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19. November 2020

Qualität und Evidenz

Inhalt

  • Überblick
  • Anfang vom Ende medizinischer Evidenz
  • Evidenz basierte Gesundheitsinformation
  • Was ist EbM … nicht?
  • Wieviele Behandlungen, damit einer gesund wird?
  • Interessenkonflikte

Überblick

November 2020

Untersuchungen Evidence basierter Medizin (EbM) können sicher nachweisen, dass etwas mehr schadet als nutzt. Beweisen, dass etwas besser sei als das bisher vertraute, kann EbM nicht.

Wissenschaft fragt.

Das unrühmliche Ende eines Blockbusters.

Jede Auswahl von Informationen für Analysen, Einschätzungen, Fragestellungen, Bewertungen oder Aktualisierungen ist subjektiv. Auch bei ausgewiesenen Expert:innen ihres jeweiligen Fachgebietes, müssen alle Aussagen zwangsläufig lückenhaft, vorläufig und begrenzt sein. Und bei überstürztem und interessengeleitetem Vorgehen sind Fehler möglicherweise eher die Regel, als die Ausnahme.

Natur-wissenschaftliche Einschätzungen müssen folglich (je nach Fragestellung) selbst in der Quantenphysik sehr unterschiedlich sein. Auf dieser Erkenntnis gründet sich die Evidenz basierte Medizin: Ihre wichtigsten Werkzeuge, die so genannten zukunftsorientierten, verblindeten Studien (RCT) sind so konstruiert, dass sie Annahmen (oder auch Wunschdenken) widerlegen können. Studien, die vor einer Produktvermarktung einen hohen Nutzen und ein geringes Risiko beweisen sollen, zählen nicht zu „Evidenz-basierter Medizin“. (Ioannides 2005).

Allerdings änderte diese Erkenntnis nichts an der Dynamik des Wissenschafts-Marketings, so dass der gleiche Autor zehn Jahre später zu dem Schluß kam, „Evidenz based Medicine“ sei gekapert worden. (Ioannides 2016)

Anläßlich des Hypes, um die Produktion und die Vermarktung der Corona-Impfstoffe, rief ein Editor des Britisch Medical Journal um Hilfe:

„Wenn gute Wissenschaft durch einen medizinisch-politischen Komplex unterdrückt wird, sterben Menschen. – When good science is suppressed by the medical-political complex, people die.“ (Abassi 13.11.2020)

Hört ihn jemand?

Literatur

Anfang vom Ende medizinischer Evidenz?

Mai 2019

Die Evidenz basierte Medizin steckt in der Krise.

Durch den Medizinmarkt schwappt ein Tsunami interessen-geleiteten Wissenschaftsschrotts.  Einer der wenigen Dämme, die versuchen ihn zu begrenzen,  brach gerade ein.

Die Cochrane Collaboration war bisher eine der wichtigsten Institutionen „Evidenz basierter Medizin“. Unabhängig von den Marketingwünschen der Pharmaindustrie durchforstete sie die Daten publizierter Studien. Therapien, deren Wirksamkeit von Cochrane bestätigt wurden, konnte man vertrauen. Und medizinische Interventionen, für deren Nutzen Cochrane keine überzeugenden Argumente fand, vermied man besser.

Kluge und neutrale Institutionen wie Cochrane (oder ChoosingWisely, IGWIG, ISDB, o.ä) sind für klinische und niedergelassene ÄrztInnen unverzichtbar. Denn praktisch tätige Fachleute können schon lange nicht mehr den Wahrheitsgehalt der auf sie einstürzenden Daten beurteilen. Oder gar die in Leitlinien behaupteten Gewissheiten eigenständig hinterfragen. Dafür fehlen ihnen die Zeit, und meist  auch das epidemiologische Hintergrundwissen. MedizinerInnen, die wirksam und schonend handeln wollen, sind deshalb auf Fach-Institutionen angewiesen. Die sollen stellvertrend kritische Fragen stellen, Perlen im Datenwust finden, und (kommerziellen) Blödsinn von (gesundheitsförderlichem) Sinn trennen.

Cochrane taumelt

Anfang September 2018 warf der Cochrane-Aufsichtsrat mit knappen Mehrheit einen seiner Gründungsväter hinaus: Prof. Peter Gøtzsche. Die überstimmten WissenschaftlerInnen verließen daraufhin das Gremium freiwillig:

Stellungnahme Mezis 01.10.2018,

Der aktuelle Anlass des Rauswurfs von Prof. Gøtzsche war eine von seinem Team betriebene Diskussion der Einschätzung der Risiken der HPV-Impfung.

Peter Gøtzsche war als Leiter des Cochrane Centers in Dänemark schon einige Jahre zuvor im Medizinmarkt unangenehm aufgefallen.

Er und sein Team hatten kritisiert, dass das Wort „Collaboration“ aus dem Namen der Institution  gestrichen wurde, und man Personen mit Interessen-Konflikten die Teilnahme an Cochrane-Beurteilungen von Medizinprodukten erlaubt hatte

Außerdem hatten von ihm angeleitete WissenschaftlerInnen den Sinn des Mammographie-Screenings bezweifelt, den Einsatz von Placebo-Täuschungen in wissenschaftlichen Studien für unnötig gehalten und behauptetet, das Gesundheitswesen sei durch Marktinteressen korrumpiert. Besonders in der Psychiatrie könne man bereits von „organisierter Kriminalität sprechen:

Vortrag von Prof. Gøtzsche am 24.06.2016 (Youtube-Video )

„Evidence based medicine has been hijacked …“

Bereits 2016 behauptete der Epidemiologe John Ioannides die „Evidenz basierte Medizin“ sei gekapert worden. Diese Art von „Wissenschaft“, die nur das beweisen wolle, was sie ohnehin zu wissen glaube, verkomme zur Ideologie.

