Einzelteile oder Beziehungen?
Im Westen studiert man den Körper, indem man ihn zerlegt.

Die Benennung der betrachteten Einzelteile verschafft Klarheit, denn das eine (z. B. ein Muskel) kann so von anderem (Faszien, Blutgefäßen, Nerven, Knochen) abgelöst werden. Allerdings geht dabei zwangsläufig der Funktionszusammenhang verloren. Aber SpezialistInnen (des Gehirns, der Knochen, der Leber oder der Immunzellen) können natürlich bei lebenden Personen, das reparieren, was sie (oder ihrer Lehrer) zuvor am toten Gewebe ausprobiert hatten.
Damit Probleme gelöst oder beseitigt werden, müssen die Expert*innen mit einer Diagnose das Normale von dem Krankhaften trennen. Ein Kunstgriff, der mit einem Widerspruch verbunden ist, der kaum beachtet wird: Ein untersuchter Mensch lebt, Präparate von Krebszellen, Laborwerte, Röntgenbilder, dagegen sind starr und tot. Die Diagnose gründet sich auf toten Erkenntnissen, von denen man annimmt, dass sie nützlich sind bei Interventionen in komplexe, lebende, dynamisch-unvorhersehbare Zusammenhänge.
Aus der sicheren Diagnose folgt die richtige Behandlung, die auf Wahrheit, Evidenz, Messbarkeit beruht. Dabei stehen die spezifischen, punktgenauen, problem-fokussierten Wirkungen im Vordergrund. Die westliche Medizin des 20. Jahrhunderts ist daher eher den Gedankengängen der Newtons verwandt, der mit seiner Physik Ursache-Wirkungsbezüge analysierte.
In der Realität aber gibt es keine Muskeln, Nerven, Gefäße, Faszien oder Knochen, sondern ungetrennt lebenden Elemente, die miteinander zu Funktionseinheiten verwoben sind: Jede Zelle ist z.B. von feinen Fibrillen durchwebt, die über Kontaktstellen zu Nachbarzellen führen. Und alle Zellen sind mit allen anderen in einem gigantischen Informations- und Bewegungssystem verbunden. Bewegungsapparat, Gehirn, Darmbakterien, Stoffwechsel sind durch zahllose Rückkopplungen miteinander verschaltet und schwingen sich aufeinander ein. Körperzellen und das Gewimmel der sie umgebenden Bakterien kommunizieren miteinander nicht wie Sender und Empfänger, sondern in Überlagerungen Quanten-physikalischer Wellen.
Im Osten nimmt man Beziehungen wahr.

Während die europäischen Anatomen in der Renaissance Leichen zerschnitten, versuchte man in China, Leben als ein Wirksystem von Psyche, Körper und umgebender Umwelt zu betrachten: Beziehungen, Austausch, Selbstorganisation und Veränderungsdynamik standen dort im Zentrum des Interesses.
Erklärungsmodelle waren eher Symbole einer in ihrer Komplexität nicht erfassbaren Realität. Dieser Ansatz entspricht eher der quantenphysikalischen Auffassung eines „modellabhängigen Realismus“ (Hawkins), bei dem entweder ein Teilchen oder eine Welle angenommen wird, um in einem Experiment so zu tun, als gäbe es dieses, oder beides: Welle und Teilchen.
Für den Philosophen Konfuzius waren vor 2.500 Jahren die spezifischen Wirkungen zu offensichtlich und daher uninteressant. Es lohne nicht zu fragen, warum Fleisch nahrhaft sei, da es eben so sei. Ihn interessierten dagegen die „nicht-spezifischen“ Wirkkräfte, die das ganze System betreffen, und die z. B. durch den Vollzug eines Rituals freigesetzt werden. Er wollte auf die durch Rituale beruhigend auf die Psyche der Menschen wirken. Dafür sei es notwendig, dass sowohl der Betroffene und der segnende „Opferpriester“ an die Wirksamkeit des Rituals glaubten. Es sei aber nicht nötig, fest daran zu glauben, dass es z. B. „Geister“ (personifizierte unspezifische Wirkkräfte) tatsächlich gäbe. Wichtig sei nur, dass man so handeln solle, „als ob“ es sie gäbe (Littlejohn 2007).
Das Lebende musste an nicht zerstückelten Objekten studiert werden, und das Wahrnehmbare konnte nur ein Teil weit größerer Wirk-Zusammenhänge sein.
Für die östliche Betrachtung der Welt war ein Einzelfaktor, eine Zelle, ein Organ so bedeutungslos wie eine gewöhnliche Person in einem großen Staatswesen. Wichtig war nur, wie etwas reibungslos in einem größeren Ganzen gesund miteinander zusammenarbeiten konnte. Man stellte sich den Menschen ähnlich wie ein bäuerliches Reich vor, das blüht und gedeiht, weil es vor Kriegen, Armut, Hunger und sozialen Wirren bewahrt wird. Eine Skizze dieser Philosophie, die vermied, etwas von etwas anderem zu trennen, ist das Neijing Tu:
Der Versuch einer symbolischen Repräsentation des menschlichen Körpers und geistiger Kräfte, die im Inneren und Äußeren wirken. Möglicherweise stammt es aus dem 15. Jahrhundert, oder es ist ggf. noch älter. Das uns heute erhaltene Bild wurde 1886 im Tempel der Weißen Wolke in Peking in Stein gemeißelt.

Das Neijing Tu versucht holzschnittartig ein lebendes System zu beschreiben, das sich ständig umbaut, anpasst und selbst erneuert. Dabei geht es weniger um eine „westliche“ Wahrheitssuche, wie es „tatsächlich“ ist. Vielmehr wird Nützlichkeit angestrebt, um durch Symbole Hinweise zu geben, wie die Fluss – und Veränderungsdynamik im Menschen durch Übungen und punktuelle Anregungen günstig beeinflusst werden könne. Bei der Betrachtungsweise des Neijing Tu gleichen Störungen nicht unveränderlichen Problemen, sondern Blockaden, die Funktionsabläufe behindern, die in einem Gesamtorganismus eingebettet sind.
Diese Vorstellungen teilten auch antike griechische Gesundheitsphilosophen, die ebenfalls eher an dem Erhalt gesunden Lebens interessiert waren, als an der Reparatur von Problemen.
West und Ost sind sich weniger fremd, als es den Anschein hat.
Mehr
Literatur
- Hawkins S, Mlodinow L: Der große Entwurf, rororo 2011
- Littlejohn R: Kongzi on Religious Experience, South East Review of Asisan Studies 2007, 29:225-32
- Tripp E: Wie funktioniert die Akupunktur? Shiatsu Newsletter 153, 01.02.2009
- Tripp E: Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur, Shiatsu-austria, Magazin, 105
- Unschuld P: Was ist Medizin? Westliche und östliche Wege der Heilkunst. Beck. 2003
- Unschuld P: Forgotten Traditions of Ancient Chinese Medicine: A Chinese View from the Eighteenth Century, Paradigm Publications, 1998