Schamanistisches Heilen
Inhalt
- Ur-Schamanismus
- Das Schicksal beeinflussen
- Die Wirkung heilsamer Beziehung
- Erlaubnis erteilen, heilen zu dürfen
- Versöhnung mit der Natur?
- Vortrag 30.09.2024 (pdf)
Ur-Schamanismus
Schamanismus war ursprünglich geweiht, sakral, heilig. Betrug, Scharlatanerie und Placebo-Hokuspokus entstanden erst viele tausend Jahre später.
Schamanismus ist eine menschen-typische Form des Seins. Möglicherweise entwickelte sie sich vor Millionen von Jahren bei den ersten aufrechten, am Feuer kochenden Affen. Als die bis dahin ungetrennte Natur mit den Händen bleibend verändert werden konnte, entstand möglicherweise die Sorge, das bisher Ungetrennte verletzt zu haben: z.B. einen Geist, wenn sein Baum gefällt wurde, oder den Geist des gejagten Hirsches, oder den unsichtbaren Geist des Wassers. Ist alles ungetrennt, beseelt, sakral, verbunden, dann wurde vielleicht etwas durch eine unerlaubte Intervention verärgert. Das könnte sich rächen. So entstand Sorge, dass es unsichtbare Wirkkräfte geben könnte, die in die Gegenwart hineinwirkten. Manche „psychisch-nicht-normale“ Stammesmitglieder schienen die Fähigkeit zu besitzen, in Träumen oder Trance zu reisen und dabei magische Dinge zu sehen und zu hören.
Als noch sakrale Vorstellungen einer sich stetig verändernden Realität menschliches Handeln bestimmten, war alles verbunden, verwoben, beseelt, in einem Rhythmus ewigen Werdens und Vergehens. Der Schamane „Schwarzer Hirsch“ (Ogala-Sioux, 1947) schilderte eine, von einem großen Geist durchwobene, Welt. In der sich das Verbindende in vielerlei Einzelgestalten und Einzelgeistern manifestieren kann. Das als „innerer Geist“ oder „Seele“ bezeichnete, ist nichts anderem Getrenntes. Sondern eine im Körper manifestierte, körperlose Erscheinungsform des Seins. Sie wird zu dem großen Ganzen zurückgehen, stellt aber keine Einzelexistenz dar.
„Es gibt nur einen Geist (Wakonda), und seine Gegenwart ist in allen Dingen und überall.
Wir sagen, ein Baum ist wakonda, weil in ihm auch Wakonda wohnt.“
Antwort eines Osage (Nordamerika) auf die Frage „Gibt es viele Wakonda?“ (Feest 1998)
Der „großen Geist“ war manifestierte Wirkung eines dynamischen Ganzes. Jedes von ihm Durchströmte galt als heilig. Das Innere (Atem, Traum) war eins mit dem Äußeren (Geistern, Natur).
Erst allmählich entstanden aus diesen „animistischen“ Vorstellungen einer Einheit, Gegensätzlichkeiten, und schließlich auch „Anfang und Ende“ und Fronarbeit. Viel später entdeckten einige wenige Menschen die Möglichkeit, selbst-bestimmt (ohne innere oder äußere Stimmen) zu denken. Sie verlachten die Schamanen und Propheten, die noch halluzinierten und tag-träumten. Nahezu zeitgleich erwuchsen die Dogmen, denen es gelang, große Reiche zusammenzuhalten. In ihrem Machtbereich wurde der Schamanismus in die Hölle verbannt: als heidnisch, tierisch, teuflisch, sündig und bösartig. (Ursprung des Dualismus)
Das Wesen schamanistischer Heilung
Der Ursprung der indoeuropäischen Wurzel *wes bedeutet verweilen, wohnen. „Wesentliches“ ist essenziell, in sich ruhend, wärmend. Wie schamanistische Rituale, die zum Innehalten zwingen, um sich zu besinnen.
Im Japanischen kennt man das Gefühl „Amae“: mütterliches Geborgen-sein, aufgehoben in einer intensiven, „heiligen“ Beziehung. Das Baby kann die Brust der großen Mutter fröhlich genießen, aber zugleich ist die „übermächtige“ Mutter streng, setzt klare Grenzen und sagt, was zu tun ist.
