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1. Mai 2024

Initiation und FGM in Tansania

Inhalt

  • Tabus in Europa und Afrika
  • Erfahrungen als Gastarbeiter in Süd-Tansania
  • Beschneidungen in Nord-Tansania
  • Meldezahlen zu FGM/C in Tansania
  • Literatur

Tabu, Ritus und Unversehrtheit in Afrika und Europa

Ärzt:innen oder Hebammen erschauern, wenn sie von Genitalverstümmelungen hören, die in weit entfernten Weltregionen praktiziert werden. Sie fragen, wie es sein könne, dass Kinder immer noch mit archaischen Praktiken gequält werden.

Dabei verdrängen sie, dass in Deutschland

  • das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit bei Kindern nicht gesichert ist. (s. § 1631d BGB)
  • die Anatomie und Funktion bestimmter Genitalbereiche (insbesondere Klitoris, Klitoris-Vorhaut und Penisvorhaut) vielen weitgehend unbekannt ist, und dass andere glauben, es gäbe ein Organ ‚Jungfernhäutchen (Hymen)‘. Die Folge sind Fehleinschätzungen bei medizinischen Begutachtungen, und unnötige oder schädigende Eingriffe.
  • die ‚weibliche kosmetische Genitalchirurgie‘ bei nicht einwilligungsfähigen Kindern in Deutschland ein wachsendes Geschäftsfeld darstellt (FGCS, female genital cosmetic surgery, am äußeren Genitale und in der Scheide – AWMF Leitlinie 009/019) und rechtlich nicht geregelt ist.

Diskurse zu weiblicher Genitalverstümmelung klammern in Europa und Nordamerika meist die eigenen, tabuisierten Praktiken der Verletzung der Unversehrtheit bei Kindern in diesen Gesellschaften aus. Diese Doppelmoral wird in anderen Kulturen als rassistisch oder bevormundend empfunden (AlJazeerah 19.03.2024). Archaische Rituale sind dort über viele Jahrhunderte entstanden, als ein Aspekt von Initiation. Sie gehören zu den traditionellen Dogmen.

Alle Kulturen stehen sie immer wieder vor der Herausforderung, das Wertvolle ihrer Traditionen zu bewahren, und das Schädigende zu lassen. Das Aushandeln kultureller Veränderung ist mühsam und schmerzhaft. Besonders in stark tabuisierten Bereichen.

Die fehlende Sicherung der Unversehrtheit bei Kindern in Deutschland ist dafür ein anschauliches Beispiel.

Erfahrungen als Gastarbeiter im Süden Tansanias

In Tansania wird seit vielen hunderten oder tausenden Jahren der Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter gefeiert.

Die tansanische Regierung erachtet diese Formen traditioneller Erziehung (Unyago) als einen wichtigen Teil ihrer einzigartigen Kultur. ‚Unyago‘ wird gefördert. Weibliche Genitalverstümmelung ist untersagt.

Jungen und Mädchen durchlaufen sehr unterschiedliche Übergangsriten kurz vor ihrer Pubertät. Sie verbringen mehrere Tage, getrennt voneinander, in abgelegenen Waldgebieten. Traditionelle Erzieher (wie Heiler oder traditionelle Hebammen) vermittelten ihnen dort das, was später ihr Erwachsenen-leben ausmachen soll: Gruppen-Wissen, Werte, Moral, Geschlechterrollen, Sex, Schwangerschaft, Geburt, Krankheit, Heilung, Nahrungszubereitung, Pflanzenwissen, Jagd, Umgang mit Nutztieren, Gefahren, Geister, Religion, Glaube und Tabus. Die Kinder sollen lernen, die Suche nach individueller Befriedigung dem kollektiven Zusammenhalt und dem Nutzen der gesamten Gruppe unterzuordnen. Die überlieferte und soziale Weisheit wird durch Rituale, praktische Gesten, sinnvolle Handlungen, Märchen und Tänze vermittelt. Viele dieser Erziehungsformen sind bis heute unverändert geblieben. (Brühwiler 2018)

Unyago: Initiations-Zeremonie (ohne FGM), Bild: Jäger, Tansania 1982.