Die eigentliche Wissenschaft (die Suche nach dem, was wir nicht wissen, um klügere Fragen zu stellen: FiresteinDrori), habe dagegen in der Medizin einen immer schwereren Stand.

Die „Übernahme“ von Cochrane durch industriefreundlichere Wissenschaftler scheint diese Vermutung zu bestätigen. Viele Journalisten stellen dagegen die Angelegenheit als „Zoff“ unter rivalisierenden Akademikern dar, wobei der Unterlegene, „der sich als Märtyrer stilisiert“, sicher nicht unschuldig sei. (Zitat SD 19.09.2018)

Es macht deshalb Sinn, die Krise der „Evidenz basierten Medizin“ auch  unabhängig vom Fall „Cochrane Nordic“ und von der Person von Peter Gøtsche zu betrachten.

Evidenz basierte Medizin leidet an unterschiedlichen Krankheiten

  • Zu wenige Fragen (als Hinterfragung überkommener Wahrheiten)
  • Zuviele Antworten (als Bestätigung bestehenden Glaubens)
  • Illusion, dass Gutes bei Vilenen auch gut für Einzelne ist
  • Fragmentierung, Über- und Fehltherapien
  • Überbetonung spezifischer und Vernachlässigung systemischer Effekte
  • Nur halbherzige Distanzierung von Placebologie
  • Unterschätzung algorithmem-gesteuerter Medizin ohne EbM

Unser komplexes Gesundheitswesen kann überforderte Patienten immer weniger unterstützen – sei es infolge von Zeitmangel oder administrativen Vorgaben. Was bleibt, sind Patienten mit dem Gefühl, nicht zu bekommen, was ihnen zusteht. Sie fühlen sich allein gelassen, betrogen und viele haben Angst. Information und Aufklärung sind daher das Querschnittsthema überhaupt. Schmidt-Kaehler, UPD-Bericht 2014

Konsequenzen

Der Glaube an medizinische Wahrheiten kann trügen.

Selbst dann, wenn sie in den berühmtesten Journalen veröffentlicht wurden und von den Krankenkassen und den renomiertesten Leitlinien empfohlen werden.

Blindes Vertrauen in den Medizinmarkt birgt Risiken.

Insbesondere, wenn im Rahmen des Produktmarketing das Vorsorgeprinzip nicht beachtet wurde.

Zweifel und Kritik sind gesund.

Links

Entwicklung aus der Cochrane-Krise

Beschreibung der Krise und Stellungnahmen

EbM Initiativen

Literatur

Gute Medizin

EBM und cmRCT

  • Chalmers I: All trials must be registered and the results published, BMJ 2013;346:f105   – Link:  All-Trials-Iniative
  • EbM: Die Geschichte von EbM
  • Greenhalgh T. et al.: Evidence based medicine a movement in crisis, BMJ 2014, 348:18-21
  • Relton C: Rethinking pragmatic randomised controlled trials: introducing the “cohort multiple randomised controlled trial” design: BMJ 2010;340:c1066
  • Sackatt D: Evidence based medicine: what it is and what it isn’t,  BMJ 1996;312:71
  • Thombs B: Vortrag „cmRCT“
  • Viksveen P, Relton C. Depression treated by homeopaths: a study protocol for a pragmatic cohort multiple randomised controlled trial. Homeopathy. 2014 Apr;103(2):147-52

Evidenzbasierte Gesundheitsinformation?

Leitlinie Evidenzbasierte Gesundheitsinformation

Die Leitlinie vom Februar 2017 betrifft Inhalt und Darstellung in Gesundheitsinformationen. Sie richtet sich in erster Linie an die Erstellerinnen und Ersteller von Gesundheitsinformationen.

Autoren:

  • Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin
  • Universität Hamburg
  • Vertreterinnen und Vertreter von zwanzig weiteren Institutionen und Verbänden
  • drei Patientenvertreterinnen und -vertreter
Ein sicherer Weg ins Unbekannte (Bild Jäger)

Mehr zur Leitlinie

Bewertung

Informationsmaterialien, die auf der Basis dieser Leitlinien erstellt werden, ermöglichen es Patientinnen und Patienten, rationale Risiko-Abwägungen und Entscheidungen zu treffen.

Damit können Nutzen und Risiken medizinischer Interventionen, die sich nicht an diese Leitlinien halten, kritischer hinterfragt werden.

Die Leitlinie könnte also wirksam dazu beitragen, die Flut unnötiger Behandlungen, die das Berliner Ärzteblatt (8/2017) als „Zuviel des Guten“ oder „Überdiagnosen“ bezeichnet, einzudämmen. Mehr:

Evidenzbasierte Medizin kann nur das nachweisen, was in Einzelfaktoranalysen (RCT) messbar ist: die spezifischen Effekte und Kurzzeit-Nebenwirkungen.

Das Instrumentarium zur Beobachtung von Systemwirkungen ist noch nicht ausgereift. In realen, lebenden, komplexen Zusammenhänge, stehen viele Faktoren in dynamischen Beziehungen zueinander. Um solche Entwicklungen zu beobachten, sind Sonderformen von Studien erforderlich, die bisher noch nicht als Standard etabliert sind (z.B cmRCT) , oder Langzeitbeobachtungen, die Verhaltensveränderungen und oder Wachstums- und Umbauprozesse beschreiben.

