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Zivilisations-Psychose?

Sind wir psychisch krank?

Die Weltgesundheitsorganisation hält jeden achten Menschen auf diesem Planeten für psychiatrisch behandlungsbedürftig. (WHO 2022)

Wurden dabei die vielen Patient:innen mitgezählt, die der Medizinbetrieb „depressiv“ nennt? Oder, die, die an chronischer Erschöpfung leiden, oder an „Burn-out“ oder an anderen immunologischen Störungen? Oder die vielen anderen, die Psychopharmaka konsumieren, oder Schmerzmittel, oder virtuelle Sucht-Produkte, oder psychoaktive Drogen, oder andere Suchtmittel?

Seit 2020 schwappte eine Welle von Angstbotschaften, Überinformation und Kontrollmaßnahmen um die Erde. Seither hat die psychische Not deutlich zugenommen. Gesteigert durch Krieg, Umweltkatastrophen und soziales Elend. Die, die sich nach Sicherheit sehnen, finden immer weniger Halt, um sich an einem Glauben festzuklammern.

Besonders ausgeprägt scheint das Post-Covid-Stimmungstief bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu sein. (BZ 23.04.2024) Ihnen fehlen Perspektiven und Sinn.

„Am Anfang habe ich absolut an mich geglaubt. Es ist die Menschheit, die mich langsam zweifeln lässt.“ Charlie Hebdo Nr. 1570, 24.08.2022

Die Grundlagen unserer Existenz rutschen.

Wir stehen auf Morast und spüren es. Unsere körperlichen Alarm-Sensoren klingeln ohne Pause. Wir starren auf Müllhalden zersplitterter Einzelteile, die in kein Gesamt-Puzzle passen. (Bronner 2022)

Wir sind unruhig. Und wissen nicht, wie wir kämpfen sollen, oder wohin wir uns zurückziehen können. Wir ahnen, dass jede Kultur, die (wie unsere) in eine evolutionäre Sackgasse hineinschliddert, sich radikal anders verhalten müsste. Oder dass sie scheitern wird.

So stehen vor einem Abgrund, der sich nicht verdrängen lässt. Und sind unglücklich.

„Es ist eine Zeit der Monster. Die Alte Welt liegt im Sterben.
Die neue ist bisher nicht geboren.“ (Antonio Gramsci, 1936)

Was blockiert uns?

Der Psychiater Ian McGilchrist hält modernes, ir-rationales Verhalten für eine Folge einer Verzerrung der Realitäts-Wahrnehmung. Für einen Wahn, der auf einer Anpassungsstörung unserer archaischen Gehirnsoftware beruht.

Unsere psychischen Leistungen haben die Natur bis zur Erschöpfung geprägt (Anthopozän). Nun siegen wir uns zu Tode. Und es fällt uns schwer, Wechselwirkungen, Dynamiken und Beziehungen innerer und äußerer Systeme zu verstehen.

Der Sinnzusammenhang geht uns verloren. Eine in sich ruhende Radnabe des Verstehens, auf die sich die vielen, zusammenhanglos herum-verwirrenden Einzelinformationen beziehen könnten.

Liegt es an ihrer Hardware, dass moderne Menschen gegen etwas kämpfen, was sie ausmacht oder trägt? (NZZ 2022) Und dass sie sich so selten auf die Anteile ihrer selbst beziehen, die besonnenes Handeln ermöglichen?

Das Leben aufräumen

Urs Wehrli zeigt in seinen Bildern, was Ian McGilchrist in rational-detaillierter Form beschreibt: Das Ende der Kunst, durch Zergliedern und Aufräumen. Lebendes erscheint unordentlich und unberechenbar zu sein. Weil nur das Tote und Sinnlose wirklich verfügbar ist. (Rosa 2018)

Was ist „Irr-Sinn“? Drewermann 04.10.2022? oder Goebbels 18.02.1943?

