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13. Dezember 2023

Begriffe begreifen

Das Wort ‚Begriff‘ leitet sich ab von ‚Begreifen‘:

Etwas hin- und her wenden und von unterschiedlichen Seiten betrachten.

Im Westen ist der „Begriff“ (das Bild einer Münzseite) meist bedeutender als die Zusammenhänge, auf die das Wort verweisen könnte. Sind Begriffe wahr, müssen die, die sie umdefinieren (oder die andere Seite der Münze betrachten), Gegner sein. So hat sich die Diskussionskultur besonders seit den Corona-Maßnahmen und der beiden Kriege in Osteuropa und Nahost verhärtet. Begriffe werden im Westen gerne als Waffen eingesetzt, um Gegner zu erledigen. Besonders wenn Silben verwendet werden, die scharfe Gegensätze betonen (wie anti- oder -kampf oder -ismus). Oft ist dann unklar, welcher komplexe historische, biologische oder soziale Kontext eigentlich gemeint ist, auf den der Begriff verweisen soll.

Da Sprache das Bewusstsein prägt, werden bei der Überbetonung kriegerischer Begriffe (in der Politik oder der Medizin), zarten Pflänzchen positiver Visionen verdrängt, ‚für‘ die man sich einsetzen könnte. (Nolte 2023)

Im Osten sieht man das traditionell anders.

Konfuzius, 551-479 v.u.Z. hielt nicht die Begriffe selbst, sondern deren ‚Richtigstellung‘ für wichtig. Denn, so dozierte er, „wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht. … Und der Edle duldet nicht, dass in seinen Worten irgendetwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt“ (Quelle: Konfuzius: Gespräche, Kap 14, Buch 13, Staat: Richtigstellung der Begriffe, übersetzt von Richard Wilhelm).

Der Begriff bezeichnet ein Schriftzeichen. Im Gegensatz zum Westen, wo ein exaktes Alphabet genutzt wird, das eindeutig und klar zwischen A und B unterscheidet. Das chinesische Schrift-Bild ist dagegen nur ein Symbol für einen komplexen Zusammenhang, der verstanden und vermittelt werden soll.

Für Konfuzius sollten die Begriffe vor allem nützlich sein: Als einfache Werkzeuge, auf deren Handhabung man sich einstellen müsse, bevor man rede. Seine Begriffe enthielten keine Wahrheiten („Genau so ist es! Und nicht anders!“). Sondern nur Empfehlungen, dass man Rituale so handhaben solle, „als ob“ etwas wahr sei. So solle man Rituale so ausführen, als ob es Götter oder Ahnen gäbe, die das (genau so) befohlen hätten. Ob es diese höheren „Wahrheiten“ aber tatsächlich gibt, ist in der von ihm geprägten östlichen Philosophie uninteressant, weil das meiste, was uns an Realität umgibt „unsagbar“ sei (also nicht in Begriffen eingefangen werden kann).

Das gilt in China bis heute: So ist der Begriff mit den Buchstaben ‚KPCh‘ scheinbar eindeutig. Er benennt einen klassisch-konfuzianischer Beamten-Apparat. Es ist unbedeutend, ob er mit den Worten ‚Kommunistische Partei‘ übersetzt werden kann. Auch der konfuzianische Zentralbegriff ‚Menschlichkeit‘ (Ren) kann zeitlos als höchste Staatstugend gelten. Denn wie bei ‚KPCh‘ ist es auch bei ‚Ren‘ nicht wichtig, ob etwas „so ist“, sondern nur, dass man sich so verhält, ‚als ob‘ es so sei.

Zhuangzi, ein Lackbaum-Pächter, der um 300 v.u.Z. lebte, machte sich auch über diese (konfuzianistischen) Wortklaubereien lustig. Er gilt als historisch belegte Begründer der Dao-Philosophie, eine der Wurzel des späteren Ch’an-Zen-Buddhismus. Seine Beschreibung des Sinns und Unsinns von Begriffen gefällt mir besonders: „Die Fischreuse existiert wegen der Fische. Wenn man den Fisch gefangen hat, kann man die Reuse weglegen. Die Kaninchenfalle gibt es nur wegen des Kaninchens. Wenn du das Kaninchen erwischt hast, kannst du die Schlinge vergessen. Wörter (Begriffe) existieren wegen ihrer Bedeutung. Wenn man die Bedeutung (Idee) verstanden hat, kann man sie vergessen“. (Mehr: guenter-wohlfart.de)

Was verbirgt sich z.B. hinter dem Begriff „Krieg“?

Wir massenhaft Gewalt angewendet, könnte man es ‚Krieg‘ nennen.