Das Wesen des ursprünglichen Schamanismus, wie man ihn u.a. bei der „Schamanin in Halle“ erahnen kann, beruht u.a. auf ungefilterter Trance.
Das Wort Trance ist abgeleitet vom lateinischen Wort transitus. Es bedeutet „hinübergehen“. In eine andere Realität. Der Trancezustand gleicht dem Gefühl bedingungsloses Einssein mit einem großen Ganzen, ohne die Illusion eines Ich.
- Ungetrennt verbunden (Trance, persönliche Erfahrung)
- Begriffs- und willenlos, unterworfen im kosmischen, heiligen Zusammenhang
- Beseelt ohne „Ich (indisch „Atman in Brahman“)
Schaman:innen wurden nach jahrelangem Training zu Bewohnern (statt Zuschauern) einer halluzinierten Welt. Schamanistisches Reisen oder Fliegen bedeutete nicht Trennung (zwischen den Erscheinungen und der wandernden Seele). Sondern im Gegenteil eine intensive Verbindung mit dem Unsichtbaren: Eine Aufhebung der Trennung zwischen der realen und der geistigen „eigentlichen“ Welt, die miteinander versöhnt werden.
Oft wurden schon Kinder als künftige Schaman:innen berufen, wenn Erwachsenen in ihnen ein Zeichen sahen, dass sie eine Beziehung zum Unsagbaren aufnehmen konnten, oder von dort „auserwählt worden waren“.
Die „Schamanin aus Bad Dürrenberg“ litt an einer Fehlbildung des Atlasknochens des obersten Halswirbelgelenkes. Eine Arterie, die das Gehirn versorgte, konnte hier leicht abgeknickt werden. Außerdem tritt bei dieser Art von Fehlbildung oft bei bestimmten Kopfhaltungen ein schnelles Zucken des Augapfels auf (Downbeat-Nystagmus). (Meller 2022)
Deshalb wird sie schon als Kleinkind anderen als „merkwürdig“ erscheinen sein. Mit ihrer Störung taugte sie nicht zur Alltagsarbeit im Lager oder auf der Jagd. Warum wurde sie dann nicht als unnützer Esser zurückgelassen, sondern im Gegenteil liebevoll versorgt, bis zu einem für die damalige Zeit stattlichen Alter?
Eine Frau wie sie muss bereit gewesen sein, ihr Volk (und die vielen Ratsuchenden, die offenbar von weither kamen, Todesgefahren auf sich zu nehmen. Denn aus ihren schamanischen Reisen konnte es kein Zurück geben. Sie wird sicher durch Ohnmacht-Attacken, die sie vermutlich durch Erfahrung steuern konnte, in ich-lose Trance gefallen zu sein (eine temporale Hirnaktivität, die rationales Denken, wenn es damals schon gegeben haben sollte, ausbremst).
Da ihrer Aufgabe eine große Bedeutung für den ganzen Stamm zugemessen wurde, mussten möglicherweise geeignete Personen besonders geprüft werden.
Die Initiation für Schaman:innen war häufig ausgesprochen brutal, verletzend, qualvoll und führte an die Grenze der erträglichen. Denn nur die, die sich wirklich unterwerfen, können ausgewählt werden. Der Schamane „Schwarzer Hirsch“ der Ogala-Sioux schildert andauernde Übergangsriten, die mit großen Qualen und Belastungen verbunden waren. Und die zum völligen Zusammenbruch der Persönlichkeit führten, bis zur absoluten Unterwerfung unter die Bestimmung des Universums und des Volkes. Die Ogala nannten dieses Ritual „Pleading“ (das Flehen). Initiationsriten konnten noch wesentlich brutaler sein: „an Brusthaut aufhängen“ (Mandan-Sioux), „Ameisen-Handschuhe“ (brasilianische Ureinwohnern), „Trennung auserwählter Kleinkinder von den Eltern“ (bei den Kogi in Kolumbien, Deveraux 2001), Verstümmelungen im Gesicht oder an den Genitalien (Garve 2009).
Bei der Schamanin in Bad Dürrenberg waren zwei Schneidezähne aufgefeilt worden, was ihr lebenslang heftigste Schmerzen bereitet haben muss. (Vergleichbar: Zahnritual in Indonesien).