Systemwirkungen spielen aber gerade bei dem Nutzen der Patientinneninformation eine überragende Rolle: Denn die Beziehungs-Qualität der Arzt-Patient-Kommunikation ist für die Entwicklung der Selbsthandlungskompetenz (Empowerment) der Betroffenen von entscheidender Bedeutung. Das gilt besonders bei schwierigen Entscheidungen, die den ganzen weiteren Lebensweg beeinflussen. Daher müssen spezifisch-wirksame Interventionen, die durch EBM gemessen werden) durch unspezifische Maßnahmen der Unterstützung und Begleitung ergänzt werden. 

Eine Initiative zur hausärztlichen Versorgung stellt deshalb bewusst die Verbesserung der Kommunikationsqualität in den Vordergrund: die „Wertschätzung und Anerkennung der Bedeutung des Gespräches zwischen Arzt und Patienten“.

Kommunikation ist allerdings wesentlich mehr als das Gespräch: Sie bezieht non-verbale Beziehungen wie Empathie-Vermittlung und Berührungen mit ein (Goldstein 2017).

EBM muss in eine beziehungsreiche Medizin eingebettet werden

Patientinnen und Patienten sollen die evidenz-basierte Gesundheitsinformationen nutzen können. Dazu ist es nötig, Ihnen so viel Sicherheit und Unterstützung zu bieten, dass sie  ihre emotionale Achterbahn relativ unbeschadet überstehen. Damit sie mit Einzel-Details (EBM Daten) auch sinnvoll umgehen können, müssen

  • Stammhirnreflexe beruhigt,
  • Gefühle ernstgenommen, und
  • Situationen in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden.

Erst danach können (in Ruhe und bei sachkundiger, vertrauensvoller Begleitung) Fakten abgewogen, und aus dem weiten Raum der Handlungsmöglichkeiten geeignete Strategien ausgewählt werden.

Literatur

Was ist Evidenz basierte Medizin … nicht?

Naturwissenschaft hinterfragt Gewissheiten

Physiker diskutieren theoretische Modelle (Beispiel Quantengravitation), erstellen Hypothesen und verwerfen sie wieder.  Die Verkündung von „Wahrheiten“ überlassen sie Pfarrern und Priestern.

WissenschaftlerInnen können nur dann wirklich Neues entdecken, wenn sie radikal nachfragen, was sich außerhalb des Spiegelsaals des herrschenden „wissenschaftsreligiösen“ Mainstream befindet (Karl Popper: Falsifikation).

In der Medizin ist das anderes, denn die KundInnen medizinischer Wissenschaft wollen vor allem glauben und hoffen, dass alles wieder gut werde. Daher sind sie eher an Sicherheit interessiert. Sie wollen eigentlich nicht so genau wissen, wie „es wirklich ist“. Ein schonungsloser Blick auf die Komplexität der Zusammenhänge würde sie noch mehr verwirren und verunsichern. Stattdessen erwarten sie, dass „wissenschaftliche“ ExpertInnen ihnen die „Wahrheiten“ sagen, und ihnen erklären, was zu tun sei. Sie wollen vertrauen können, dass die Vorschläge zu ihrer Heilung einer Überprüfung standgehalten haben. Und nur deshalb verlangen sie nach nach Qualiltätssiegeln, Zertifikaten und Leitlinien, und nicht deshalb weil sie wissen wollen, wie es wirklich ist.

Überprüfbarkeit und Wahrheit sind nicht dasselbe

Ein guter Standard zu Überprüfung medizinischer Leistungen und Interventionen ist Evidenz basierte Medizin (EbM). Sie kann u.a. die Wahrscheinlichkeit beschrieben, mit der beobachtete gewünschte Ereignisse auch künftig zutreffen könnten. Und sie kann einschätzen, ob das Risiko der unerwünschten Nebenwirkungen klein bleibt.

Evidenz basierte Medizin (EbM) sagt nicht, welche Behandlung die richtige ist.

Ein Beweis für „Wahrheit“ ist Evidenz nicht.

Wenn in einem anerkannten Publikationsorgan steht, Medikament A sei „hochsignifikant wirksamer“ als die Standardtherapie, beweist das nicht, das Medikament A bei einer bestimten PatientIn besser wirke als ein altes Medikament B. Das liegt daran, dass die meisten Studien, die wissenschaftliche Evidenz untersuchen, nur einen oder wenige Marker betrachten können, aber keine komplexen Zusammenhänge. Studien zur Überprüfung von Evidenz müssen die Realität auf einen oder sehr wenige Faktoren beschränken (Reduktion). Damit das gelingt, muss das Chaos des normalen Alltags sehr sorgfältig ausgeschlossen sein, damit keine Störwirkungen entstehen (Bias).

Eine wissenschaftliche Betrachung reduziert die komplexe Realität auf wenige Elemente in einem erdachten Modell. Um z.B. zu verstehen, warum der Kopf des Walfischs größer sein kann, als der einer Kuh, reichen Kugelbilder völlig aus. Man darf nur nicht mit einer Stange verbundene Kugeln für die Realität halten. Oder das spannende Ergebnis des Gedankenexperimentes für die „Wahrheit“. Bilder: Krauss LM, dtv 1998,

Die Ergebnisse sorgfältig kontrollierter Studien liefern wertvolle Einzelerkenntnisse, die aber nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden dürfen. Ein „Glaube an eine Evidenz“, welcher Art auch immer, ähnelte einer Religion aber keiner Wissenschaft.