Wir trainieren auf der Höhe unserer Zivilisation das, was die sogenannte „künstliche Intelligenz“ besser kann: Einzelfakten und trennende Begriffe verarbeiten. Und wir verlieren den Bezug zu dem, was lebt und wimmelt. Wir rennen in Tunneln und verlassen uns weniger auf unsere Assoziationen, Kreativität, Beziehungen, Verbindungen und eigene Dynamiken.

„Wir müssen handeln! … Wir gleichen Schlafwandlern, die sich (immer schneller) auf den Abgrund zu bewegen … mit (einem Hirnteil) sehen wir in der Regel nur eine einfache Sichtweise von etwas, glauben, dass diese Sicht immer richtig ist, … wir suchen nach Macht, die manipuliert, die es uns ermöglicht, zuzugreifen, die Kontrolle zu erlangen, alles wegzuräumen, was im Weg steht, … dieses Denken hat uns in den Schlamassel geführt, weil sie nur nach Nutzen strebt … (die alternative Hirnfunktion) hingegen sieht, dass alles letztlich miteinander verbunden ist, dass die Dinge niemals statisch und fest sind, sondern sich entwickeln und verändern, dass sie sich bewegen und komplexe Schönheiten schaffen … das, was das Leben ausmacht, und das finden wir jetzt nicht mehr …“ (Zitat: McGilchrist, Sept. 2022: https://www.youtube.com/embed/686heq5QFPk?feature=oembed)

Was tun?

Seit Jahrtausenden haben sich Kriege bewährt. Probleme, die im Weg stehen, werden einfach erschlagen. Das ging so lange gut, wie die angerichteten Schäden im Gesamtsystem vernachlässigt werden konnten. Jetzt beißen „die Dinge“ zurück.

Kann uns Eigenverantwortung, radikal-rationales Selber-Denken und Potenzialentfaltung aus den Zivilisations-Psychosen führen? Ein Interviewpartner von Ian McGilchrist, der kanadische Psychologe Jordan B. Peterson, glaubt an diesen Lösungsweg (2018, 2021a, 2021b). Er fordert auf, wir sollten uns gegen Diskurse wehren, die zu dem verkümmern, „was heute (noch) gesagt werden kann, soll und muss“.

Auch ein anderer Philosoph, Omri Böhm, plädiert für eine Renaissance der Aufklärung (engl. Enlightenment). Nur die Ideen des Universalismus, der Gleichheit vor dem Gesetz und der rationalen Vernunft (im Sinne Kants), könnten aus dem psychischen Elend führen, das Ir-rationalität und Ausbeutung anrichten. (Spiegel 29.10.2022, Israel eine Utopie 2020)

Ich wünschte, es wäre so.

Tatsächlich sind aber immer nur Minderheiten an Klarheit interessiert. Mehrheiten verlangen nach „Wahrheiten“, die geglaubt, und an Anweisungen, die befolgt werden können. An scharfe Trennungen von Gut und Böse. An Führungen, denen man trauen kann. Und an siegreiche Kriege. Damit alles so bleiben (und weitergehen) kann wie bisher.

Ja, auch ich halte rationales Nachdenken für unverzichtbar, um uns von dem zähen Meinungsbrei zu befreien, der in unsere Gehirne schwappt.

Selber-denken ist mühsam und unverzichtbar. Aber es reicht nicht.

Denken muss ergänzt werden durch emotionale, sinnliche, körperliche Realitäts-Wahrnehmung. Erleben, spüren, fühlen, erfahren: so werden einströmende Informationen in einen persönlichen Bezug gesetzt. Verstehen beruht auf Begreifen. Denn unser Geist ins verkörpert.

„Wer nichts von Tieren lernen will, muss zivilisiert bleiben“. Sapolsky (Primatenforscher)

… oder sie oder er wird im Verlauf der Evolution ausgesondert.

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Letzte Aktualisierung: 26.04.2024