Oder (je nach politischer Sicht) besser ‚begrenzte Militäroperation‘, ‚vorbeugende Friedenssicherung‘, ‚Vaterlandsverteidigung‘? Oder umgekehrt ‚Verbrechen‘, ‚Massen-Mord‘, ‚ethnische Säuberung‘, ‚Vernichtung‘, ‚Genozid‘? Wer unterscheidet, ob es sich um einen ‚Soldaten‘ oder einen ‚Terroristen‘ handelt‘? Begriffe wie diese werden selektiv, wertend verwendet. Je nachdem, ob man eine ‚brutale Eroberung‘ beschreiben will, oder eine ‚ersehnte Befreiung‘.

Wird jemand getötet, umgebracht oder ermordet, nennt man den Verursacher Totschläger, Mörder, Verbrecher, Faschist, Rassist, Psychotiker, Schlächter, oder Soldat, Spezialagent, Scharfschütze, Drohnen-Programmierer, Held. Je nachdem, für welche Kriegspartei das Lebenslicht anderer ausgeknipst wurde.

Nahezu synchron tauchen ähnliche Varianten und Bezeichnungen in allen Medien der jeweiligen Kriegspartei auf. Wer Krieg einfach nur „Krieg“ nennt, und dessen Ende fordert, macht sich (auf beiden Seiten) verdächtig.

Die Sprach-Begriffs-Verwirrung begegnet uns in allen Formen von Propaganda-Fake-Deep-Fake-Kommerz in unendlich vielen Varianten. Es wird dann für die, die Kriege nicht wollen, aber erleiden müssen, immer schwieriger, nicht verrückt zu werden. Noch herausfordernder wäre es, weiterhin ruhig zu bleiben, und selber zu denken.

Begriffe sind Werkzeuge

Begriffe gleichen Messern, die einen Teil aus einem (in der lebenden Realität) Nicht-Getrennten herauslösen. Das ist nützlich, um einen Schinken von einem Knochen, eine Wolke vom Himmel, ein Quark vom Elektron-Wirbeln, oder den Geist vom Körper zu unterscheiden. Das so Abgetrennte lässt sich dann einfacher handhaben und untersuchen. Es wird (wenn es erst einmal benannt wurde) geformt, manipuliert, verändert, bekämpft, repariert, zerstört oder neu geschaffen.

Unsere Worte gleichen kulturell erlernten Mini-Programmen, die Bewegungsfunktionen triggern: Gestik und Sprache, mit Kehlkopf, Händen oder Füssen. Man muss zuerst ein inneres Bild für „Stein“ und „Klinge“ aufscheinen lassen, um dann durch Gesten oder Laute einem Artgenossen zu befehlen, aus dem einen (durch Hämmern) das andere herzustellen.

Sind Begriffe erst einmal in der Welt, kann man sich über sie streiten. Oder mit ihnen herrschen. Oder andere betrügen. Oder: manipulieren, Macht ausüben, Geld verdienen. Meist wird in den Wortfeuerwerken im Streit um Begriffe vergessen, dass jeder Begriff (zwangsläufig) einen vielgestaltigen Anti-Begriff definiert. Der Begriff Wasser macht nur Sinn, wenn es etwas gibt, das nicht Wasser ist. Die Betrachtung dieses scheinbaren Gegensatzes hilft dabei zu verstehen, was mit der Nutzung des Begriffs „eigentlich“ gemeint ist. Denn zwischen dem einen („Finger“) und dem anderen („Nicht-Finger“ – z.B. „Unterarm“ u.v.a.) gibt es (solange etwas lebt) zahllose Verbindungen. Es sei denn, sie würden abgetrennt oder zerstört. Das Benannte („eine Maus“) wechselt und fließt in und mit dem Nicht-Benannten. Also mit allem (was z.B. „Nicht-Maus“ ist).

Ähnliche Überlegungen spielten eine Rolle bei der Einführung der Null in unser Zahlensystem. Die kriegerisch-bürokratischen (etwas fantasie-armen) Römer brauchten keine Null. Entweder es gab einen Sklaven, oder es gab eben keinen. Das Null-Konzept formten indo-asiatische Philosophen aus einem runden Kreis, dem Ur-Symbol für ein „Nichts“, das zugleich alles beinhaltete und umfasste. Null war für sie weder „Etwas“, noch „Nichts“. Sondern beides: eine Wandlungsphase, bei der ein Positives (+) ein Negatives (-) aufhebt. Das asiatisch-philosophische „Nichts“ ist voller Energie und Möglichkeiten, und kennzeichnet einen Zustand der Leere, aus dem Gegensätze aufwirbeln, die sich in Ruhe wieder ausgleichen. Etwa so, wie sich Physiker Vakuumfluktuationen oder Quantenschaum vorstellen.

