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4. Dezember 2023

Krankheit für alle!

Dr. Stephan Heinrich Nolte

« Les gens bien portants sont des malades qui s’ignorent »
Wer sich für gesund hält, weiß es bislang nicht besser. Dr. Knock

Der Triumph der Medizin

Vor 100 Jahren, am 15.12.1923, wurde das Theaterstück „Knock oder der Triumph der Medizin“ im Théâtre des Champs-Élysées erstmalig aufgeführt, eine beißende Satire auf die allumfassende Deutungsmacht der Medizin, der offensichtlich auch zu der Zeit schon spürbar war.

Jules Romains: „Knock oder der Triumph der Medizin“ im Théâtre des Champs-Élysées, 1923

Das Stück ist in Frankreich Schullektüre in der fünften Klasse und jedermann bekannt, in Deutschland jedoch nicht verbreitet und wurde im 100. Jahr seines Bestehens gar nicht aufgeführt (1). Es gibt mehrere, zum Teil auch abstrus verfremdete Verfilmungen, die bekannteste ist die nie deutsch synchronisierte Fassung Gui Lefrancs von 1951 mit dem legendären Louis Jouvet, der die Rolle des Dr. Knock mehr als 1.500 mal spielte.

Die Geschichte ist schnell erzählt

Dr. Knock übernimmt in einem kleinen Ort die verschlafene Praxis seines zurückhaltenden Vorgängers, Dr. Parpalaid. Es gelingt ihm, in kurzer Zeit durch kostenlose Sprechstunden und gesundheitliche „Aufklärung“, eher Bangemacherei, mit dem Lehrer und in Zusammenarbeit mit dem Apotheker, die ganze Bevölkerung zuerst zu potenziellen, dann zu reellen Kranken und Kunden zu machen, getreu dem Motto, dass ein Gesunder nur (noch) nicht lange genug untersucht ist. Am Ende ist die Bevölkerung dankbar, ernst genommen und endlich richtig behandelt zu werden. Der ganze Bezirk unterliegt diesem neuen Paradigma, das Hotel am Ort wird zum Krankenhaus, und die medizinische Durchdringung ist gelungen. Ohne Rücksicht auf die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen ordnet sich die Gesellschaft unter und die Gesundheitswirtschaft prosperiert.

Der Unanimismus – Die Einmütigkeit

Der Autor, Jules Romains, mit bürgerlichem Namen Louis Henri Farigoule (1885-1972), gehört zu den großen Namen der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er ist mit zwei wesentlichen Werken in die Literaturgeschichte eingegangen: mit dem Roman „Les copains“, 1913, und mit „Knock oder der Triumph der Medizin“ (1923). Mit dem von ihm so benannten Unanimismus (2), vielleicht mit Einmütigkeit zu übersetzen, hat er 1908 eine eigene philosophisch-literarische Richtung begründet: das Leben des Einzelnen in seinen Verflechtungen mit der Gemeinschaft als eine Einheit zu erfassen. Mit Ludwik Fleck könnte man hier von der Entstehung eines Denkkollektives sprechen. Dieser Gedanke ist wenig fortgesetzt worden, der Unanimismus als Begriff blieb im Wesentlichen auf die Schriften seines Begründers beschränkt. Sein 27-bändiges Hauptwerk, „Les Hommes de bonne volonté“ (1932-1946) ist ungelesen vergessen.

Jules Romains: „Knock oder der Triumph der Medizin“, 1933

Jules Romains über ‚Knock‘

Anlässlich der Uraufführung schrieb Jules Romains über sein Stück:

„Knock“, der die, oder bescheidener, eine Komödie der modernen Medizin sein will, ist kein harmloser Witz und keine leichte Satire. Es sind nicht die kleinen Fehler oder eine Karikatur heutiger Ärzte, die hier angeprangert werden. Nein, es ist ernster als das. Ich glaube nicht, dass sich ein Arzt „Knock“ anschauen kann, ohne beim Hinausgehen ein wenig nachdenklich zu sein oder sich besorgte Fragen zu stellen. Und ich glaube auch nicht, dass ein Patient, selbst der zufriedenste und ergebenste, sich „Knock“ anschauen wird, ohne ein gewisses Vergnügen der Erleichterung und einer geheimen Rache zu empfinden.“ (3)

Interessenkonflikte?