Schaman:innen, wie sie, mussten bereit sein für den Tod. Sie mussten ihr Ich dem großen Ganzen unterwerfen. Sie zogen vermutlich keine Show ab, sondern inszenierten Rituale, die ihnen selbst bedeutsam oder heilig erschienen. Sei erlebten eine gewaltige Mystik, bei der die innere Wirklichkeit (die Seele) mit der äußeren Realität (der Beseeltheit von allem) wieder in Einklang gebracht wurde.
Neben Unterwerfung und der Erneuerung von Verbindung ist ein weiterer Aspekt schamanistischer Qualität von Bedeutung:
Scharfe, klare, genaue, unbedingte Intention (Castaneda 1998): Widerstandslos das tun, was die Situation erfordert. Etwas völlig anderes als ein „Wille“, der einer Ich-Konstruktion folgt.
Aber vermutlich wird es auch schon vor Tausenden Jahren viele Mischformen „spiritueller“ Handlungen gegeben haben, wie aus frühen Überlieferung zu europäischen Glaubenssystemen geschildert werden (Tacitus Germania). Der Historiker Hasenfratz (s.u.) zählt u. a. Spruch-, Runen-, Übergangs-, Toten-, Wahrsage-, Schmäh-, Schutz-, Schaden-Zauber auf. Und natürlich gute (erlaubte) und verbotene (schwarze) Magie.
Bei heilbaren Leiden werden (auch heute) in steinzeitlichen Kulturen Kräutersammler:innnen aufgesucht. In vielen traditionellen Gesellschaften in Papua, Afrika oder Brasilien fragt man bei Alltags-Weh-weh-chen zuerst nach den Heilpflanzenextrakten einer Nachbarin. Hilft das nicht, sucht man den Tabak-Coca-Cola-Kiosk auf, bei dem, je nach Zahlungsmöglichkeit, auf zerknicktem Zeitungspapier abgelaufene Antibiotika-Dragees oder Psychopharmaka abzählt werden. Oder man notfalls reiht sich ein in die Warteschlange des nächsten Distriktkrankenhauses, in der Hoffnung das dort verschriebenen teuren Pillen, das Problem nicht noch weiter verschlimmern werden.
Steht es aber richtig schlecht um einen Patienten, und droht sie oder er zu sterben, muss die Krankheit ernst genommen werden. Dann benötigt man (in vielen Weltregionen auch heute noch) dringend Expert:innen für das Übersinnliche. Mutige Reisende in andere Welten, die normalen Menschen (und den modernen Ärzt:innen) verschlossen bleiben. Deren Aufgabe ist es, das böse Unsichtbare mit dem Sichtbaren wieder zu versöhnen. Durch eine konservative Zurückführung, hin zu der Ordnung des überkommenen Wertesystems der kulturellen Gemeinschaft.
Die Wirkung heilsamer Beziehung
Heilrituale, die Suggestion, Magie, Zauber, Hexerei, Hypnose, Trance oder Placebo-Rituale einbeziehen, ähneln sich. Show-Effekte, Inszenierungen, bedeutungsvolle Gesten oder Tam-Tam wirken anders als sprach- und beziehungslose, nüchtern-rationale-dogmatisch fixierte Medizin.
Trotzdem ist bestimmten Erscheinungsformen, die äußerlich verwandt erscheinen, ihrem Wesen nach wenig gemeinsam. Scharlatane trennen.
Schaman:innen verbinden
Vor vielen tausend Jahren beruhigten sie Konflikte zwischen sichtbaren und unsichtbaren Realitäten. Sie
- erteilen Absolutionen, sprachen von Schuld frei und sorgten für innere Ruhe.
- konnten äußere Mächte besänftigen. Sie kommunizierten mit den Geistern, die in allen Aspekten der belebten Natur wohnten, und die in sie hineinwirkten.
- verhalfen zu einem unbewusst-körperlich-eingeprägtem Verständnis der Harmonie innerer und äußerer Zusammenhänge.
