Zivilisations-Psychose?
Sind wir psychisch krank?
Die Weltgesundheitsorganisation hält jeden achten Menschen auf diesem Planeten für psychiatrisch behandlungsbedürftig. (WHO 2022)

Wurden dabei die vielen Patient:innen mitgezählt, die der Medizinbetrieb „depressiv“ nennt? Oder, die, die an chronischer Erschöpfung leiden, oder an „Burn out“ oder an anderen immunologischen Störungen? Oder die vielen anderen, die Psychopharmaka konsumieren, oder Schmerzmittel, oder virtuelle Sucht-Produkte, oder psychoaktive Drogen, oder andere Suchtmittel?
Seit 2020 schwappt eine Welle von Angstbotschaften, Überinformation und Kontrollmaßnahmen um die Erde. Seither hat die psychische Not deutlich zugenommen. Natürlich auch aufgrund anderer Ursachen, wie Umweltkatastrophen, Krieg und sozialem Elend. Gläubige, die sich nach Sicherheit sehnen, finden immer weniger Halt, um sich festzuklammern.

Die Grundlagen unserer Existenz rutschen.
Wir stehen auf Morast und spüren es. Unsere körperlichen Alarm-Sensoren klingeln ohne Pause. Wir starren auf Müllhalden zersplitterter Einzelteile, die in kein Gesamt-Puzzle passen. (Bronner 2022)
Wir sind unruhig. Wir wissen nicht, wie wir kämpfen, oder wohin wir uns zurückziehen sollen. Und wir ahnen, dass jede Kultur, die in eine evolutionäre Sackgasse hineinschliddert, sich radikal anders verhalten müsste, oder scheitern wird.
Wir stehen vor einem Abgrund und sind unglücklich.
„Es ist eine Zeit der Monster. Die alte Welt liegt im Sterben.
Die neue ist noch nicht geboren. “ (Antonio Gramsci, 1936)
Was blockiert uns?
Der Psychiater Ian McGilchrist hält modernes, ir-rationales Verhalten für eine Folge einer Verzerrung der Realitäts-Wahrnehmung. Für einen Wahn, der auf einer Anpassungsstörung unserer archaischen Gehirnsoftware beruht.
Unsere psychischen Leistungen haben die Natur bis zur Erschöpfung geprägt (Anthopozän). Nun siegen wir uns zu Tode. Und es fällt uns schwer, Wechselwirkungen, Dynamiken und Beziehungen innerer und äußerer Systeme zu verstehen.
Der Sinnzusammenhang, den der Psychiater Victor Frankl für den zentralen psychologischen Wert hielt, geht uns verloren. Die (in sich ruhende) Rad-narbe des Verstehens, auf die sich die vielen, zusammenhanglos herum-verwirrenden Einzelinformationen beziehen könnten.
Liegt es an ihrer Hardware, dass moderne Menschen gegen etwas kämpfen, was sie ausmacht oder trägt? (Blage J, NZZ 18.09.2022) Und dass sie sich so selten auf die Anteile ihrer selbst beziehen, die besonnenes Handeln ermöglichen?
Das Leben Aufräumen
Ursus Wehrli zeigt in seinen Bildern, was Ian McGilchrist als Psychiater in rational-detaillierter Form beschreibt: Das Ende der Kunst, durch Zergliedern und Aufräumen. Lebendes erscheint unordentlich und unberechenbar zu sein. Weil nur das Tote und Sinnlose wirklich verfügbar ist. (Rosa 2018)

Wir trainieren auf der Höhe unserer Zivilisation das, was „künstliche Intelligenz“ besser kann: Einzelfakten und trennende Begriffe verarbeiten. Und wir verlieren den Bezug zu dem, was lebt und wimmelt. Wir rennen in Tunneln und verlassen uns weniger auf unsere Assoziationen, Kreativität, Beziehungen, Verbindungen und eigene Dynamiken.
„Wir müssen handeln! … Wir gleichen Schlafwandlern, die sich (immer schneller) auf den Abgrund zu bewegen … mit (einem Hirnteil) sehen wir in der Regel nur eine einfache Sichtweise von etwas, glauben, dass diese Sicht immer richtig ist … wir suchen nach Macht, die manipuliert, die es uns ermöglicht, zuzugreifen, die Kontrolle zu erlangen alles weg zu räumen, was im Weg steht … dieses Denken hat uns in den Schlamassel geführt, weil sie nur nach Nutzen strebt … (die alternative Hirnfunktion) hingegen sieht, dass alles letztlich miteinander verbunden ist, dass die Dinge niemals statisch und fest sind, sondern sich entwickeln und verändern, dass sie sich bewegen und komplexe Schönheiten schaffen … das, was das Leben ausmacht, und das finden wir jetzt nicht mehr …“ (Zitat: McGilchrist, Sept. 2022: https://www.youtube.com/embed/686heq5QFPk?feature=oembed)
Was tun?
Seit Jahrtausenden haben sich Kriege bewährt. Probleme, die im Weg stehen, werden einfach erschlagen. Das ging solange gut, wie die angerichteten Schäden im Gesamtsystem vernachlässigt werden konnten. Jetzt beißen „die Dinge“ zurück.
Kann uns Eigenverantwortung, radikal-rationales Selber-Denken und Potentialentfaltung aus den Zivilisations-Psychosen führen? Der Interviewpartner von Ian McGilchrist, der kanadische Psychologe Jordan B. Peterson, glaubt an diesem Lösungsweg (2018, 2021a, 2021b). Er fordert auf, wir sollten uns gegen Diskurse wehren, die zu dem verkümmern, „was heute (noch) gesagt werden kann, soll und muss“.
Auch ein anderer Philosoph, Omri Böhm, plädiert für eine Renaissance der Aufklärung (engl. Enlightenment). Nur eine Wiederbelebung der Ideen des Universalismus, der Gleichheit vor dem Gesetz und der rationalen Vernunft (im Sinne Kants), könnten aus dem psychischen Elend führen, das Ir-rationalität und Ausbeutung anrichten. (Spiegel 29.10.2022, Israel eine Utopie 2020)
Ich wünschte es wäre so.
Tatsächlich sind aber immer nur Minderheiten an Klarheit interessiert. Mehrheiten verlangen nach „Wahrheiten“, die geglaubt, und an Anweisungen, die befolgt werden können. An scharfe Trennungen von Gut und Böse. An Führungen, denen man trauen kann. Und an siegreiche Kriege. Damit alles so bleiben (und weitergehen) kann wie bisher.
Auch ich halte rationales Nachdenken für unverzichtbar, um uns von dem zähen Meinungsbrei zu befreien, der in unsere Gehirne schwappt. Selber-denken ist mühsam und unverzichtbar.
Aber es reicht nicht.
Denken muss ergänzt werden durch emotionale, sinnliche, körperliche Realitäts-Wahrnehmung. Die Intension „anders“ zu handeln beruht auf körperlichen Einstellungen. Und auf der Rückbesinnung zu dem, was unsere Gattung Mensch eigentlich ausmacht: die Fähigkeit sinnvolle Beziehungen einzugehen.
„Wer nichts von Tieren lernen will, muss zivilisiert bleiben“. Sapolsky (Primatenforscher)
… oder wird im Verlauf der Evolution ausgesondert werden.