In der Schlussszene fragt Parpalaid, der alte Arzt, Knock:
„Werden bei ihrem Vorgehen nicht etwa die Interessen des Patienten denen des Arztes untergeordnet?“

Knock antwortet:

„Sie vergessen eines, es gibt noch ein übergeordnetes Interesse, das der Medizin. Und das ist das Einzige, mit dem ich mich beschäftige. […] Sie überließen mir einen Bezirk von einigen tausend gesichtslosen, unbestimmten Individuen. Meine Aufgabe besteht darin, Ihnen eine Bestimmung zu geben, sie zu einer medizinischen Existenz zu führen. Ich schaffe sie ins Bett und beobachte, was dann dabei herauskommt, …, was immer man will, aber irgendwas muss es doch dabei herauskommen, irgendwas, mein Gott, nichts ist mir unerträglicher als diese Wesen, nicht Fisch nicht Fleisch, die Sie als ‚gesunden Menschen‘ bezeichnen.“ […] „Sie können doch nicht den ganzen Bezirk ins Bett legen“, entgegnet Parpalaid, worauf Knock antwortet: „Auch darüber könnte man mal reden. […] In Wirklichkeit ist es doch so, dass wir alle den Mut nicht haben, dass niemand, auch ich nicht, es wagt, bis zum Äußersten zu gehen und tatsächlich die ganze Bevölkerung ins Bett zu schicken, nur um zu sehen, was passiert, nur um es zu sehen! Aber lassen wir das. Ich gestehe ihnen zu, dass es Gesunde geben muss, und sei es nur, um die anderen versorgen zu können oder um eine Art Reserve hinter den aktiven Patienten zu bilden. Was ich nicht dulden kann, ist, dass Gesundheit das Ausmaß einer Provokation annimmt; das werden Sie ja wohl zugeben, da ist das Maß voll. Wir verschließen die Augen angesichts einer gewissen Zahl von Fällen, wir lassen einige Leute ihre Maske des Wohlseins, aber wenn sie uns vor unseren Augen herumstolzieren und sich eine gute Zeit machen, werde ich sauer.“ Parpalaid entgegnet: „Es bleibt aber noch ein ernstes Problem, Sie denken ausschließlich an die Medizin. Und alles andere? Glauben Sie nicht, dass die allgemeine Verbreitung Ihrer Methode eine gewisse Verlangsamung des übrigen sozialen Lebens mit sich bringt, welches, trotz allem, doch zum Teil ganz interessant ist.“ Knock: „Das geht mich nichts an. Ich, ich mache Medizin! […] Anfangs, als ich mich hier niederließ, war ich noch nicht so selbstbewusst, ich wusste, dass meine Anwesenheit keine Bedeutung hat. Das große Land kam ohne mich und meinesgleichen aus. Aber heute fühle ich mich so wohl wie ein Organist vor der Tastatur seiner gewaltigen Orgel. … Das Leben hat einen Sinn, und dank meiner, einen medizinischen Sinn.“

Der Bedarf an Medizin ist unerschöpflich

Das Stück macht uns bewusst, dass wir aufpassen müssen, um den Allmachtsfantasien und der Deutungshoheit der Medizin nicht zu unterliegen. Nicht nur im Theater, sondern auch im wirklichen Leben, wie uns die Corona-Pandemie gezeigt hat. Denn es ist offensichtlich, was die Medizin auch sein kann, nicht nur ein Dienst am nächsten, sondern auch ein letztlich unerschöpflicher, lukrativer Beruf, mit den gewinnbringenden Möglichkeiten, ganze Netzwerke zu spinnen, an dem alle ihr Auskommen finden: die „kollegiale Zusammenarbeit“ mit Fachkollegen, Universitäten, Apotheken, Pflegediensten, Krankentransporten, Physiotherapeuten, Osteopathen bis hin zu Psychotherapeuten und Beratungsstellen.

Die ‚Iatrokratie‘ als neue Herrschaftsform

Fritz Kahn (1988-1962): Man Machine, http://alt.fritz-kahn.com

25 Jahre nach der Uraufführung, 1949, nach 1.500 Inszenierungen allein mit Louis Jouvet als Regisseur und Hauptdarsteller Knock und einer Verfilmung, schreibt Romains eine Ergänzung, die unter dem Eindruck der totalitären Regime des Nationalsozialismus und des Stalinismus eine neue Herrschaftsform vorschlägt(4): Die ‚Iatrokratie‘. Knock hat sein Konzept ausgeweitet, lebt inzwischen in den USA, wo er fünf medizinische Einrichtungen von Weltrang leitet, darunter die medizinische Fakultät White Plains Institute in der Nähe von New York, und er hat einen genialen, einen teuflischen Plan: die ganze Welt der Herrschaft der Medizin, der ‚Iatrokratie‘ zu unterwerfen. Da jeder Mensch sich selbst, seinem Körper, seinen Beschwerden am nächsten ist, und jeder um die Beeinträchtigung seiner Gesundheit und seiner Endlichkeit besorgt ist, ist es ein Leichtes, eine milde, einsichtige Form einer Diktatur durchzusetzen, eben der Herrschaft der Medizin. Und wie man sie durchsetzt, dafür hat er ebenfalls ein Konzept, um die medizinische Durchdringung der gesamten Bevölkerung zu erreichen: eine Pandemie! Dieser visionäre Text ist bis jetzt völlig unbekannt und zur derzeitigen globalen Gesundheitspolitik noch nicht in Beziehung gesetzt worden. Es ist der vierte Akt, das Update, eines visionären Theaterstückes, was nunmehr hundert Jahre alt ist.