Voraussetzung für ihr Gelingen war nicht nur die Gewandtheit in der Anwendung suggestiver Techniken. Vielmehr mussten sie fähig und bereit sein, sich unbedingt auf das Sein der anderen einzulassen: auf Empfindungen, Fühlen, Gedanken, Motive, Sehnsüchte. Sie mussten das Wesen und die Dynamik einer Situation erkennen, in sich nachzuempfinden und sich damit zu verbinden. Zugleich mussten sie fähig sein, in unsichtbare Welten zu reisen, die anderen verschlossen blieben, oder ihren Körper von einer äußeren Macht in Besitz nehmen und beherrschen zu lassen.
Trance & Besessenheit: Essenziell für das Verständnis von Schamanismus.
Schamaninen gingen bei ihren Trance-Erlebnissen erhebliche Risiken ein. Denn manchmal fanden sie danach nicht mehr zurück in das normale Leben.
Reisende in andere Welten mussten sich bedingungslos unterwerfen: unter die Interessen der Gemeinschaft, die in ein großes Ganzes eingebunden war. Die Ich-Konstruktion der frühen Schaman:innen wird eher bescheiden gewesen sein, da sie sich als ein kleines Werkzeug höherer Mächte verstanden.
Nur durch Unterordnung in ihrem Glaubenssystem, und immer wiederkehrende Selbstaufgabe bei Besessenheit wird es ihnen gelungen sein, für Aussöhnung in den heiligen Systemen zu sorgen, deren untrennbarer Teil sie waren.
Ihren Patient:innen empfahlen sie Möglichkeiten, innere und äußere Beziehungen störungsfreier zu gestalten. Sie werden als frühe Verhaltenstherapeut:innen im Dienst des Glaubens und der Tabus ihrer sozialen Gemeinschaft gehandelt haben.
Wenn es in der Stein- oder Bronzezeit schon selbstsüchtig-betrügerische Gaukler:innen gegeben hätte, wäre deren Selbstsucht und Feigheit aufgefallen. Ihre Überlebenschance wird im Mesolithikum nicht sehr groß gewesen sein.
Echte Schaman:innen werden dagegen als anerkannt furchtlose Spezialist:innen für übergeordnete Zusammenhänge das Verhalten ihrer Gemeinschaft beeinflusst haben, als Begleiter:innen einer großen Mutter oder eines starken Kriegers an der Spitze ihres Volkes. Das, was sie taten, erwies sich immer wieder als existenziell für das gemeinsame Überleben des Stammes. Es schweißte zusammen, verband und sicherte die soziale Seilschaft.
Einige moderne Therapien versuchen an ur-schamanistischen Heilerfolgen anzuknüpfen: Sie trainieren die Qualität der Arzt-Patient-Kommunikation (Dörner 2011), sie berühren (Vergehse 2011), sie behandeln in Trance (Grinder 2011), oder nutzen körperliche Methoden, die von schamanistischen Tänzen abgeleitet wurden (Xiaoqiu 2014).
Angesichts der Schwemme der sprachlosen, auftrennenden Digital-Medikalisierung des Gesundheitsmarktes sind das aber nur verschwindend wenige.
Mütterliche Ur-Geborgenheit und Großmutters Erzählungen
Die Geburt löst eine harmonisch geordnete Einheit auf in Mutter und Kind. Unmittelbar danach wird diese Auftrennung Zweiheit gewandelt: Die Mutter schützt und versorgt (Bonding. Allmählich wächst die neue Qualität eines ‚Ich‘ in Geborgenheit.
Die Nähe zur Mutter strahlt die Gewissheit aus, geschützt zu sein. Herzschlag und Atmung normalisieren sich. Das Immunsystem arbeitet beruhigt und gedämpft. An diese heilsame Beziehung wird sich das lebenslang erinnern und sich danach zurücksehnen.
Aber auch an die Vertrautheit mit der Großmutter und dem Großvater. Die waren möglicherweise weniger direkt in die körperliche Versorgung eingebunden als die Mutter. Aber sie konnten aus ihrem großen Erfahrungsschatz schöpfen. Sie berichteten von der Vergangenheit, erzählten Märchen, erfanden Geschichten, erinnerten an Traditionen, und regten die Fantasie des Kindes an, mit Bildern von Feen, Riesen, Helden, Prinzessinnen, Drachen und unsichtbaren Geistern. Durch die Vertrautheit mit ihnen lernte das Kind, dass die Zukunft gut werde, weil es viele gute unterstützende Kräfte gibt, die ihm beistehen werde. Und weiter, dass angesichts von Gefahren nicht weglaufen muss, sondern sie bestehen kann und wachsen. Und schließlich, dass sein Leben in der Kultur und Gemeinschaft einen Sinn und eine Bedeutung hat. Die psychologische Vermittlung Kohärenz vermitteln seinem Organismus eine Sehnsucht. Eine Vision, zu der es, mit neuer Energie, hingezogen wird.