Das gilt auch für Leit(d)-Linien, die manche als „Eminence based Medicine“ bezeichnen. Denn sie wurdene von Personen formuliert, denen es im existierenden System besonders gut gelang, Karriereleitern zu erklimmen. Diese Schwergewichte im Wissenschaftsbetrieb spiegeln das Wissen der herrschenden Denkgebäude, lösen aber nur selten wissenschaftliche Revolutionen aus (Kuhn 1996).

„Wenn die Theorie der Praxis widerspricht, dann ist es umso schlimmer für die Praxis!“. Paul Watzlawick

Auch Beurteilungen durch GutachterInnen („Peer Reviews„) sind keine Garantie für „Wahrheit“

1996 versuchte der Physiker Alan Sokal die Qualität eines Expertengutachtens („peer review“) zu überprüfen, und schrieb 1996 einen hochkomplexen Artikel: „Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity„). Den reichte er dann bei einem renommierten Journal ein. Es folgte ein sorgfältiger „peer review“, und dann wie erwartet die Publikation. Am Erscheinungstag offenbarte Sokal, dass es sich bei dem Text um reinen Blödsinn gehandelt habe. Er belegte damit, dass Aussagen, die in einem herrschenden Denkmodel vertraut und logisch erscheinen, auch von höchsten Autoritäten für wahr gehalten werden, wenn sie nur formal korrekt präsentiert werden.

Ein ähnliches Experiment wurde 2017 wiederholt. Wieder wurde der „Hoax“ veröffentlicht: ein Jux mit dem hübschen Titel „The Conceptual Penis as a Social Construct„. Auch hier war der Text für die GutachterInnen des Peer Review perfekt, quasi „mundgerecht“, formuliert.

„Peer Reviews“ filtern eben nicht nur „Fake News“ heraus. Ihre wesentliche Funktion besteht darin, ungewöhnliches Querdenken, das weder zum Weltbild der GutachterInnnen passt, noch system- oder marktkonform ist, auszusondern. Die auf höchsten Autoritäten basierende leitliniengerechte Medizin (ironisch auch „Emmience- oder Providence based Science“ genannt) blockiert kritische Neugier und sorgt dafür, dass das bisherige Wissens-Modell stabilisiert wird, und drohende Paradigmenwechsel verhindert werden. Im „peer Review“ wird deshalb der „Wahrheitsgehalt“ einer Arbeit mit dem Grad der Übereinstimmung mit dem universitären Mainstream-Denken gemessen.

… alles, was nicht dem “ Mainstream“ entspricht, kann kaum diskutiert werden und entsprechende Publikationen werden behindert. Die angefügten Publikationen, die zu diskutieren von Interesse sein sollte (da die Themen zunehmende Aktualität bekommen), wurden von der Zeitschrift … mit dem Hinweis abgelehnt, das würde die Kollegen nur verunsichern! So etwas gibt es in Deutschland. Die Besitzstandsbewahrer und Dogmatiker fürchten unvoreingenommene Diskussionen über neue Denkansätze. Prof. S., persönlich Nachricht, 14.07.2018

Wer etwas verkaufen will, versucht durch Studien zu belegen, dass es etwas taugt.

Der Großteil „medizinischer Wissenschaft“ ist mit dem Marketing verwoben, und belegt, dass das, was verkauft ist, auch wirkt und nicht schadet.

Deutlich weniger medizinische WissenschaftlerInnen hinterfragen die gängigen „Wahrheiten“ des Medizimarktes. Und sie tun es manchmal selbst dann, wenn Studienergebnisse in den besten „peer reviewed Journals“ veröffentlicht wurden. (Beispiel:  BMJ Tamiflu campaign)

Wissenschaftler stellen Fragen, weil sie etwas nicht wissen und stellen Hypothesen auf, wie etwas sein könnte. Dann versuchen sie, diese theoretischen Annahmen durch praktische Experimente zu widerlegen. Sie wollen herausfinden, warum ein bestimmtes Modell („Flache Erde“) unter bestimmten Bedingungen nichts taugt. Wenn dann ein neues Modell („Runde Erde“) trotz vieler Versuche nicht widerlegt werden kann, wird angenommen, es liege näher an der Realität, und erweise sich für praktische Anwendungen als nützlicher. Dennoch ist es nicht wahr. Denn auch das neue Modell weist bei genauerem Hinsehen Defizite auf: „Kartoffel-Erde“.

Die Frage bestimmt die Antwort. Eine Studie, die untersucht, ob und wie „A auf B“ wirkt, muss alle anderen Informationsquellen ausschließen. Wird dagegen untersucht, wie „A und B“ in ihrer Wechselwirkung andere Faktoren beeinflussen, müssen auch die Faktoren „C und D“ beobachtet werden. Noch komplexer (und damit der Realiät näher) wäre die Fragestellung, in welchem Zusammenhang „A und B“ wirken, und wie sich dieses Beziehungsgefüge über die Zeit verändert. Zulassungsstudien von Medikamenten oder Impfstoffen sind häufig nach der ersten Variante gestrickt: „Steigt nach der Gabe des Mittels ein Antikörper an? Ist das ein Hinweis auf eine mögliche Schutzwirkung? Treten kurzfristig unerwünschte Wirkungen auf?“ Nach der Markteinführung müssten dann Langzeitbeobachtungen unter Berücksichtung der Wechselwirkungen vieler Faktoren erfolgen. Darauf wird aber meist verzichtet.