Als junger Arzt durfte ich 1983 dörfliche Initiation-Zeremonien erleben. Vor den Übergangsriten galten die Heranwachsenden noch als Kinder. Nach dem Fest waren sie Erwachsene: mit allen damit verbundenen Pflichten und Zwängen.

„Pubertät“ (als soziales Konzept) schrumpfte auf einen Zeitraum von wenigen Wochen. Nach der Rückkehr der Kinder aus den Waldlagern wurde ein mehrtägiges karnevalistisches Fest mit reichlich gutem Essen und traditionellen Getränken veranstaltet. Abwechselnde Trommelgruppen sorgten zwei Tage lang ohne Unterbrechung für den dorftypischen Rhythmus.

Die Menschen waren „außer sich“: ein vielköpfiger Schwarm in bester Laune.

Unyago: Initiations-Volksfest. Süd-Tansania. Bild: Jäger 1983

Im Morgengrauen des letzten Tages wurde (einigen) Jungen mit einem Messer die Vorhaut ihres Penis entfernt. Vor der traumatischen „Prozedur“ hatte ein Junge mindestens zwei Tage lang nicht geschlafen. Er konnte sich nicht mehr selbstständig aufrichten, war nackt und wurde von zwei Männern hochgehalten. Plötzlich tauchte hinter ihm eine schreiende „Maske“ auf: Ein erschreckend „unmenschlich“ tanzender Dämon. Als das in Panik geratene Kind versuchte, wegzulaufen, wurde es von starken Armen zurückgehalten. Ein anderer Mann packte den Penis des Kindes mit zwei Händen und zog die Vorhaut nach vorn und hinten. Ein anderer schnitt sie dann mit einem Messer ab. Das Kind wurde daraufhin freigelassen und rannte vor dem vermeintlichen „Teufel“ davon, der es verfolgte. Nach diesem blutstillenden Adrenalinstoß wurde die Wunde mit Blättern von Heilkräutern umwickelt.

Solche „Eingriffe“ konnten zu schweren Verletzungen oder Wundinfektionen führen. Wurden solche Patienten in unser Krankenhaus gebracht, boten wir notdürftig ‚Erste Hilfe‘ an. Zu mehr waren wir nicht in der Lage.

Beschneidungen im Norden Tansanias

Im Norden Tansanias lebt u. a. das Volk der Maasai. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft ihres Volkes verlange die Unterordnung des Einzelnen unter strenge Regeln. (s. ‚Maasai Women‘ 2015)

Sex gelte als wichtig (wegen der Fortpflanzung). „Liebe“ (im Sinne einer engen Beziehung zwischen zwei Menschen) sei dagegen für den Zusammenhalt der Gruppe suspekt. Intensive Bindungen im Rahmen von Liebesbeziehungen dürften nicht wichtiger sein als das Wohl der Gemeinschaft. Die Beschneidungsrituale bei Jungs und Mädchen dienten der Unterwerfung des individuellen Glücksstrebens unter das höhere Ziel des Zusammenhalts der Gemeinschaft.

Eine Wissenschaftlerin der Universität Dar-es-Salaam schreibt zu „Männlichen Beschneidungen bei den Maasai im Ngorongoro Schutzgebiet“:

„… Das Leben der Menschen wird nicht nur durch Systeme von Ideen, Wahrnehmungen und Argumente bestimmt, an die sich jedes Mitglied der Gemeinschaft hält, sondern auch durch Normen, als eine Art Kitt, der die Menschen zusammenhält und ihr Verhalten regelt. … Die Einhaltung der traditionellen Rituale, die mit der männlichen Beschneidung verbunden sind, wird zunehmend vernachlässigt. Es wurde ein Rückgang von Ritualen, Tabus, Opfern, traditionellen Liedern beobachtet. Die Privatsphäre der Betroffenen wurde weniger eingehalten. Diese Veränderungen sind auf touristische Aktivitäten, formale Bildung und religiöse Einflüsse zurückzuführen. … Kulturerbe-Institutionen, politische Entscheidungsträger und die lokalen Gemeinschaften sollten dafür sensibilisiert werden, wie sie mit diesen Einflüssen umgehen, ohne die Traditionen zu zerstören.“ (Banzi 2023, s. u. Sinn-gemäß übersetzt)

2024 erklärten mir Ärzt:innen, dass die Praxis der männlichen Beschneidung im Süden Tansanias von einigen der eingewanderten südafrikanischen ethnischen Gruppen der Yao, Ngoni und Makua eingeführt worden sei. In Südafrika sei das Ritual der männlichen Beschneidung schon vor sehr langer Zeit praktiziert worden. Gänzlich unabhängig von Einflüssen aus dem Mittelmeerraum. Diese Ulwaluko genannten Rituale stünden im Kontext der Konstruktion von Männlichkeit und wurden möglicherweise erstmalig vom Volk der Xhosa in Südafrika praktiziert. FGM/C wird damit nicht in Verbindung gebracht. (Magodyo 2016)

Bei den Makonde- und Mwera-Völkern, die seit Langem im Süden Tansanias leben, wurden bei den Initiationen intensive Tätowierungen und Piercings im Gesicht vorgenommen. Die Gründe dafür waren Dorf-typische Markierungen. Sie seien aber auch vorgenommen worden, um Mädchen vor Versklavung zu schützen. Sklavenjäger und -händler hätten Mädchen mit Tätowierungen, Lippen- oder Ohrpiercings für hässlich oder dämonisch gehalten. Selten sei es auch zu „Markierungen“ an den Schamlippen kommen. Der Verzicht auf diese Praktiken ‚milder‘ Formen von FGM sei im Süden Tansanias vergleichsweise einfach gewesen.

Erhebungen im Rahmen der aktuellen tansanischen Gesundheitsstudie ergaben, dass es in Süd-Tansania keine Befürworter von FGM/C mehr zu geben scheint. Mir wurde gesagt, dass die Initiationsriten immer noch wie früher durchgeführt würden. Der Akt der männlichen Beschneidung erfolge aber jetzt hauptsächlich in Krankenhäusern. Vorhaut-Entfernungen bei Jungen werden auch durch amerikanische, evangelikal-finanzierte Programme gefördert, die darin ein HIV/AIDS-Prävention sehen. (van Howe 2011)

Meldezahlen zu FGM/C in Tansania

In Tansania ist „Weibliche Genital-Beschneidung oder Verstümmelung“ verboten.


Prävalenz von FGM/C in Tansania (Tansania Health Survey Report 2022, Seite 548)

Im Vergleich zu anderen ostafrikanischen Ländern ist die Häufigkeit weiblicher Genitalverstümmelung (FGM/C) in Tansania relativ gering. Laut einer Erhebung des Gesundheitsministeriums soll die Zahl der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren, die sich einer FGM/C unterzogen haben, von 18 % (1996) auf 10 % (2015) und auf 8 % (2022) gesunken sein. (Tansania Health Survey Report 2022)

In den Städten sank die Prävalenz von 5 % auf 4 % und in den ländlichen Regionen von 13 % auf 11 %. Besonders stark in der zentralen Region von Dodoma von 47 % auf 18 %. Im Süden Tansanias wird die akute Genitalverstümmelung von Mädchen nicht mehr registriert.