Kranken Geschichten zu erzählen und vorzulesen, ist ein mächtiges Mittel, bei ihrer Gesundung zu helfen. (Borg Scientific Am. 1989)
Später übernehmen Familienmitglieder die versorgende Rolle der Mütter übernehmen. Und Heiler:innen, Schaman:innen oder Ärzt:innen werden ihnen Geschichten für Erwachsene erzählen. (Benedetti 2022)
Empathischen Kommunikation, symbolischen Handlungen oder Berührungen anlässlich einer Therapie vermitteln dann Beziehung und Vertrauen.
Die Behandler:innen beschreiben ihren Kund:innen ein ihnen vertrautes Modell der Realität. Sie benennen Ursachen von Störungen. Und sie vermitteln eine klare, modellbezogene Strategie, wie das Problem gelöst werden könne. Patient:innen dürfen nun glauben und hoffen, und werden darin bestärkt, dass „wir es schaffen werden!“. Dann erkennen sie auch in der Anwendung bitterer, neben-wirkungsreicher, schmerzhafter Mittel einen Sinn.
Das Wesen schamanistischer Kompetenz ist es, den Patienten durch Rituale von Schuld freizusprechen und ihm eine Absolution zu erteilen. Sie versöhnen den Kranken oder Gestressten mit den unsichtbaren Mächten, die im Böses wollten. Und darüber hinaus mit der ganzen universellen Natur, deren Gesetze vielleicht unbewusst verletzt worden waren.
Damit werden Schaltkreise im Gehirn der Erkrankten aktiviert, die eine Illusion positiven Zukunft vermitteln. Das Immunsystem beruhigt sich, weil es „jetzt sicher gut werde“.
Wirkungen und Effekte
Für die Wirksamkeit einer Kommunikation muss das Hirn-Belohnungssystem, nicht nur bei Kranken, sondern auch bei den Anwendern aktiviert werden.
Denn Körperhaltung und Mimik strahlen unbewusst Sicherheit, Empathie und Vorfreude aus. Das nehmen Patient:innen ebenfalls unbewusst wahr und spiegeln es in ihren Hirnarealen. Wie sich Heilerin verhalten, bewegen und wie sie sprechen oder singen ist deshalb von großer Bedeutung: Damit vermitteln sie Wahrhaftigkeit. Stünden bei ihnen Aussagen und unbewusste vermittelte Verhaltenssignale widersprüchlich zu sein, würde das auf Betrug oder Abzocke hinweisen.
Einige schamanistische Rituale wirken deshalb besonders intensiv, wenn sie von Personen angewandt werden, die durch jahrzehntelanges Training in ihrem Glaubens-Modell „absolut sicher“ zu wissen glauben, dass ihre Handlung punktgenau und spezifisch wirke, oder die in Trance genau das ablaufen lassen, was von ihnen erwartet wird.
Das Training im jeweiligen schamanistischen Glaubenssystem muss folglich möglichst komplex, „verschult“, mühevoll, schmerzhaft und schwierig sein, damit die gläubigen Anwender:innen die Grundannahme des Denkmodells nicht mehr infrage stellen. Wenn im Rahmen eines solchen Erklärungsmodells Heileffekt beobachtet werden, dann deshalb, weil „die Heilslehre eben wahr“ sei. Wenn nicht, dann liege es sicher daran, dass bei der Anwendung ein Fehler aufgetreten sei, der bei folgenden Therapiewiederholungen ausgebügelt werden muss.
Lautgebung, Musik, Sprache, Singsang, Mimik, Berührungen, Untersuchungen, Körperhaltungen, Gesten u. v. a. können starke psychologische (und damit indirekt immunologische) Effekte auslösen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Personen, die „heilsame Handlungen“ ausführen, als „tief vertraut“ empfunden werden.