Abschließend noch ein paar Gedanken zur heutigen Bedeutung, von den hochpolitischen Implikationen des visionären Vorschlags, eine Pandemie zu initiieren, einmal ganz abgesehen.

Anvertraut oder ausgeliefert?

Die Frage, die sich jeder, der in irgendeiner Form zum Gesundheitswesen hat, ist die, ob er sich diesen Fachleuten anvertrauen darf, oder ob er ab dem Moment, an dem der Arzt aufgesucht wird, einem hochkomplexen System ausgeliefert ist, dem es nicht auf den Menschen ankommt, sondern auf seine Pathologie. Dazu kommt heute die Pandemie der Angst, insbesondere der Gesundheitsängste. Unter dem Deckmantel der Aufklärung, der Awareness werden immer neue Ängste zu schüren, um sie besser vermarkten zu können. Was wir noch für unbemerkte Krankheiten mit uns herumtragen, oder was es überhaupt an Krankheiten gibt, für die ein öffentliches Bewusstsein geschaffen werden muss. Reicht es nicht, sich mit einer schweren Krankheit dann auseinanderzusetzen, wenn ich das Pech habe, von ihr betroffen zu sein? Müssen die Menschen sich mit allen Pathologien der Welt beschäftigen? Der Lebensfreude und dem Wohlgefühl ist das nicht dienlich.

Schulfach Lebenskunde

Fritz Kahn (1988-1962): Man Machine, http://alt.fritz-kahn.com

Wie in Frankreich, sollte Knock auch in Deutschland in der Schule zur Pflichtlektüre werden. Dadurch würden sich Ansätze fruchtbarer Diskussionen über den Stellenwert der Medizin in unserer Gesellschaft ergeben können. Wir brauchen nicht noch mehr fragwürdige, angstmachende Gesundheitsaufklärung, was wir brauchen, ist eine Lehre von der allgemeinen Lebensführung, die in die Schulausbildung integriert werden muss. Diese soll auch den allgemeinen Umgang mit banalen gesundheitlichen Problemen umfassen, über Fieber, Husten, Durchfall und grippale Infekte. Das Überborden der Notfallbereiche der Kliniken zeigen uns deutlich das Versäumte: Zuerst wurden Abhängigkeiten geschaffen, in dem in den Zeiten der Ärzteschwemme den Menschen das sofortige Aufsuchen eines Arztes bei den kleinsten Symptömchen – die ja Hinweis auf was viel Schlimmeres sein können – angeraten wurde. Jetzt, da die ambulante Betreuung außerhalb der üblichen Bürozeiten weitgehend zusammengebrochen ist, sehen wir die Ergebnisse einer Hilflosigkeit und Abhängigkeit der Bevölkerung, weil wir eines in den vielen Konsultationen – und in kaum einem anderen Land gehen die Menschen häufiger zum Arzt als in Deutschland – nicht gelernt haben: Our first job is to teach. Jeder Arztkontakt sollte helfen, den nächsten Arztbesuch überflüssig zu machen.

Vielleicht kann das auch ein Beitrag zur derzeitigen Krise des Arztberufes sein, die sich durch die Überalterung der Ärzteschaft und den mangelnden Willen der nachfolgenden Generation, sich in dem Hamsterrad so weiterzudrehen, wie es die Ärzte bislang gemacht haben, in den nächsten Jahren absehbar noch sehr verschärfen wird.

„Knock“ erleben!

  • 100 Jahre Dr. Knock – auf dem Weg zur Gesundheitsdiktatur, Lesung aus dem Theaterstück und aus den „Fragmenten“ von Jules Romains.
  • Matinée-Veranstaltung am 28. Januar 2024 im Kulturzentrum „Waggonhalle“, 35039 Marburg, Rudolf Bultmann Straße 2A www.waggonhalle.de, Eintritt frei
  • Mitwirkende: Die Arbeitsgruppe „Marburger Gesundheitsgespräch“ unter der Regie von Stephan Heinrich Nolte

Hinweise

  1. Auskunft des Rechteinhabers, Ahn und Simrock Bühnen- und Musikverlag, vom 23. Oktober 2024
  2. Romains, Jules: La vie unanime. Paris . Editions de “ l’Abbaye „1908
  3. Le Figaro vom 14.12.1923
  4. Jules Romains: Knock: Fragments de la doctrine secrète. Éditions Manuel Bruker, 1949, Privatdruck in 2.500 Exemplaren

Dr. Stephan Heinrich Nolte,
Kinder- und Jugendarzt / Psychotherapeut
Fachjournalist bdfj und freier Kulturwissenschaftler
Lehrbeauftragter der Philipps-Universität Marburg
shnol@t-online.de, www.nolte-marburg.de

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Letzte Aktualisierung: 04.12.2023