Häufig wird in Studien zufällig genau das gefunden, wonach man sucht

Deshalb geschieht es immer wieder, das medizin-wissenschaftliche Wahrheiten von gestern sich in der Gegenwart als gefährlicher Blödsinn entpuppen. (Beispiel: radikale Mastektomie nach Halstedt), oder Zulassungsstudien positive Effekte überschätzen, oder Untersuchungen, deren Ergebnisse über Jahrzehnte für wahr gehalten wurden, bei genauer mathematischer Analyse, doch nur beschrieben, was man bereits vor den großen Studien zu wissen glaubte:

„Unsere Berchnungen weisen darauf hin , dass die Ergebnisse, die gezogen wurden, zu einem starken Maßvon seinen Vermutungen über die Verteilung in der Gesellschaft abhingen“ Bond T, Lang K: The Sad Truth About Happiness Scales: Empirical Results, 2018

Das Instrumentarium wissenschaftlicher Evidenz gleich einem Sieb

Wenn also EbM auch keien Wahrheit verkünden kann, so gleichen ihre Methoden doch einem Sieb: Das Schlechte und Unbrauchbare fällt durch. Das möglicherweise Nützliche bleibt zurück und wird weiter untersucht.

Kontrollierte, kritische Beobachtungen (Studien) können hervorragend nachzuweisen, dass etwas nichts taugt, dass ein Verhältnis von Kosten zu Nutzen ungünstig liegt, oder dass eine Anwendung gefährlich oder eindeutig schadet, wie das Aufnähen von Brustwandarterien auf das Herz zur Herzinfarktverhinderung oder die Durchtrennung des Vagus-Nerven bei Magengeschwüren (Vagotomie).

Wer zweifelt schadet seinem Erfolg

Querdenker müssen gegen Widerstände kämpfen. Evidenzbasierte Medizin, die belegt, das etwas nicht funktiert ist meist unerwünscht, im Gegensatz zu Belegen, dass die Anwendung eines im Makt erfolgreichen Produktes auch nützlich zu sein scheint (Beispiel: Dr. Alice Stewart)

 „Immer wenn eine neue wissenschaftliche Idee auftaucht heißt es „Falsch!“ oder „Es ist gegen die Religion (die herrschende Wahrheits-Lehre)!“ oder schließlich „Jeder wusste es schon immer!“ – „Whenever a new and startling fact is brought to light in science, people first say, ‘it is not true,’ then that ‘it is contrary to religion,’ and lastly, ‘that everybody knew it before.’” Louis Agassiz, Biologe, gestorben 1873

Evidenz basierte Medizin (EbM) ist unverzichtbar, aber

… Studien können nur etwas beobachten, was zum Zeitpunkt der Publikation schon geschehen ist oder geschehen sein wird. „Das Kind“ ist dann bereits in den Brunnen gefallen, und es geht nur darum darum, „weitere Kinder vor dem Fallen zu bewahren“.

Die Aussagen evidenzbasierter Studien sind zudem schwach, wenn es um die Zukunft eines einzelnen Patienten geht, d.h. wenn mit einer Studie die Wirksamkeit einer Methode in einem konkreten Fall belegt werden soll.

Solche Versuche stehen schon deshalb auf wackeligen Füßen, weil der größte Teil „medizinischen Studien falsch“ ist (Ioannidis 2005). Die beobachteten Ereignisse sind meist viel zu klein, um eindeutige Aussagen treffen zu können (Button 2013).

Evidenz based Medicine trägt dazu bei, Schaden zu verhindern.

EbM eignet sich gut, um den Unsinn oder das Risiko unnötiger medizinischer Anwendungen nachzuweisen.

Komplexe Zusammenhänge, wie eine soziale Realität, ein lebender Organismus, ein Ökosystem, die Kommunikation zwischen Arzt und Patient uva., können durch EbM (noch) nicht (zufriedenstellend) abgebildet werden.

EBM-Information können Patienten nur verarbeiten, wenn sie sich sicher fühlen. Kritisches Denken ist nur in Ruhe möglich. Aufklärung auf der Basis von EbM setzt also Kommunikationskompetenz voraus und die empathische Unterstützung von Patienten, damit diese komplexe Zusammenhänge verstehen und für sich sinnvoll verwerten können.

Die meisten PatientInnen fürchten aber verwirrende Informationsfluten, deren Bedeutung (für sich) sie nicht einschätzen können. Folglich fehlt ihnen ein neugieriger Entdeckerdrang. Sie wollen eigentlich nicht wissen, „wie es wirklich ist“. Insbesondere dann nicht wenn etwas ihren eigenen Vorstellungen und Vorurteilen widerspricht. Stattdessen wollen sie vertrauen, gewiss sein und sich sicher fühlen. Sie verlangen meist nur deshalb nach „wissenschaftlich geprüften“ Wahrheiten, weil sie Gründe suchen, um hoffen können wollen.

Nur eine Minderheit der Patientinen wird bereit sein sich mit (dem eigentlich für sie nötigen) in kritischem Denken schulen zu lassen (Shaples 2017), und selbst dann wäre ein vernünftiger Gesundheitsverhalten nicht unbedingt sicher:

Werden Menschen mit Fakten versorgt, werden sie klarer denken und bessere Bürger sein. Unwissend werden sie durch Tatsachen aufgeklärt und ihre Irrtümer werden beseitigt. Am Ende wird die Wahrheit siegen. … Vielleicht auch nicht. … Denn Irrglaube wird durch Tatsachen nicht geheilt. Wie unterdosierte Antibiotika können Fakten Fehlinformationen sogar noch verstärken.“ Keohane 2010: How facts backfire.