Die Handlungen der „sich um mein Wohl sorgender“ Personen müssen intensiv „gespürt“ werden. Die Meldungen äußerer und innerer Sinnesorgane sollten möglichst eindeutig sein (Geruch, Farbe, Geräusch und Geschmack, Druck, Zug, Wärme, Schmerz).
Eingriffe, die einen unmittelbaren, spürbaren „Nachteil“ mit sich bringen, sind bei Heil-Ritualen besonders effektiv. Zum Beispiel, wenn sie „eklig-bitter“ schmecken, oder einen „stechenden oder brennenden“ Schmerz auslösen. Und besonders stark wirken Verletzungs-Rituale, die schmerzen, weil sie stechen, schneiden, picksen, tätowieren, schröpfen, ritzen.
Drastisch oder erschreckend Erlebtes, brennt sich intensiv in der Erinnerung ein.
Das Schicksal beeinflussen
Um in den Lauf des Lebens einzugreifen, musste man versuchen, unendlich verworrene Zusammenhänge zu verstehen. In der Natur mussten Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten erkannt werden. Das dann Erlebte, Erfahrene und Gelernte wurde in einem vereinfachten Modell der Realität verdichtet.
So war es dann zu glauben, dass „etwas so sei“ (ein Ahne, ein Geist, ein Gott). Erst dann konnte man es zielgerichtet beeinflussen: durch ein Gebet, eine Opfergabe, einen Tanz oder Räucherwerk u. v. a.
Die Symbolik des Schamanistischen Weltbildes ist in vielen Weltregionen erstaunlich ähnlich:
Die Bilder rechts zeigen aus vier verschiedenen Kontinenten ein verwandtes Verständnis der Realität: Die Welt ist eins. Sie wird symbolisiert durch den Kreis, der alles umfasst und von einem großen Geist durchströmt ist. In der oberen Hälfte des Kreises befindet sich die Sphäre des Sichtbaren. Das, was mit den gewöhnlichen Sinnen wahrgenommen ist, das alltägliche Leben. Die andere Welt wird von Unsichtbarem bewohnt, von Ahnen, Göttern und Geistern. Kinder werden (im Dikenga-Zeichen gegen den Uhrzeigersinn) in die soziale Gemeinschaft geboren. Sie wachsen, erreichen ihren Lebenszenit und gehen dann dem Altern zu und sterben in die Unterwelt, in der sie sich auf die nächste Wiedergeburt vorbereiten. Den Tod gibt es nicht, nur unterschiedliche Phasen und Ausdrucksformen von Lebendem.
Schaman:innen sind besonders begabte Menschen, die in der Lage sind durch die unterschiedlichen Sphären des Seins zu reisen und die dann den Daheimgebliebenen berichten, was zu tun sei.
Trance und Schamanismus sind daher zutiefst konservativ, denn die Götter, Ahnen und Geister, deren Worte ein Schamane in seiner Trance murmelt, können nur das verkünden, was im Laufe der Stammestradition schon einem als eine Regel oder ein Tabu oder ein Gesetz formuliert worden war.
Für gänzlich neue Probleme, mit denen etwa die Einwohner Amerikas angesichts der Flut weißer Siedler konfrontiert wurden, fanden ihre großen Schamanen (wie Sitting bull) keine Antwort.
Erlaubnis erteilen, heilen zu dürfen
Krankheit entstand in ursprünglichen Glaubenssystemen aufgrund von Tabuverletzungen. Sie folgte der Verärgerung oder Störung von Geistern, Ahnen oder anderen dunklen Mächten. Die Kompetenz des Schamanen bestand in der Fähigkeit, mit diesen zu kommunizieren. Um sie um Erlaubnis zu bitten, dass der Fluch vom Erkrankten genommen werde, damit er oder sie nun heilen dürfe.
Heilung erforderte also nicht nur die Interaktion mit Menschen, die sich sorgten, sich kümmerten, und die Kranke liebevoll pflegten.
Ferner benötigte man Expert:innen, die Wirkzusammenhänge ’sehen‘ konnten, die normalen Sterblichen verborgen blieben.
