Augen angesichts einer gewissen Zahl von Fällen, wir lassen einige Leute ihre Maske des Wohlseins, aber wenn sie uns vor unseren Augen herumstolzieren und sich eine gute Zeit machen, werde ich sauer.“ Parpalaid entgegnet: „Es bleibt aber noch ein ernstes Problem, Sie denken ausschließlich an die Medizin. Und alles andere? Glauben Sie nicht, dass die allgemeine Verbreitung Ihrer Methode eine gewisse Verlangsamung des übrigen sozialen Lebens mit sich bringt, welches, trotz allem, doch zum Teil ganz interessant ist.“ Knock: „Das geht mich nichts an. Ich, ich mache Medizin! […] Anfangs, als ich mich hier niederließ, war ich noch nicht so selbstbewusst, ich wusste, dass meine Anwesenheit keine Bedeutung hat. Das große Land kam ohne mich und meinesgleichen aus. Aber heute fühle ich mich so wohl wie ein Organist vor der Tastatur seiner gewaltigen Orgel. … Das Leben hat einen Sinn, und dank meiner, einen medizinischen Sinn.“

  • Der Bedarf an Medizin ist unerschöpflich …
  • Die ‚Iatrokratie‘ als neue Herrschaftsform ..
  • Schulfach Lebenskunde …
  • „Knock“ erleben! …
  • Hinweise …

Vollständiger Artikel

Letzte Aktualisierung: 18.12.2023