Patient*innen benötigen daher nicht nur Evidenzbasierte Gesundheitsinfomationen, sonder zugleich eine Beziehungsreiche Medizin, die ihnen hilft, die Informationsfülle sinnvoll für sich zu bewerten.

EbM-Methoden müssen weiterentwickelt werden

Um EbM Methoden zu bverbessern müstte die Ergebnisqualität, von der Patienten berichten können, müsste an Bedeutung gewinnen. D.H. die Forschung sollte die Sicht der Nutzer einbeziehen (Picker Institute, Krankheitserfahrungen)

Es müssten alle Daten ausgewertet werden, insbesondere auch die, die keine Wirksamkeit zeigen. Alle erhobenen Daten zu Medikamenten, Interventionen oder anderen medizinischen Dienstleistungen transparent sollten offengelegt sein, um sie unabhängiger Forschung zugänglich zu machen (Doshi 2013). Auch (oder gerade dann), wenn sie Vermarktungsinteressen widersprechen. (BMJ versus Roche, Doshi 2012)

Es sollten weniger „beliebige“ Studien im Herstellerauftrag durchgeführt werden, sondern stattdessen weniger im unabhängigen Auftrag.

Wichtig wäre auch die gezielte Beobachtung nicht spezifischer Effekte, was mit neuen Studiendesigns relativ leicht möglich wäre (cmRCT)

Links

Choose wisely:

Deutsches Netzwerk Evidenz basierte Medizin:

Literatur

  • Bartley K et al: Diagnostic X-rays and risk of childhood leukaemia Int. J. Epidemiol. (2010) 39 (6): 1628-1637 first published online October 1, 2010
  • Button S: Power failure: why small sample size undermines the reliability of neuroscience, Nature Reviews Neuroscience 2013, 14, 365-376
  • Doshi P et al.: Restoring invisible and abandoned trials: a call for people to publish the findings, BMJ 2013;346:f2865
  • Godlee F: In praise of informed skepticism, BMJ 2013;346:f3980
  • Oseltamivir-Skandal: Tamiflu-Data BMJ 2017
  • Ioannidis J PA Why Most Published Research Findings Are False, PLOS Medicine, 2005, 2(8)e124 696-701
  • Isaaks: Seven alternatives to evidence based madicien. BMJ 1999, 319:1618
  • Kuhn T: Kuhn, Thomas S. (1996). The Structure of Scientific Revolutions (3rd ed.). University of Chicago Press. Wiki
  • Lenzer J.: Why we can’t trust clinical guidelines BMJ 2013;346:f3830
  • Stewart A: Radiation dose effects in relation to obstetric X-rays and childhood cancers, The Lancet, 1970, 295 (7658):1185–1188. Vortragsvideo zur Geschichte von Dr. Steward: „Es wagen zu widersprechen!“

Wie viele Behandlungen sind nötig, damit einer gesund wird?

Ist eine Therapie wirksamer als Abwarten oder Nichts-Tun?

Viele wollen das eigentlich nicht zu genau wissen, weil Daten und Zahlen in Notsituationen oder unter Schmerzen nicht verstanden werden können. Kranke brauchen eher ein Sicherheitsgefühl, und glauben, dass der Arzt die Fakten von Nutzen und Risiko schon kenne. In der Not sucht man Vertrauen.

Und ob Vertrauen auch gerechtfertigt ist, kann man testen.

Eine gute Frage an den Arzt wäre, wie viele Patienten mit seiner Methode behandelt werden müssen, damit die angestrebte Wirkung bei mindestens einem Patienten eintritt (englisch „number needed to treat“, kurz NNT).

Im Idealfall würde jede Anwendung zum gewünschten Ergebnis führen (NNT = 1). In der Realität sind es deutlich mehr Anwendungen. Und bei Vorbeugungsmaßnahmen sind meist 100 oder 1.000 oder noch mehr Impfungen oä. nötig, damit ein ernstes Krankheitsereignis verhindert wird.

Eine weitere kluge Frage wäre, auf viele Behandlungen mit der Meldung eines bleibenden Schadens gerechnet werden muss (englisch „number needed to harm“, kurz NNH).

Zum Beispiel könnte bei 1.000 Anwendungen ein Fall von Krankheit weniger auftreten, während ein schwerer Schaden nur bei 10.000 erfolgten Behandlungen gemeldet würde. Da könnte sich der Eingriff vielleicht schon lohnen.

Der Zahlenwert NNT ist nichts weiter als der anschauliche Umkehrwert der Risikosenkung. Und der Zahlenwert NNH steht den Umkehrwert einer Risikosteigerung.

Noch ein Beispiel (aus Freudenthal 2012):

Einhundert Patienten nehmen bei koronarer Herzerkrankungen ein Medikament ein, um ihren Cholesterinspiegel zu senken. Die Risikosenkung durch die Maßnahme wird mit 3% angegeben. Das bedeutet: Mindestens 30Patienten müssen das Medikament einnehmen (und die Nebenwirkungen in Kauf nehmen), damit der gewünschte Effekt bei einem Patienten eintritt (NNT=30).

Wiegt der Nutzen das Risiko von Nebenwirkungen auf? Bezogen auf die Gruppe aller Patienten vielleicht ja, aber ob es auch im speziellen Fall eines bestimmten Patienten Sinn macht, wäre eine ganz andere Frage.

