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Scharlatanerie oder Schamanismus?

Heilrituale, die Suggestion, Magie, Zauber, Hexerei, Hypnose, Trance oder Placebo-Rituale einbeziehen, ähneln sich. Show-Effekte, Inszenierungen, bedeutungsvolle Gesten oder Tam-Tam wirken anders als sprach- und beziehungslose, nüchtern-rationale-dogmatisch fixierte Medizin.

Trotzdem ist bestimmten Erscheinungsformen, die äußerlich verwandt erscheinen, ihrem Wesen nach wenig gemeinsam. Denn entweder trennen sie, oder sie verbinden.

Scharlatane (beiderlei Geschlechts) trennen.

Sie schwindeln oder täuschen oder betrügen. Dabei empfinden sich Scharlatan:innen als handelnde Subjekte, die klar getrennt sind von den Objekten, die sie manipulieren. Ihr „Ich“ grenzt sich ab von dem „Sein“ schwach-passiv-leidender Klient:innen. Sie be-handeln, lindern Krankheitszeichen, intervenieren. Und formen therapeutische Beziehungen zielgerichtet zu ihrem Vorteil. Angst-Erzeugung ist ihnen wichtig, um den verstärkten Stress dann um so effektvoller wegzaubern zu können. Da sie selbst nicht betroffen sind, empfinden sie höchstens Mitleid für ihre Objekte. Sie werfen Care-Pakete in ein Loch, in dem Verzweifelte ausharren. Und fordern: „Durchhalten, Glauben, Hoffen“. Scheinbare „Schaman:innen“ leben vom psychischen Elend. Sie sind nur an Krankheit interessiert. Gesundheit, die Anpassungsfähigkeit an Belastungen, nutzt ihnen nichts. Deshalb ist ihr Interesse gering, auf die Leitern zu zeigen, die ihren Kund:innen helfen könnten, selber aus dem Loch zu klettern, in das sie gefallen sind.

Heiler
Mix aus Schamanismus, Placebologie, Heilkräuterkunde, Geisterbeschwörung, Psychotherapie, Chirurgie, Osteopathie & moderner Pharma. (Bild: Jäger, Benin 1996)

Das Risiko von Scharlatane ist gering, solange sie geschickt dafür sorgen, dass ihr Betrug nicht entlarvt wird. Dafür müssen sie unbedingt so erscheinen, als glaubten sie selbst fest an das, was sie tun.

Die sinnentleerten Reste von „Schamanismus“ werden in der modernen Medizin „Placebo“ genannt. Auch hier werden Patient:innen vor deren Anwendung in Panik versetzt, bevor man sie durch Suggestion in einen Handlungs-Tunnel lockt. Dort werden sie dann medikalisiert, konditioniert, gepiekst und mit bunten Pillen versorgt.

Oft helfen die so ausgelösten Sicherheitsgefühle tatsächlich. Aber langfristig nutzen sie den Betroffenen nicht:

Denn durch Placebo-Anwendungen geraten sie in Abhängigkeit. Sie lernen aber nichts.

Schaman:innen verbinden.

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Die Schamanin von Bad Dürrenberg, gemalt von Karol Schauer, Rowohlt ISBN 978-3-498-003012, Ausstellung: Landesmuseum Halle

Vor vielen tausend Jahren beruhigten Schaman:innen Konflikte zwischen sichtbaren und unsichtbaren Realitäten. Sie erteilen Absolutionen, sprachen von Schuld frei und sorgten für innere Ruhe. Sie konnten äußere Mächte besänftigen. Sie kommunizierten mit den Geistern, die in allen Aspekten der belebten Natur wohnten, und die in sie hineinwirkten. Sie verhalfen zu einem unbewusst-körperlich-eingeprägtem Verständnis der Harmonie innerer und äußerer Zusammenhänge. Voraussetzung für ihr Gelingen war nicht nur die Gewandtheit in der Anwendung suggestiver Techniken. Vielmehr mussten sie fähig und bereit sein, sich unbedingt auf das Sein der anderen einzulassen: auf Empfindungen, Fühlen, Gedanken, Motive, Sehnsüchte. Sie mussten das Wesen und die Dynamik einer Situation erkennen, in sich nachzuempfinden und sich damit zu verbinden. Zugleich mussten sie fähig sein (damals, als es sie noch gab) in (für andere) unsichtbare Welten zu reisen, oder sich von einer äußeren Macht in Besitz nehmen und beherrschen zu lassen.

Dabei gingen sie erhebliche Risiken ein, denn manche Menschen finden nach tiefen Trance-Erlebnissen nicht mehr in das normale Leben zurück. Sie mussten sich bedingungslos unterwerfen: unter die Interessen der Gemeinschaft, die in ein großes Ganzes eingebunden war. Nur so konnten sie für einen Ausgleich in den komplexen „beseelten“ Wechselwirkungen der „heiligen“ Ökosysteme sorgen, deren untrennbarer Teil sie waren. Sie empfahlen Wege, wie innere und äußere Beziehungen störungsfreier gedeihen konnten. Bei selbstsüchtig-betrügerischen Gaukler:innen hätte man deren Feig- und Faulheit gespürt. Ihre Überlebenschance wird dann im Mesolithikum nicht groß gewesen sein.

Als anerkannt furchtlose Spezialist:innen für übergeordnete Zusammenhänge beeinflussten sie das Verhalten ihrer Gemeinschaft, als Begleiter:innen der großen Mutter oder des großen Kriegers an der Spitze des Volkes. Das, was sie taten, erwies sich immer wieder als existenziell für das gemeinsame Überleben des Stammes. Es schweißte zusammen, verband und sicherte die soziale Seilschaft.

Einige moderne Therapien versuchen (wahrhaftig) an ur-schamanistischen Heilerfolgen anzuknüpfen: Sie trainieren die Qualität der Arzt-Patient-Kommunikation (Dörner 2011), sie berühren (Vergehse 2011), sie behandeln in Trance (Grinder 2011), oder nutzen körperliche Methoden, die von schamanistischen Tänzen abgeleitet wurden (Xiaoqiu 2014). Angesichts der Schwemme der sprachlosen, auftrennenden Digital-Medikalisierung des Gesundheitsmarktes sind es aber nur verschwindend wenige.

Mehr

  • Heilsame Beziehung
  • Täuschung und Placebo
  • Ur-Schamanismus
  • Erlaubnis erteilen, heilen zu dürfen
  • Versöhnung mit der Natur?
  • Literatur

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Letzte Aktualisierung: 05.04.2023