„Nichts ist das Glück des aufgeklärten Pessimisten, denn nichts kommt dem Glück so nahe wie Nichts.“ Ludger Lütkehaus: Nichts. Haffmans, 2003

Keine anderen Worte beschreiben die Relativität der Begriffsbildung so gut wie „Alles“ und „Nichts“. Ein stärkerer Gegensatz ist undenkbar, und doch sie sich gleich. Die Beobachtung der Natur scheint (bisher) Heraklit zu bestätigen: dass alles eins sei und das eine alles. Einschließlich des Nichts (z.B. die Leere zwischen Quark und Elektron). Mir erscheinen Begriffe relativ. Ich möchte die Sicht derer verstehen, die sie benutzen. Und ihre Nützlichkeit als Werkzeug einschätzen, oder ihrer Gefährlichkeit als Waffe.

In Asien gehen, der konfuzianischen oder der daoistischen Tradition folgend, Menschen mit Ritualen, die von oben verordnet werden (u.a. Maske, Testen, Impfen, Quarantäne einhalten, Wachstum verlangsamen, Einschränken, Wohlverhalten-Bonus-punkte sammeln .. ) anders um als in Europa.

Es interessiert dort weniger, ob das Angeordnete auch wahr sei („wissenschaftlich bewiesen“). Viele fragen eher, ob man dem großen Ganzen (z.B. der KPCh und dem von ihr geleiteten System) insgesamt vertrauen könne, weil es dafür sorge, dass es für alle besser werde. Wird diese Frage mit „Ja“ beantwortet, erscheinen bestimmte Rituale sinnvoll zu sein.

Im Westen funktioniert diese Art des Denkens nicht. Hier beten wir Zahlen, Einzelfakten und Statistiken an, und wir glauben, dass eine unendliche Summe toter Einzelinformationen die System-Dynamiken erklären könne, die wir erleben. (McGilchrist 2021)

Begriffs-Verformungen

Oft könnte eine Klärung der Begriffe (im Sinne des Konfuzius) weitreichende Folgen haben, die unerwünscht sind. Dann ist es nötig, die Begriffe zu verändern. Denn wenn die Realität der Theorie widerspricht, muss es umso schlimmer werden, für die Realität. (nach Watzlawick)

Ein Editor des Britisch Medical Journal bezweifelte, ob man aus früheren Pandemien für den Umgang mit „rettenden“ Pharmaprodukten gelernt habe. Er stellte die Frage, wie sich die Nutzung der Produkte verändert hätte, wenn man die neuen mRNA-Injektionen nicht als Impfungen bezeichnet hätte, weil sie ja der bisherigen Begriffs-Definition von Impfungen nicht entsprachen. Sondern wenn man sie (begriffs-konform) als „gen-therapeutische Medikamente“ bezeichnet hätte (Doshi 2021).

Ähnlich hatte der Biologe Marc Mendelson einige Jahre zuvor gefragt, ob selbst ein so einfaches naturwissenschaftliches Phänomen wie die zunehmende Antibiotika-Resistenz, ihrem Wesen nach, nicht auf einem Sprach-(Verständnis)-Problem beruhe (Mendelson 2017 ). Denn die medizin-beherrschende Sprache benennt Keime, die man „bekämpfen“ und ein Immunsystem, das man für den Krieg „stärken“ müsse. Statt zu schildern, wie man ein Immunsystem „beruhigen“ und ein friedliches Zusammenleben mikrobieller Ökosysteme „fördern“ könne.

Brauchen wir neue Begriffe?

Die verschiedenen Krisen, die uns gerade beuteln (neue Pandemien, sinnlose Kriege, drastische Biosphären-Krankheiten, Zerfall übergeordneter Wertesysteme, …) gleichen sich in der Verwirrung der sprachlichen Versuche, sie zu erklären, oder sie interesse-geleitet zu nutzen. Eigentlich müssten wir (unsere Gattung) anders denken, als die Menschen, die uns in diese Krisen geführt haben. Wir müssten uns dringend sorgen, wie unsere Lebensform ihre verbleibenden evolutionären Chancen nutzen könnte. Stattdessen beharren wir „… innerhalb der Logik des westlichen kapitalistischen Weltbezuges, anstatt das Wachstumsparadigma und den Konsumismus zu überdenken …“. (Schouwink 2022) Noch gilt das beliebteste Motto der Politik:

„Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt wie es ist.“ (Tomasi 1987)

Der Hirnforscher Eugen Roth, hat das, was Viktor Frankl „Sinn“ nannte und Aron Antowsky „Kohärenz“, aus biologischer Sicht neu formuliert: „Nur die intrinsische Belohnung, gespeist aus tiefer Überzeugung erschöpft sich nicht in ihrer Wirkung“ (Roth 2021).

Er hat recht:

Um aus den Multi-Krisen herauszukommen, brauchen wir Visionen, die auf dem emotional-körperlichen „Es“ gründen. Auf dieser Basis müssen neue, geeignete Begriffe geformt werden für positive Visionen (Nolte 2023). Sonst werden wir von immer neuen Tsunamis des Irrsinns weggespült.

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Literatur

Letzte Aktualisierung: 18.12.2023