Und noch ein Beispiel aus Sedgwick (2013)

Bei 17,9% der mit dem neuen Medikament A behandelten Patienten wurden  Nebenwirkungen gemessen. Dagegen waren es nur 8.8% bei dem bisher verwandten Medilament B. Damit nahm die Nebenwirkungshäufigkeit um 9.1% zu (0.091). Die Number Needed to Harm NNH ist der Umkehrwehrt der Risikozunahme (1:0.091), in diesem Fall 11 (genauer 10.99). Die NNH gibt an, wieviele Patienten mit A behandelt werden müssen bis ein zusätzlicher Nebenwirkungsfall tritt, gegenüber der bisherigen Behandlung mit B.  Für je 11 Patienten wird ein zusätzlicher Fall mit Nebenwirkungen auftreten.

Patienten sollten auch in Notsituationen gut informiert bei schwierigen Entscheidungen mitbestimmen. Dabei müssen sie untrstützt werden.

Findet ein Arzt Fragen nach Nutzen (NNT), Risiken (NNH) und Kosten interessant, spricht das für seine Qualität. Auch die Offenheit, dass er die Antwort auch nicht wisse, aber nachschauen werde, spricht für seine Qualität.

Mehr

  • Freudenthal B: Doctors need to understand absolute versus relative risk reduction with statins, BMJ 2012;345:e8357
  • Sedgwick P.: What is number needed to harm (NNH)? BMJ 2013; 347:f4869
    • Number needed to harm is a measure of the harm (adverse drug reactions) caused by the intervention when compared with xxx alone
    • The larger the value of the number needed to harm, the lower the risk of adverse drug reactions caused by treatment with metoclopramide compared with xxx alone
    • The number needed to harm depends on only the absolute difference in risk of adverse drug reactions between treatment groups

Interessenkonflikte

An der Wiege der „Evidenz basierten Medizin“ wurde Englisch gesprochen.

Es ist die Sprache der Philosophen des „Zeitalters der Vernunft“ (engl. Enlightment, dt. Aufklärung). Damals lag den Engländern Hume, Hobbes, Newton, Locke u.a. die rationale und kritische Überprüfung von Tatsachen besonders am Herzen lag.

David Sakett, der Begründer der „Evidenz basierte Medizin“ wurde in dieser Tradition des Denkens erzogen. Die von ihm angestebte externe Überprüfung der Wirksamkeit sollte zu einer Neubewertung bisher akzeptierter medizinischer Verfahren führen. In England standen dafür bisher auch (im Gegensatz zu anderen Ländern) reichlich Mittel zur Verfügung, weil der staatlich finanzierte Nationale Gesundheitsdienst (NHS) ein erhebliches Interesse hatte, unnötige Ausgaben einzusparen. Anders als in Sozialversicherungssystemen, in denen die Marktdynamik des Gesundheitswesens eine größere Rolle spielt, und wo die kritische Überprüfung der praktizierten Medizin auf erhebliche Widerstände stößt.

Es sind deshalb gerade die englischsprachigen medizinischen Zeitschriften (Britisch Medical Journal, Lancet, New England Journal of Medicine, Nature, Science) die sich als Gralshüter der medizinischen Evidenz verstehen, und die ihre Ausgaben von Kommerz freihalten wollen.

Die „Evidenz basierte Medizin“ steckt aber nun in der Krise, weil die Wissenschaft das Geschehen in der Medizin nur noch begleitet, aber keinesfalls in ihrem Wachstum bestimmt. Daher wird in den englischen Medizin-Journalen diskutiert, ob die Trennung von Wissenschaft und Markt weiterhin noch so streng aufrechterhalten werden könne. Oder ob man sich nicht den Praktiken anderer Ärzteblätter annähern solle, die weniger Berührungsängste mit der Marktdynamik haben.

Schließlich stammt der weitaus größte Mitteleinsatz für Forschung direkt oder indirekt von denen, die Produkte vermarkten wollen oder die indirekt am Erfolg dieser Produkte beteiligt sind.

Ein Großteil der medizinischen Studien soll das, was ohnehin vermutet wird, bestätigen: nämlich, dass ein neues Produkt bei einer gerade vermarkteten Erkrankung besser wirke als ein altes (Doshi 2014, 2013). Studien die das nicht belegen können, werden oft erst gar nicht publiziert (Doshi 2013).

Wissenschaft dient damit zunehmend der Bestätigung von Glaubenssätzen. Und sie kann ihrer eigentlichen Aufgabe, Unsinn zu entlarven und kreativ Neues zu erdenken, immer seltener nachgehen.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Zahl der unnötigen, dafür aber profitablen Diagnosen und Therapien deutlich steigt (s.u.: Überflüssige Diagnosen).

Die Britische Ärztezeitung (BMJ) will sich diesem Trend entgegenstemmen, und „Evidenz based Medicine“ erhalten, „weil wir nicht besseres haben“ (Godllee 2015). Sie sieht sich als einen unerschütterlichen Felsen, der der Brandung des weichen Wassers der Industrielobby noch lange standzuhalten will.

Der Deich des New England Journal of Medicine bröselt bereits und weicht auf. Man plädiert dort, vorsichtig noch, für eine Lockerung der Regeln der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie (Malina 2015). Das Gute an dieser wichtigen Debatte ist, dass sie stattfindet, wenn auch leider nur verständlich für die, die schwieriges Englisch lesen können und wollen.

Die mir sehr sympathische Herausgeberin des BMJ hängt der Illusion an, dass sich die Abhängigkeit von der Industrie nur an direkten Zuwendung an Wissenschaftler*innen festmache. Das könne man transparent deklarieren, und es sanktionieren, wenn etwas verheimlicht würde. Wenn die Interessenkonflikte offengelegt wären, und dies auch Konsequenzen nach sich zöge, sei die „Evidenz basierte Medizin“ weiterhin relativ sicher.