Die Häufigkeit von FGM/C ist auch im Norden Tansanias zurückgegangen. In einem Beobachtungszeitraum von 10 Jahren fiel die Prävalenz von 23,6 % im Jahr 2005 auf 10,6 % im Jahr 2014. Dennoch ist FGM/C nach wie vor eine wichtige Ursache für Gesundheitsstörungen während Schwangerschaft und Geburt. (Suleiman 2021)

Evolutionsbiologische Hypothesen

Im Gegensatz zu anderen Primaten, und möglicherweise auch im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger, ist ein Mensch zu intensiver Paarbindung fähig. Insbesondere typisch für Menschen ist die Fähigkeit, sich das Zusammensein mit einer anderen Person vorzustellen, die nicht physisch anwesend sind.

In der griechischen Mythologie beginnt die Geschichte der Menschheit mit der Entstehung der Dreifaltigkeit von „Eros, Himeros und Pothos“ (Liebe, Sehnsucht und Verlangen). Nach Untersuchungen des Biologen Robert Sapolsky beruht das Glücksgefühl (das sich nur nach großer Anstrengung einstellen kann) auf der Fähigkeit, einen besonders hohen Dopaminspiegel aufzubauen. Ein starker Spannungsbogen, der von einem hohen Energiefluss gefolgt wird. Menschen, die ihren eigenen Tod verachten, sind daher zu besonders anspruchsvollen Leistungen fähig (Sapolsky 2023).

Es ist daher nicht verwunderlich, dass alle Märchen und Kino-Filme mit dem „Dopamin-Jackpot“ enden. Alles, was nach dem abrupten Absinken des Dopaminspiegels folgt, erscheint vergleichsweise banal, trist und langweilig. (Mehr)

Fantasie und körperliche Stimulation reichen völlig aus, um die aufgestaute Spannung abzubauen. Und sexuelle Befriedigung ist auch ohne die körperliche Anwesenheit eines anderen Menschen möglich. Aber Selbstbefriedigung ist weltweit in den meisten Gesellschaften tabu. Denn es ist für den Erhalt der Gruppe unproduktiv (weil es nicht zu Leistung anspornt).

Die Ethnologin Cathryn Townsend beschrieb die allmähliche Entwicklung von kleinen menschlichen Gruppen zu immer größeren sozialen Organisationen. Sie stützte sich dabei vorwiegend auf Beobachtungen der IK-Kultur in Nordkenia. Ihre These ist, dass im Übergang großen Gruppe notwendig gewesen zu sein scheint, strikte Regeln des Zusammenlebens zu entwickeln, die die Interessen einzelner Individuen der Gruppe als Ganzes brutal unterordneten. (Townsend 2023)

Das erkläre strenge Geschlechterregeln, Zwänge, Tabus, Trance-Induktion, körperliche Markierungen oder Verstümmelungen, die der Stärkung der Gruppenidentität dienen sollten.

Persönliche Schlussfolgerungen

  • Unversehrtheit ist ein Menschenrecht. Es gilt für alle.
  • Kulturelle Veränderungen wirken langfristig positiv, wenn sie von den Betroffenen selbst ausgehandelt werden. Ohne gewaltsame Einmischung können sich Kulturen als ein Ganzes wandeln und sich weiterentwickeln. Wertvolles kann bewahrt werden (z. B. Übergangsrituale). Und Schädigendes kann ‚gelassen‘ werden (z. B. Verstümmelungen).
  • Zielorientierte Interventionen konzentrieren sich auf einen (im Ausland als wichtig erkannten) Aspekt, der in einem festgelegten Finanzierungszeitraum fokussiert wird. (Projektitis). Interventionen in das Leben anderer Menschen (BMZ 02.05.2024) sehe ich kritisch. Besonders dort, wo Menschen leidvoll erlebten, wie Missionierung, Kolonialismus und Globalismus, versuchten ihre traditionellen kulturellen Werte, Normen und Vorstellungen radikal zu verändern oder auszulöschen.

Mehr

Literatur

Letzte Aktualisierung: 02.05.2024