Das scheinbar paradoxe Verhalten, dass Heilung nach Gemeinschaft verlangt, hat einen evolutionären Sinn. Für diesen Effekt lohnte es weite Reisen zu einer berühmten Schamanin auf sich zu nehmen, oder sich rituell quälen zu lassen, durch Einritzen, Durchbohren, Kneifen, Brennen, Stechen u. v. a.
Gesundungsoptimismus und Krankheitspessimismus müssen eine Bedeutung im Rahmen der Gruppenselektion gespielt haben.
Ist eine Versöhnung mit der Natur möglich?
Kann es sein, dass wir mit zunehmendem Reichtum, innerlich verarmen?
Wir schlittern in immer intensivere Krisen, und machen weiter wie bisher. Eine ökologische Wende bleibt aus.
Wir bekämpfen immer neue Probleme und intervenieren in fließende Zusammenhänge. Wir glauben die Natur zu beherrschen und wachsen (auf Kosten unseres Umfeldes) solange es noch geht. Wir sind nicht mehr verbunden. Weder mit uns, noch mit dem, was uns umgibt.
Unsere Medizin löst technische Probleme. Aber sie vernachlässigt die Beziehung. Sie vermittelt keine Geborgenheit. Sie versöhnt uns nicht.
Die wissenschaftlich-mechanistische Weltsicht hat die Natur stumm werden lassen. Unsere Gesellschaften sind Todes-Angst orientiert. Denn das, von dem wir leben, wird immer schneller zerstört. Die lebendige Einheit mit Vielgestaltigkeit und Dynamik der Welt scheint Vergangenheit zu sein.
Immer mehr Menschen sehnen sich nach positiven Visionen, nach grundlegenden Werten, nach sozialer Resonanz, nach Spiritualität, nach Verbindung mit der Natur, nach Versöhnung mit einem Gesamtzusammenhang. (McGilchrist 2022) Viele sind nicht mehr gewillt zuzulassen, dass grenzenlose Gier, Profit, Suchtverhalten und Kommerz die Biosphäre, und damit die menschlichen Lebensgrundlagen, komplett zerstören. (Latour 2023)
Wir können nur in einer verbundenen Welt überleben. Als harmonisch eingefügter Teilaspekt.
Oder wir werden in der Evolution scheitern.
Erinnerungen an uralte Traditionen der Verbundenheit könnten in uns Sehnsucht wecken. Nach Geborgenheit in sinnvollen Zusammenhängen. Nach Versöhnung.
Mehr
Vortrag
- VHS Rotenburg, Schamanismus oder Scharlatanerie, 30.09.2024 (PDF)
Literatur:
- Benedetti F: Placebo Effects 3rd Edition, Oxford Univ. Press 2021
- Castaneda C: Pases mágicos. Ed Martinéz Roca, Barcelona 1998
- Deveraux P: Schamanistische Traumpfade, AT Verlag 2001
- Dörner K: Der gute Arzt – Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung, Schattauer 2001
- Feest C:F:: Beseelte Welten – Die Religionen der Indianer Nordamerikas. In: Kleine Bibliothek der Religionen. Band 9. Herder 1998, ISBN 3-351-23849-7
- Garve R: Kirahé, 2007 Ch. Links Verlag – Laleo, 2009, Ch. Links Verlag
- Grinder S, Bander S: Therapie in Trance, Klett Cotta 2011
- Hasenfratz HP: Die religiöse Welt der Germanen. Herder Spektrum,1999
- Humphrey N: The evolved Selfmanagement system. Interview 2012.
- Latour B et al.: Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. ed suhrkamp, 2022
- McGilchrist I: The matter with things. Vol. I and II. Perspectiva Press 2021
- Meller H., Michel K. Die Schamanin von Bad Dürrenberg, gemalt von Karol Schauer, Rowohlt 2022, ISBN 978-3-498-003012, Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle
- Schwarzer Hirsch: Die heilige Pfeife, Walter 1953, Original: Joseph E. Brown: The sacred pipe, 1947
- Verghese A: Vortrag „A doctors touch“ (Ted 2011), http://abrahamverghese.com
- Xiaoqiu L: Dayin Yangsheng Gong nach Prof Zhang, AMV Verlag 2014