Sie unterschätzt dabei, dass auch hochrangige Experten meist nur das glauben, was die meisten anderen Experten auch denken. Um eine Karriereleiter hochzuklettern ist es wichtig, im allgemeinen Fahrwasser zu schwimmen. Wer gegen den Strom schwämme, also das gerade vorherrschende Denken hinterfragen würde, ginge unter.

Instituts- und Forschungsmittel werden deshalb dorthin vergeben, wo alle denken, dass etwas zu einem bestehenden Denksystem zu passen scheint. Das ist natürlich da, wo die meisten Mittel landen. In einem Institut, in dem sich viele hundert Mitarbeiter*innen mit der Erkrankung X beschäftigen, werden diese natürlich X für sehr bedeutend halten, und viele Produkte erfinden, die X bekämpfen sollen. Ihr Institutsleiter wird in den Gremien, die über Forschungsmittel entscheiden, die Kolleg*innen bedenken, die ebenso wie er, an X und den dazu passenden Lösungsmodellen arbeiten. Deshalb werden die Kongresse, die sich mit X beschäftigen immer größer und aufwendiger gestaltet werden. Die offiziellen Experten-Empfehlungen, wie man mit X umgehen solle, werden dann bald zu Leid-Linien, die die gängigen Methoden zur Bekämpfung von X zum Standard erheben. Ein Hersteller von Präparaten gegen X kann sich dieser Dynamik erfreuen, und sie auch, indirekt und diskret, begünstigen. Es wäre für ihn aber völlig unnötig und dumm direkt oder gar bestechend einzugreifen.

Die Beobachtungen der Verbreitung von Denkmodellen, Meinungen, Überzeugungen, Wahrheiten und Glaubenssätzen zeigen, dass sich solche Ideen ähnlich wie Erbinformationen nach den Gesetzen der Evolution vermehren (als so genannte Meme). Dabei sortiert die Evolution emotionslos alles aus, was sich nicht vervielfacht: abweichende Ansichten oder kritische Fragen. Die Wissenschaft als eine Form von Informationsverarbeitung wird, wie alles, durch Mittelvergaben bestimmt und treibt, in die Richtung, in die auch die Ökonomie fließt.

In diesem Prozess werden die alten Erkenntnisse durch stets neue und detaillierte Variationen der Forschung immer schöner ausgeschmückt, so als würde in einem in einem abgeschlossen Spiegelsaal das Gleiche immer anders beleuchtet, und bliebe doch schillernd gleich (McGilchrist 2013). Solange, bis der Spiegelsaal zerbricht, und einen so genannten Paradigmen- oder Perspektivenwechsel erzwingt (Kuhn 1970). Dann muss dann das ganze Erkenntnismodell verändert werden (z.B. „Die Erde ist flach.“), weil das Modell in Widerspruch zur Realität gerät („Die Erde kann umsegelt werden“).

Solche Paradigmenwechsel drohen auch in der Medizin:

Z.B. lässt sich heute die Frage, ob wir „Bakterien haben oder sind“ nicht mehr so einfach beantworten (s. Mikrobiom). Damit gerät die Keimtheorie des 19. Jahrhunderts („Das äußere Übel bekämpfen!“) ins Wanken.

Auch das gängige Maschinenmodell des Menschen, nach dem Teile repariert, ausgebessert und ausgetauscht werden müssen, ist vor dem Hintergrund des heutigen Wissens überholt. Stattdessen müssen Menschen und die umgebenden inneren und äußeren Ökosysteme als komplexe, dynamische und mit einander wechselwirkende Beziehungsgeflechte verstanden werden (Gerst 2015).

Es gibt allerdings gewichtige ökonomische Gründe dafür, warum die anstehenden Perspektivenwechsel in der Medizin (Weg vom Denken des 19. Jahrhunderts und hin zur Systembiologie) bisher nicht erfolgt sind: Die meisten der heute vermarkteten Medizinprodukte werden von der Keimtheorie und dem mechanischen Gesundheitsmodell hergeleitet, und erfordern deshalb, dass Ärzte und Patienten weiterhin von beidem überzeugt sind.

Die vorherrschenden Paradigmen werden deshalb nicht durch die „Evidenz basierte Wissenschaft“ gekippt werden (so wie es sich das BMJ wünscht).

Sondern vermutlich von einer neuen Marktdynamik weggeschwemmt werden. Wenn sich einer ganz anderen Grundlage, völlig neue Produkte erschaffen und verkauft lassen (s. Neurogastro / Danone).

Auch die z.Z. noch kleine aber dynamisch-wachsende neue Medizin-Industrie, rekrutiert von ihr abhängige Expert*innen, die mithelfen, die sich eröffnenden Märkte zu erschließen und zu erobern. Das gilt auch für den Perspektivenwechsel zu „Patientenzentrierten Medizin“ (Gerst 2015). Er wird deshalb kommen, weil die „autonomen Verbraucher“ direkt angesprochen, und damit die Zwischenstationen der Apotheken oder der ärztlichen Versorgung zunehmend an Bedeutung verlieren werden.

Daher werden Wissenschaftler*innen, die nach Antworten und Wahrheiten suchen, der Marktdynamik immer hinterherlaufen. Aber trotzdem bleiben sie unschlagbar wirksam, wenn:

  • sie intelligente Fragen stellen,
  • Fehler entdecken und
  • nachweisen, dass etwas nicht wirkt oder gar schadet.

Literatur

Letzte Aktualisierung: 21.03.2021